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Mnger kriecht unter seinem uto hervor

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 Das Buch

 Eine Minute nach der großen Katastrophe. Marty Slack, ein hochrangiger TV-Manager, kriecht unter seinem Auto hervor. Der Himmel ist mit schwarzem Qualm bedeckt. Die Freeways sind voll Schutt. Der Flughafen ist zerstört. Gebäude liegen, wie umgestürzte Bäume, über den Straßen. In Martys Auto befinden sich ein Paar robuster Wanderschuhe und ein Rucksack mit Nahrung, Wasser und Ausrüstung. Er kann jetzt nur eines tun: zu seiner Frau Beth gelangen.

 Seine gefährliche Reise nach Hause führt ihn durch das, was einst L. A. war. Brände geraten außer Kontrolle. Wassermassen drücken durch zerborstene Dämme. In riesigen Löchern im Boden verschwinden ganze Gebäude. Plünderer randalieren in der Stadt.

 Eine Wanderung von dem Mann, der er war, zu dem Mann, der er sein kann … wenn er diesen Gang überlebt.

 Der Autor

 Lee Goldberg, der schon zweimal für den Edgar Award nominiert wurde, hat bereits für viele erfolgreiche Fernsehserien wie Diagnose Mord, Spenser, Baywatch, seaQuest, Hunter, Nero Wolfe, Martial Law – Der Karate-Cop, Missing – Verzweifelt gesucht, Monk oder The Grades Drehbücher geschrieben und diese mitproduziert.

 Darüber hinaus ist er Autor von über dreißig Romanen und Sachbüchern einschließlich The Walk, Watch Me Die, Successful Television Writing und My Gun Has Bullets. Dazu kommt eine Reihe von eigenständigen Romanen zu den TV-Serien Mord ist ihr Hobby und Monk sowie die neue Dead-Man-Horrorserie, von der ebenfalls bereits drei Folgen in Deutschland (bei Amazon) erschienen sind. Als international tätiger Consultant beriet Goldberg Sender und Studios in Kanada, Frankreich, Deutschland, Spanien, China, Schweden und den Niederlanden bezüglich der Entwicklung und Produktion von TV-Serien.

 Goldberg lebt mit seiner Frau und einer Tochter in Los Angeles und arbeitet bereits an den nächsten Abenteuern von Tom Wade.

 

 


 
 

 


 Die Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel »The Walk« bei Five Stars, Chandler, Arizona.

  

  

  

  

 Deutsche Erstveröffentlichung bei AmazonCrossing, Luxemburg, Januar 2014

  

 Copyright © der Originalausgabe 2004 by Lee Goldberg

 All rights reserved.

  

  

 Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014 by Chris Freihaut

  

  

 Lektorat: Kay D. Szantyr

 Satz: Monika Daimer, www.buch-macher.de

 Umschlaggestaltung: bürosüd0 München, www.buerosued.de

  

 ISBN 978-1-477-820223

  

 www.amazon.com/crossing

 

 


 Für Valerie & Madison

 

 


 INHALTSVERZEICHNIS

 KAPITEL EINS Sensurround

 KAPITEL ZWEI Auf dem gelben Ziegelsteinweg

 KAPITEL DREI This Is The City, Los Angeles, Kalifornien

 KAPITEL VIER Downtown

 KAPITEL FÜNF Auf der Stelle treten

 KAPITEL SECHS Ein König ohne Thron

 KAPITEL SIEBEN Das Paradigma des mythischen Helden

 KAPITEL ACHT Die Höllenfahrt der Poseidon

 KAPITEL NEUN Der Morgen danach

 KAPITEL ZEHN Kennenlernen

 KAPITEL ELF Ärzte und Schwestern

 KAPITEL ZWÖLF Swimming Pools, Filmstars

 KAPITEL DREIZEHN Über die Hügel und durch die Wälder

 KAPITEL VIERZEHN So grün war mein Tal

 KAPITEL FÜNFZEHN Das Mädchen aus dem Tal

 KAPITEL SECHZEHN Fantasialand

 NACHWORT

 DANKSAGUNGEN

 


 KAPITEL EINS

 Sensurround

 Es war überhaupt nicht so wie in seiner Vorstellung. Sicher, alles was Martin Slack sich so vorstellte, oder zumindest große Teile davon, schien dem Fernsehprogramm oder Filmen zu entspringen, also dachte er sich, dass es nun wirklich nicht an seinem eigenen Vorstellungsvermögen liegen konnte, wenn die Dinge nicht so waren, wie sie sein sollten.

 Es gab keines dieser ominösen Warnsignale, die jeder ignorierte, wie große, aufgeschreckt davonfliegende Vogelschwärme oder grundlos bellende Hunde oder ein leises Grollen, das gemeinhin mit einem Schulterzucken als vorbeifahrender Lastwagen abgetan wurde.

 Marty hatte weder vor zu heiraten noch aus der Armee auszuscheiden, es stand auch keine Jungfernfahrt an oder die Taufe eines gewagten neuen Bauprojekts – alles eindeutige Vorboten einer Katastrophe, zumindest laut Irwin Allen, dem ausgewiesenen Experten auf diesem Gebiet.

 Aber wenigstens eine Sache war wie im Film: Hier lag er, unter seinem Auto, genau wie Charlton Heston in »Erdbeben«. Damit erschöpften sich die Gemeinsamkeiten zwischen Marty und Charlton aber auch schon.

 Er klammerte sich nicht an Ava Gardner, und er würde sich sicherlich nicht opfern, um sie anstelle von Geneviève Bujold zu retten. Und als das Beben vorbei war, fand Charlton sich auch nicht in Embryostellung zusammengekauert wieder, übersät mit Staub und Glassplittern und mit der Frage beschäftigt, ob die juckende Feuchtigkeit an seinen Beinen Blut, irgendwas vom Auto oder seine eigene Pisse war.

 Marty wollte sich am liebsten gar nicht bewegen. Er fühlte sich genauso wie damals, als er in Camp Cochise in seinem durchnässten Schlafsack aufwachte, unfähig sich zu rühren und inständig hoffend, dass alles trocknen würde, bevor die anderen Camper, besonders dieser Tyrann Dwayne Edwards, aufwachten und entdeckten, dass er ein Bettnässer war. Die Heftigkeit der Angst und der Scham, dreißig Jahre später, überraschten ihn fast so sehr wie die Tatsache, dass er jetzt daran denken musste.

 Die Scham reichte aus, um die Augen zu öffnen und die Ziegelsteine und Glasscherben wegzuschieben, die um das Auto herum verstreut lagen. Er hievte sich unter seinem Mercedes hervor und schnitt sich in der Eile die Finger an den Glassplittern auf. Aber das kümmerte ihn jetzt nicht. Er musste hier raus.

 Als Erstes fiel ihm der Staub auf, der kreidige Dunst von pulverisiertem Gips, Mörtel und Ziegelsteinen. Überall. In seinen Augen, seiner Nase, seiner Lunge. Hustend rappelte er sich auf und kam, um sein Gleichgewicht ringend, auf die Beine. Es war auch nicht sonderlich hilfreich, dass der Asphalt überall aufgeplatzt war und Blasen schlug, so als strebte irgendetwas da unten mit aller Kraft danach, an die Oberfläche zu kommen.

 Das heruntergekommene Lagerhaus, in dem er sich einige Minuten zuvor noch befunden hatte, um die obligatorische Stippvisite des Programmverantwortlichen am Set von »Fahr zur Hölle« hinter sich zu bringen, war jetzt nur noch ein Haufen Ziegelsteine, die auf sein Auto prasselten und es platt drückten, als sei es ein 42 000 Dollar teures deutsches Dosenbier.

 Das Lagerhaus war nie erdbebensicher saniert worden. Es stand seit Jahrzehnten leer und war dem Verfall überlassen worden, was es zu einer wunderbar heruntergekommenen Kulisse für Gangsterfilme machte.

 Doch heute war es nicht leer.

 Da drin waren fünfzig oder sechzig Leute. Die Schauspieler, das Team, der Regisseur. Jetzt lagen sie unter Tonnen von Schutt begraben. Und wenn Marty zehn Sekunden länger sein Schwätzchen gehalten hätte, wäre es ihm genauso ergangen.

 Großer Gott.

 Marty stolperte über die Trümmer und bahnte sich einen Weg um die Überreste der ehemaligen Lagerhalle herum. Er sah, wie eine Handvoll Catering-Mitarbeiter, Elektriker, Bühnentechniker und Kostümbildner über die Geröllhaufen wimmelten und fieberhaft zwischen den Steinen herumwühlten, auf der Suche nach Überlebenden.

 »Hat irgendeiner Hilfe gerufen?«, rief er, wartete aber keine Antwort ab. Er zog bereits sein Handy aus der Tasche, klappte es auf wie das Kommunikationsgerät von Captain Kirk und wählte den Notruf, während er sich den anderen näherte.

 Das kleine Gerät blökte ihm einen elektronischen Protestton entgegen. Kein Empfang.

 Scheiße!

 Wozu hatte man ein verdammtes Mobiltelefon, wenn man sich in einem solchen Moment nicht darauf verlassen konnte?

 Marty ließ das Telefon zuschnappen, steckte es in seine Tasche und schloss sich den anderen an, hob Stein um Stein auf und warf die Bruchstücke hinter sich, so schnell er konnte.

 Das war wirklich übel. Marty war ein echter Kalifornier und sein Arsch eine natürliche Richterskala, mit einer Genauigkeit von zwei Stellen hinter dem Komma. Er wusste, dass das Northridge-Beben eine 6,5 war, bevor das California Institute of Technology zu Ende gemessen hatte. Und sein Arsch sagte ihm jetzt: Das hier war größer. Viel größer. Jenseits seines Erfahrungsspektrums.

 »Mein Bruder!«, kreischte jemand.

 Es war der Typ neben Marty, einer der Bühnentechniker, einer der Leute, die das ganze schwere Equipment am Set hin- und hertragen. Dem Typen fehlte ein Ohr, Blut färbte sein Panavision-Shirt von der Schulter bis hinunter zu seinem Werkzeuggürtel rot. Aber der Kerl bemerkte das nicht einmal; er wiederholte einfach nur ständig denselben Satz, während er sich durch die Trümmer kämpfte.

 »Mein Bruder ist da drin«, sagte er. »Mein Bruder ist da drin.«

 Er sagte es wieder und wieder und wurde immer hektischer, je öfter er es wiederholte. Marty konzentrierte sich darauf, in dem Geröll direkt vor sich zu buddeln. Er wusste nicht, was er sonst tun sollte.

 Wo zum Teufel war die Feuerwehr? Die Polizei? Warum hörte er keine Sirenen?

 »Hier drüben!«, schrie einer der Caterer.

 Sofort kletterten alle über den Schutthaufen, um ihm zu helfen, die Steine zur Seite zu wuchten. Zuerst legten sie ein blutiges Hosenbein frei, dann eine große, silberne Gürtelschnalle.

 Mehr brauchte Marty nicht zu sehen. Sie hatten Irving Steinberg gefunden, den Executive Producer, einen New Yorker Juden, der sich kleidete, als wolle er gerade zum Viehtrieb. Irving nannte seinen allgegenwärtigen Stetson gerne seine »Zehn-Gallonen-Kippa«.

 In Wahrheit trug Irving den Stetson, weil er der Meinung war, dass er weniger peinlich und unauffälliger sei als selbst das teuerste Toupet. Schaut euch doch nur Burt Reynolds oder William Shatner an, pflegte Irving zu sagen. Würden die mit Hüten nicht viel besser aussehen?

 Irving brachte Marty immer zum Lächeln. Genau genommen war Marty gerade mit einem solchen von Irving verursachten Lächeln hinausgegangen, als das Rumpeln losging.

 »Bring dieses Format in das Herbstprogramm«, sagte Irving, »und ich kann mir endlich meinen Traum leisten.«

 »Der wäre?« fragte Marty, bereitwillig den Stichwortgeber spielend.

 »Meine eigene Ranch«, antwortete Irving. »Mitten in Bel Air. Ich werde sie den Bar-Mitzvah-Bauernhof nennen.«

 Sie brachten den Rest von Irving zum Vorschein.

 Ohne seine Markenklamotten wäre er nicht identifizierbar gewesen.

 Marty wich zurück, kopfschüttelnd, er hatte Mühe, das Gleichgewicht nicht zu verlieren, als er davonlief. Irving war tot. Noch vor wenigen Minuten hatte Irving sich mit ihm unterhalten, Witze gerissen und Pläne geschmiedet, und jetzt war er tot.

 Wie konnte das sein?

 In diesem Moment drehte jemand die Lautstärke der Welt auf. Martys Ohren wurden mit einem schrillen Hupkonzert und einem Chor von Autoalarmtönen bombardiert, durchsetzt mit dem gedämpften Poltern und Knallen von Explosionen, wie Salven auf einem fernen Schlachtfeld.

 Marty sah auf.

 Es war, als ob nach einem Film die Lichter im Kino wieder angingen und man die Wände, Sitzreihen und Kinobesucher wieder wahrnahm, die man vollkommen vergessen hatte. Diesmal aber gingen in Martys neuer Welt die Lichter an.

 Alle Lagerhallen in dem heruntergekommenen Gewerbegebiet waren entweder in sich zusammengeklappt oder zu Geröll reduziert, und über allem hing eine riesige Staubwolke. Die einzige noch intakte Bausubstanz war ein herrschaftlicher Verschlag aus Pappe in einer kleinen Gasse, aus dem sein Besitzer zögerlich und mit dreckverschmiertem Gesicht auf die Zerstörung ringsum spähte, dann verschwand er wieder nach drinnen, eine Papptür fiel hinter ihm zu. Seine Behausung war die einzige weit und breit, die den Bauvorschriften zu entsprechen schien.

 Marty drehte sich um und sah die Brücke an der 6th Street. Der Art-Déco-Riese sackte in die zementierten Flussufer des L. A. River, und ein Strom von Autos ergoss sich in das verschmutzte Rinnsal. Eine lange, silberne Reihe von Metrolink-Waggons war entgleist und baumelte nun über der senkrechten Betonböschung wie dekoratives Lametta. Flammen züngelten aus den Fenstern, das flackernde Licht spiegelte sich in der zerbeulten Metallhaut.

 Marty drehte sich noch einmal um und sah die Skyline der Innenstadt von Los Angeles. Der Großteil der Glastürme stand noch, wie riesige, zerbrochene Spiegel, deren gesprungene Fratzen von der grellen Sonne in schroffen Strahlen zurückgeworfen wurden. Sie hatten mit dem Erdboden mitgeschwankt, genau wie die Ingenieure es versprochen hatten, und dabei ihre getönte Glashaut abgeworfen. Nur ein Wolkenkratzer hatte nachgegeben; er lehnte sich jetzt an einen anderen, als sei er zu müde, um noch länger zu stehen, und atmete keuchend Rauch und Flammen aus.

 Marty drehte sich wieder und wieder im Kreis herum, als könne er all das dadurch begreifen. Es war unmöglich. Das Ausmaß der Zerstörung war zu groß.

 Er hatte plötzlich das Gefühl, sich außerhalb des Geschehens zu befinden, so als sähe er all das auf einem Fernsehschirm, statt es selbst zu erleben. Das hier waren Spezialeffekte, Miniaturen und Modelle aus Pappe und Plastik. Einen Moment lang glaubte er fast, die Maskenlinien zwischen dem echten und dem computergenerierten Bild, das man als Hintergrund hineingemalt hatte, erkennen zu können, wenn er nur die Augen zusammenkniff.

 Aber das konnte er nicht.

 Plötzlich begann sich der Boden zu heben. Zuerst dachte Marty, es sei ein Nachbeben; dann wurde ihm klar, dass er selbst die Ursache war. Sein ganzer Körper zitterte heftig. Er fiel auf die Knie und begann zu würgen, er erbrach sich, bis er dachte, als Nächstes würde er ganze Organe ausspucken.

 Endlich ließ der Würgereiz nach und Marty blieb einfach, wo er war. Mit geschlossenen Augen wartete er darauf, dass sein Körper aufhörte zu zittern, Erbrochenes in seiner Kehle, seiner Nase. Er fand den ekelhaften Geruch und den Geschmack von Krankheit auf seltsame Weise beruhigend. Es war etwas, das er kannte.

 Marty richtete sich auf und kramte ein Papiertaschentuch aus seiner Tasche. Er schnäuzte sich die Nase, zerknüllte das Taschentuch und warf es weg.

 Jetzt wusste er, warum er keine Sirenen hörte. Weil keine Hilfe unterwegs war. Für niemanden. Und das würde sich in nächster Zeit auch nicht ändern.

 Apropos Zeit.

 Er war in Eile gewesen, als er das Lagerhaus verlassen hatte, beim Hinausgehen hatte er auf seine Armbanduhr geschaut und befürchtet, zu spät zur Teambesprechung zu kommen.

 Das war das Letzte, was er getan hatte, bevor es passierte.

 Jetzt sah er wieder auf seine Uhr, ein Tropfen Blut landete genau in dem Moment auf dem gesprungenen Glas, als er die Uhrzeit zur Kenntnis nahm: 09:15 Uhr. Dienstag.

 7:00 Uhr. Dienstag.

 Die Radionachrichten, die Marty aufweckten, sagten einen weiteren brütend heißen Tag mit ungesunder Luftqualität voraus. Die Bevölkerung wurde aufgefordert, im Haus zu bleiben und übermäßiges Atmen zu vermeiden.

 Normalerweise wäre das kein Problem für ihn. Er würde einfach von der klimatisierten Luft in seinem Haus zu der klimatisierten Luft in seinem Auto wechseln, und von da aus weiter zu der klimatisierten Luft in seinem Büro; dazwischen lagen jeweils nur wenige Sekunden. Nicht so heute. Er musste in die Stadt und sich mal wieder am Set blicken lassen.

 Marty knipste das Radio aus und machte sich nicht einmal die Mühe, einen Blick auf die andere Seite des Bettes zu werfen. Er wusste, dass sie bereits unten war, wo ihr die Morgenzeitung Zuflucht und Sicherheit bot. Beth war immer schon weg, wenn er aufwachte, egal zu welcher Uhrzeit.

 Das war nicht immer so gewesen.

 Früher liebten sie sich morgens, dann lagen sie ineinander verknotet und mit verhedderten Laken im Bett, bis der Radiowecker anging und die plappernden Nachrichtensprecher sie aus dem Bett trieben. Das war vorbei.

 Er stand auf.

 Sein Haus lag über dem Smog, oder zumindest hoch genug am Hang von Calabasas, um sich der Illusion hinzugeben, es wäre so. Von seinem Schlafzimmerfenster aus blickte er auf das San Fernando Valley hinab, auf den dicken, braunen Dunst, der wie ein Laken über dem flachen Stadtgebiet lag. Die wabernde Dreckschicht hing zwischen den Hügeln fest, die von Wohnsiedlungen mit 08/15-Häusern wie seinem eigenen langsam, aber sicher vollständig bedeckt wurden. Nur dass diese Häuser ungefähr 300 000 Dollar weniger kosteten und auf ausgetrocknete, eingeebnete Grundstücke von nicht einmal 2000 Quadratmetern gequetscht wurden. Stuckverzierte Schuhschachteln, wie gemacht für Toyota-Camry-Fahrer.

 Marty wandte seinen Blick dem mit roten Ziegeln gedeckten Dach des Wachhäuschens im spanischen Kolonialstil zu, an dem sich gerade die allmorgendliche Prozession der Gärtner, Poolreiniger und Haushälterinnen vorbeikämpfte, in überladenen Pick-ups und verbeulten Autos den steilen Hügel zu der bewachten Wohnanlage hinauf. Er fragte sich, ob sie wohl wussten, dass sie heute eigentlich nicht atmen sollten.

 Er trottete nackt ins Badezimmer, und während er pinkelnd vor der Toilette stand, dachte er an all die Einträge in seinem Terminkalender. Zunächst: Besuch am Set von »Fahr zur Hölle«, einem Pilotfilm über einen toten Cop mit übernatürlichen Fähigkeiten, der sich aus dem Grab erhebt und Privatschnüffler wird.

 Martys Plan war, einige Hände zu schütteln und so zu tun, als sei der Sender hellauf begeistert von dem Bildmaterial, das sie zu sehen bekamen. Dann schnell zurück ins Büro für die wöchentliche Teambesprechung, bei der er als Programmverantwortlicher auch für die kreative Ausrichtung der Formate des Senders zuständig war.

 Die Rechtsabteilung drehte wegen der Nippel-Geschichte in der romantischen Abenteuerserie »Sam und Sally« völlig am Rad. Einmal in einer Stunde aufgerichtete Brustwarzen zu sehen, die sich unter der Kleidung abzeichneten, wurde als vertretbarer Ausrutscher angesehen. Zweimal war schon schlüpfrig. Das dritte Mal bedeutete: anstößiger Inhalt. Sie wollten, dass Sally ab sofort ihre Brustwarzen abklebte. Marty war entschieden dagegen.

 In der Dusche, unter dem heißesten Strahl, den er aushalten konnte, überlegte er sich verschiedene Argumentationsstränge zu diesem Punkt. Er könnte versuchen, sie zu beschämen: Brustwarzen sind Tatsachen. Wir alle haben welche. Was versuchen wir hier zu verstecken? Sie läuft ja nicht oben ohne herum. Es war lächerlich, von einer Schauspielerin zu verlangen, dass sie »ihre aggressiven Nippel zähmen« solle, damit irgendein verklemmter Sittenrichter sich und anderen weismachen konnte, Frauen hätten gar keine.

 Oder er könnte den künstlerisch-pragmatischen Ansatz wählen. Immer mehr Zuschauer wandern von der künstlich keuschen Welt der Öffentlich-Rechtlichen zu dem realistischeren Programm im Privatfernsehen ab, wo Nacktheit, Sex und Obszönitäten gang und gäbe sind. Wenn sie konkurrenzfähig bleiben wollten, mussten sie sich eine weniger puritanische Einstellung zulegen.

 Oder er könnte es mit der Wahrheit versuchen. Die einzigen beiden Gründe, warum die Leute sich »Sam und Sally« anschauten, waren Sallys Brustwarzen. Wenn sie die abklebte, konnten sie die Sendung auch gleich absetzen.

 Während Marty in eine beige Hose, ein weißes Hemd und die dunkelblaue Jacke schlüpfte, beschloss er, bei der Wahrheit zu bleiben, wenn auch nur um diesem Idioten aus der Rechtsabteilung, Adam Horsting, beim Blasswerden zuzusehen.

 Er ging Richtung Treppe, hielt jedoch kurz inne, um in das Kinderzimmer zu schauen. Sie hatten zwar kein Kind, aber sie hatten das Zimmer. Aus irgendeinem Grund konnte er einfach nicht an der offenen Tür vorbeigehen, ohne einen Blick hineinzuwerfen. Kuscheltiere mit dem ewig gleichen, leeren Ausdruck schauten ihn durch die Gitterstäbe des ebenfalls leeren Kinderbetts hindurch an. Wir warten.

 Marty drehte sich noch einmal um und schloss die Tür, doch er wusste, sie würde wieder offen stehen, wenn er nach Hause kam. Er stürmte die Treppe hinunter und in die Küche, mit einer Überschwänglichkeit, die er nicht empfand.

 Beth saß im Bademantel am Küchentisch und beugte sich über die L. A. Times und ihre Kaffeetasse, die nackten Füße im Fell ihres schlafenden Hundes Max vergraben. Dem fetten Golden Retriever gefiel es sehr, ihr als Ottomane dienen zu dürfen. Das war die eine Sache, die Max gut konnte. Die andere war sein untrüglicher Riecher für das teuerste Paar von Martys Schuhen, wenn er etwas zum Zerkauen suchte. Max mochte offensichtlich den Geschmack von italienischem Leder.

 Martys Frau hatte kurzes, blondes Haar, strahlend blaue Augen und quer über ihrer Nase einen Streifen Sommersprossen, der sie wie einen kleinen Lausebengel aussehen ließ. Die Leute fanden sie süß, und sie hasste das. Ihrer Ansicht nach konnte das nur bedeuten, dass niemand sie ernst nahm.

 »Guten Morgen«, sagte er und steckte den Kopf in die Speisekammer, auf der Suche nach etwas Essbarem für unterwegs.

 »Sie haben einen Hai gefunden, dessen Maul im Dunkeln leuchtet«, sagte sie. »Er hat sich in einem Fischernetz verfangen. Man geht davon aus, dass es sich um eine unbekannte Art handelt, die im tiefsten, dunkelsten Teil des Ozeans lebt.«

 »Aha.« Er spähte in eine aufgerissene Schachtel Cinnamon Pop Tarts, es war noch ein ungeöffnetes Päckchen übrig. Das sollte reichen, bis er am Set ein bisschen Obst vom Snack-Tisch mitgehen lassen konnte.

 »Sie glauben, der Hai schwimmt mit offenem Maul. Das Licht zieht die Fische an und sie schwimmen ihm geradewegs in den Rachen.« Sie blätterte flüchtig um und überflog die Schlagzeilen. »Die vermuten, dass es da unten etliche Arten geben könnte, die wir noch nie gesehen haben.«

 »Klingt, als könnte man daraus eine Serie machen.« Er steckte das Päckchen in seine Tasche und ging zum Kühlschrank, wo er sich eine Dose Coca-Cola schnappte. Gedankenverloren registrierte er ein leises Klacken auf dem Fußboden. »Obwohl, die letzte erfolgreiche Unterwassersendung lief vor dreißig Jahren.«

 »Die Welt dreht sich nicht ständig ums Fernsehen«, sagte Beth und ließ einen ihrer herablassenden Seufzer folgen.

 »Die meisten Leute wüssten nicht, was sie essen wollen, was sie anziehen wollen oder wen sie ficken wollen, wenn das Fernsehen es ihnen nicht sagen würde.« Er bückte sich, um aufzuheben, was er hatte fallen lassen. »Als stellvertretender Programmdirektor im Bereich Fiction spiele ich also offensichtlich eine entscheidende Rolle in unserer Gesellschaft.«

 Marty lächelte, um ihr zu signalisieren, dass er scherzte oder zumindest herrlich selbstironisch war.

 »Du hast da was fallen lassen.« Sie zeigte mit einer leichten Kopfbewegung Richtung Boden.

 Es war eine winzige Ampulle. Pergonal. Seit Monaten abgelaufen. Er wollte es gerade wegwerfen, als er bemerkte, wie sie ihn anstarrte. Also packte Marty die Ampulle hastig wieder in den Kühlschrank und schlug die Tür zu, als könnte das Fläschchen versuchen, sich wieder zu befreien. Das Letzte, was er jetzt wollte, war Die Diskussion wieder aufleben zu lassen.

 Als Marty sich umdrehte, stellte er erleichtert fest, dass sie schon wieder in ihre Zeitung vertieft war. Er schnippte die Cola-Dose auf und nahm einen großen Schluck, während er sie über den Rand hinweg beobachtete. Morgens war sie besonders bezaubernd, wenn ihr Haar zerzaust und die Wangen noch rosig vom Schlaf und der Bettwärme waren.

 Beth schien seinen Blick und die darin verborgene Zuneigung zu spüren. »Wird es bei dir heute spät?«, fragte sie sanft.

 »Schätze, ich bin zur Primetime zurück.« Damit hatte er ihr früher ein Lächeln entlocken können – bevor er den Witz hundert Mal verbraten hatte.

 Doch da, als hätte sie seine Gedanken gelesen, schenkte sie ihm ein kleines Lächeln und wandte sich wieder ihrer Zeitung zu.

 9:16 Uhr. Dienstag.

 Marty saß auf seiner Richterskala, pulte Glasstückchen aus seinen Haaren und fragte sich, was zum Teufel er tun sollte.

 Das hätte so nicht passieren dürfen. Er sollte nicht hier sein.

 In all seinen Erdbebenfantasien war er immer zu Hause, wo er bestens vorbereitet war. Alles im Haus war angeschraubt, festgeschnallt oder angeklebt. Unter dem Bett lag eine prall gefüllte Tasche mit Überlebenskram, den er nach dem letzten Beben in einem Hamsterkaufanfall besorgt hatte. Sogar ein Sack Hundefutter war dabei. Und für den unwahrscheinlichen Fall, dass das Haus in Mitleidenschaft gezogen werden sollte, hatten sie in der Garage eine Zeltausrüstung für ein Notquartier.

 Wenigstens wusste er, dass Beth in Sicherheit war.

 Wenn das Haus nicht über ihr eingestürzt war.

 Es gab keinen Grund, sich Sorgen zu machen, redete er sich gut zu. Sie hatten eine gründliche geologische Untersuchung durchführen lassen, bevor sie das Haus gekauft hatten. Der Bericht besagte, dass es erdbebensicher und auf solidem Felsuntergrund gebaut war.

 Ja, klar, und der Gutachter hatte gesagt, das Abwassersystem sei top, und was ist passiert, als es so richtig geregnet hat? Das Wasser überschwemmte den Hof, sickerte unter den Glastüren hindurch und ruinierte die Hartholzböden. Weißt du noch?

 Er musste nach Hause.

 Aber wie?

 Er steckte in der Innenstadt von L. A. fest, einer im Zerfall begriffenen urbanen Wildnis, dreißig Meilen von der Sicherheit seiner Wohnanlage in Calabasas entfernt, sein Mercedes zermalmt. Und selbst wenn er das nicht wäre, die Straßen und Autobahnen wären sowieso praktisch unbefahrbar, für jegliche Fahrzeuge.

 Er würde wohl zu Fuß gehen müssen.

 Keine leichte Übung für einen, dessen Vorstellung von einem langen Spaziergang sich auf den Weg zwischen Sofa und Fernseher beschränkte, aber er würde es schaffen. Er hatte keine Wahl, es sei denn, er wollte hierbleiben. Und er wusste, was mit Typen wie ihm passierte, die einmal falsch abgebogen waren und sich alleine und allem Anschein nach weiß, reich und privilegiert im Getto wiederfanden, nur mit einem ausklappbaren Mercedes-Schlüsselanhänger bewaffnet.

 Sein Herz begann zu rasen. Er befürchtete, schon wieder würgen zu müssen. Er atmete tief durch und zwang sich zur Konzentration.

 Marty drehte sich zu seiner E-Klasse um. Der Kofferraumdeckel, penetrant glänzend und unzerkratzt, lugte unter dem Geröll hervor. Er eilte zu seinem Wagen, klappte den Kofferraum auf und wühlte in dem Berg von Drehbüchern und Videokassetten herum, bis er eine alte Straßenkarte von L. A. fand. Dann schnappte er sich seine Sporttasche, die in die hinterste Ecke gerutscht war. Es war sechs Monate her, dass er die Tasche das letzte Mal benutzt hatte, damals, als er noch vom anfänglichen Enthusiasmus eines Neujahrsvorsatzes und einer Zwei-Jahres-Mitgliedschaft im Fitnessstudio beflügelt war. Er ging zweimal hin und dann nie wieder.

 In der Sporttasche waren ein Paar alte Reebok-Turnschuhe, ein T-Shirt, ein Jogginganzug und eine Flasche Wasser. Er stopfte schnell das Montiereisen für die Reifen, eine Taschenlampe und den Erste-Hilfe-Kasten dazu.

 Immerhin ein Anfang.

 Als er die steifen Anzugschuhe von den Füßen kickte und in die Reeboks schlüpfte, begann er darüber nachzudenken, was er für seine Reise noch brauchen würde. Abgepackte Lebensmittel, Unmengen an Wasser, Klebeband, Streichhölzer, Atemschutzmasken, ein Stück Seil. Im Grunde musste er eine abgespeckte Version der Überlebensausrüstung in seinem Haus zusammenstellen.

 Kein Problem. Er konnte die meisten Dinge direkt hier auftreiben, zwischen Cateringwagen, Kostüm-Wohnmobil und den Lastwagen der Kameraleute, Requisiteure und Beleuchter. Filmteams hatten alles.

 Was ihm jetzt noch fehlte, war ein Plan für das weitere Vorgehen.

 Marty rechnete sich aus, dass ihm vielleicht neun Stunden Tageslicht blieben. Wenn er sofort losmarschierte, obgleich alles andere als in Bestform, konnte er leicht vor Einbruch der Dunkelheit im Tal und auf dem Ventura Boulevard sein.

 Das war zu schaffen.

 Im Tal, wo ganze Gemeinden nach Tarzan und den Universal Studios benannt waren und das Autohaus Casa de Cadillac die älteste historische Sehenswürdigkeit darstellte, hatte er sicherlich nichts zu befürchten.

 Jetzt musste er nur noch herausfinden, wie er am besten dort hinkam.

 Man konnte durchaus sein ganzes Leben in Los Angeles verbringen, ohne jemals die unschönen Ecken der Stadt zu Gesicht zu bekommen. Man sah sie höchstens mal bei siebzig Meilen pro Stunde auf der Autobahn verschwommen vorbeiziehen oder beim Zappen nach den Abendnachrichten, während man auf die Wiederholung von »Cheers« wartete.

 Trotzdem wusste Marty, wo diese gefährlichen Viertel waren, und ihm war völlig bewusst, dass er einige von ihnen passieren musste, um nach Hause zu kommen. Daran führte kein Weg vorbei.

 Doch er versuchte, es positiv zu sehen, um sich ein bisschen besser zu fühlen. Er würde am helllichten Tag dort langgehen, inmitten von Chaos, und er würde sich nur für wenige Meilen in den wirklich üblen Gegenden aufhalten. Er hätte auch in weitaus schlimmeren Ecken der Stadt stranden können. Wenigstens war er nicht gerade in Compton oder South Central unterwegs gewesen, als das Beben losging.

 Er knallte den Kofferraum zu und breitete die vergilbte und zerrissene Straßenkarte auf der Heckklappe aus. Calabasas lag am südwestlichen Ende des San Fernando Valley, gegenüber den Santa Monica Mountains und den Hollywood Hills.

 Es gab zwei große Schnellstraßen ins Tal, die 101 über den Cahuenga-Pass, nur fünf bis zehn Meilen nördlich der Innenstadt, oder die 405 über den Sepulveda-Pass, gut fünfzehn bis zwanzig Meilen westlich. Zwischen diesen beiden Pässen schlängelten sich drei Hauptstraßen über die Hollywood Hills und weiter durch die Schlucht.

 Die andere Option war, genau nach Westen zu gehen bis zu den Stränden von Santa Monica, und dann dem Pacific Coast Highway in nördlicher Richtung zu folgen, bis er auf eine der Straßen traf, die die Santa Monica Mountains zerteilten. Das aber würde bedeuten, dass er das gesamte Innenstadtgebiet von L. A. durchqueren müsste, und das war das Letzte, was Marty wollte.

 Der schnellste und sicherste Weg nach Hause war der, den er gekommen war, beschloss er: über die 101, auch als Hollywood Freeway bekannt, nordwestlich über den Cahuenga-Pass ins Tal.

 Vorausgesetzt, es stellten sich ihm keine größeren Hindernisse in den Weg. Was natürlich der Fall sein würde. Eingestürzte Gebäude, aufgerissene Straßen, der Freeway eine einzige Knautschzone.

 Doch das beunruhigte ihn nicht weiter.

 Was ihm viel größere Sorgen bereitete, waren die unzähligen kleinen Hindernisse. Die Menschen. Die Verletzten und die Toten unter all dem Schutt. Der menschliche Abfall des Erdbebens.

 Und dann gab es da die Obdachlosen und die Gangs, von denen er hoffte, dass sie zu beschäftigt sein würden mit Plündern, um sich um einen Mann auf dem Weg nach Hause zu scheren.

 Er würde niemanden ansehen. Er würde einfach zügig weitergehen. Schon wieder verschwunden, bevor ihn irgendjemand bemerkte.

 Einfach weitergehen. Quer durch die Stadt, über die Hügel und durch das Tal, ohne anzuhalten, bis zu seiner Haustür, wo seine Frau warten würde, gesund und munter.

 Ganz einfach. Von A nach B.

 Nicht zu kompliziert. Es gab keinen Grund, warum er das nicht schaffen sollte. Es gab Typen, die während der Wildwesttage durch ganze Staaten marschiert waren. Oder zumindest taten sie das in den Westernromanen, die seine Lakaien für ihn lasen und zusammenfassten.

 Marty öffnete den Reißverschluss der Tasche und ging zu den Lastwagen und Wohnmobilen, um seine Ausrüstung zu vervollständigen.

 Er würde nach Hause gehen.

 


 KAPITEL ZWEI

 Auf dem gelben Ziegelsteinweg

 10:30 Uhr. Dienstag.

 Marty kletterte aus dem Kamera-Truck. Er war startklar, die prall gefüllte Sporttasche hatte er sich wie einen Rucksack über die Schultern geworfen.

 Er zog eine weiße Atemschutzmaske aus Papier über Nase und Mund, setzte seine Ray-Ban-Sonnenbrille auf, nahm einen tiefen, gefilterten Atemzug und machte sich auf den Weg.

 Doch zunächst musste er noch mal an den Trümmern der Lagerhalle vorbei. Die überlebenden Crew-Mitglieder waren so konzentriert bei der Arbeit, dass sie Marty nicht bemerkten, genau wie er es sich erhofft hatte. Er wandte den Blick ab, aus Angst, jemand könnte ihn beim Zusehen beobachten und versuchen, ihn für das hoffnungslose Unterfangen zu rekrutieren.

 Die drei Leichen, die die Überlebenden des Filmteams bisher geborgen hatten, lagen nebeneinander aufgebahrt auf dem geborstenen Asphalt unter dem Zelt, das eigentlich den ungesunden Fraß des Caterings vor der Sonne schützen sollte. Es war erstaunlich, dass das Zelt noch stand. Der Tisch aber war umgefallen, und Donuts, Süßigkeiten, Obst und Getränke lagen in einer Schneise aus zerstoßenem Eis auf der Straße verstreut.

 Eine Frau, die Marty als eine der Hairstylistinnen erkannte, schluchzte neben der Leiche von Clarissa Blake, einem der über zwanzig Stars der Sendung. Die Hairstylistin befeuchtete eine Serviette mit Evian und versuchte, das Blut und den Schmutz aus Clarissas unnatürlich blassem Gesicht zu wischen, dem einzigen Teil ihres gefeierten Körpers, der noch zu identifizieren war. Es sah aus, als hätte jemand einer aufblasbaren Gummipuppe die Luft herausgelassen und ihr eine perfekte Clarissa-Blake-Maske übergezogen. Dieser Gedanke ließ das alles plötzlich überhaupt nicht mehr real wirken, eher wie eine groteske Requisite am Set eines Horrorfilms.

 Und wieder schaute er schnell woanders hin, er wollte weder in die morbide Szene hineingezogen werden, noch zu eingehend darüber nachdenken. Clarissa Blake war tot, und es gab nichts, was Marty tun konnte, um das zu ändern. Außerdem war abgefülltes Wasser jetzt viel zu kostbar, um es für das Waschen der Toten zu verschwenden. Es konnte Tage, wenn nicht Wochen dauern, bis die Trinkwasserversorgung wieder funktionierte.

 Bei diesem Gedanken bückte Marty sich schnell, schnappte sich ein paar Evian-Flaschen, die auf dem Boden herumlagen, und stopfte sie sich im Weggehen in die Jackentasche. Die kleinen Flaschen waren noch gekühlt.

 Marty ging mitten auf der Straße die Santa Fe Avenue hoch, um so viel Abstand wie möglich zwischen sich selbst und eventuell herabfallende Trümmer zu bringen. Das Wichtigste war jetzt, hohe Gebäude, Stromleitungen, Tunnel und Überführungen zu meiden und stattdessen auf freiem Gelände zu bleiben, auch wenn das mitunter einen Umweg von ein bis zwei Meilen bedeutete. Es wäre wirklich dumm, das Erdbeben zu überleben, nur um dann zwei Minuten später von Betonbrocken erschlagen zu werden.

 Marty kannte sich nicht gut aus in der Innenstadt von L. A. Genau genommen war er in zehn Jahren höchstens ein halbes Dutzend Mal hiergewesen, aber er hatte sie aus der Luft gesehen, wenn er aus New York oder Hawaii kommend auf dem Los Angeles Airport landete. Von oben sahen die Wolkenkratzer aus wie ein Haufen Unkraut, das durch Risse auf den Parkplätzen nach oben drängte. Es würde nicht besonders schwierig werden, ihnen aus dem Weg zu gehen. Er würde sich Richtung Norden halten, das Verwaltungsviertel an der 1st Street durchqueren und dann dem Hollywood Freeway bis zurück ins Tal folgen.

 Dieser handfeste Plan und seine Sporttasche mit der Notversorgung gaben ihm das Gefühl, die Situation unter Kontrolle zu haben. Es tat gut zu wissen, dass sich die tektonische Plattenverschiebung der Erdkruste durch klares Denken, abgefülltes Mineralwasser und eine Thomas-Brothers-Straßenkarte zähmen ließ.

 Für gewöhnlich gab es nicht mehr viel Verkehr in dem Industriegebiet rund um die Santa Fe Avenue, denn Industrie gab es hier mittlerweile auch keine mehr. Jetzt waren nur einige wenige Autos entlang der Straße wahllos über die Fahrbahn verteilt, als hätte ein gelangweiltes Kind seine zerbeulten Matchboxautos auf den Boden geworfen, um etwas anderes zu spielen.

 Marty näherte sich einem Crown Vic, der dort, wo der Asphalt sich wölbte und in rissige Schollen zerbrach, auf der Seite lag, die Räder drehten sich noch langsam. Der fettleibige Fahrer, ein Mann mittleren Alters, war noch am Leben, er saß angeschnallt und mit vor Schock weit aufgerissenen Augen auf seinem Sitz, sein Kopf ruhte auf dem blutbefleckten Airbag wie auf einem Kissen, das Radio lief.

 »Sie sind tot … sie sind alle tot. Überall ist Feuer. Ich komm nicht raus. Harvey … er brennt. Er ist hinter der Scheibe und er brennt. Er brennt lichterloh. Oh Gott. Oh Scheiße. Wenn er nicht aufhört, gegen das Glas zu schlagen, wird es noch zerbrechen! Stopp! Siehst du nicht, dass es schon Risse kriegt? Stopp! Verdammt, Harvey! Bitte!«

 Der Fahrer schien das nicht zu hören, und wenn doch, so hielt er es wohl für beruhigende Musik. Marty war nicht mit solch wohligen Sinnestäuschungen gesegnet. Der Schrecken leckte wie Rauch aus den Radioboxen, und er wollte ihn nicht einatmen.

 Er ging geradewegs weiter, an dem Auto vorbei, und versuchte, dem verzweifelten Radiomoderator nicht zuzuhören, was ihm jedoch nicht gelang.

 »Oh Gott, es bricht, verdammte Scheiße! Oh Gott. Oh verdammt! Ich will nicht sterben! So hilf mir doch jemand!«

 Marty beschleunigte seine Schritte, stolperte über Risse und Steinbrocken, bis er die Stimme nicht mehr hören konnte und das flehentliche Bitten des Radiosprechers von lautem Schluchzen, Stöhnen und Schmerzensschreien gedämpft wurde, die von einem Parkplatz weiter vorne zu ihm schallten.

 Mehrere Dutzend Arbeiter waren hinter einem schmiedeeisernen Zaun mit Stacheldrahtkrone gefangen und saßen dicht zusammengekauert in größtmöglicher Entfernung zu dem Gebäude, dem sie gerade entronnen waren und dessen Wände aus vorgefertigten Betonplatten unter dem eingestürzten Dach einknickten. Über und über mit Gips und Blut verschmiert umarmten sie einander, gefangen in ihrer Angst und ihrem Leid.

 Schau nicht hin, sagte Marty zu sich selbst. Geh weiter.

 Er wusste, Anblicke wie dieser würden sich ihm noch etliche bieten. Horrorszenen einer grausigen Geisterbahnfahrt. Er durfte nicht riskieren, dass ihm auch nur eine davon zu naheging. Die einzige Person, um die er sich zu kümmern hatte, war Beth. Das war sein moralischer Imperativ als guter Ehemann.

 Er tat also genau das Richtige. Sich durch das Elend anderer von seinem moralischen Imperativ ablenken zu lassen, wäre die eigentliche Sünde.

 Vor ihm spannte sich die 4th Street in weitem Bogen über die Santa Fe Avenue, überquerte den L. A. River und verschwand Richtung Boyle Heights. Die Betonbrücke stand noch, anders als ihre große Schwester zwei Blocks weiter südlich, aber als Marty näher kam, konnte er einen bedenklichen Riss erkennen, aus dem feiner Staub auf die Straße rieselte. Vielleicht war der Schaden rein kosmetischer Natur, aber das Risiko war es nicht wert.

 Marty nahm die erstbeste Seitenstraße. Sie war nicht viel breiter als eine Gasse, gesäumt von ausgebrannten, verfallenen Fabrikgebäuden. Auf halber Strecke versperrte ein übler Verkehrsunfall den Weg. Ein Sattelzug war über einen dieser kastenförmigen alten Volvos gefahren, hatte sich dann überschlagen und war durch die Wand einer verlassenen Frachtstation gekracht.

 Er konnte nur vermuten, dass die beiden Fahrzeuge im Moment des Bebens gerade kurz davor waren, aneinander vorbeizufahren, und stattdessen frontal aufeinander zu geschleudert waren.

 Er hielt einen Moment inne, beunruhigt, Schweißperlen rannen ihm den Rücken hinunter.

 Was störte ihn?

 Es brannte nicht einmal, und wenn er sich an den Bürgersteig auf der anderen Straßenseite hielt, konnte er sich leicht an dem Unfall vorbeidrücken und Richtung Alameda Street weitergehen, wo er mit Sicherheit schlimmere Massenkarambolagen zu sehen bekäme als diese.

 Viel schlimmere. Und stell dir nur vor, wie der Harbor Freeway wohl aussehen wird, sagte er sich. Du wirst dir das noch früh genug anschauen müssen. Das hier ist gar nichts.

 Er machte sich auf das Schlimmste gefasst und beschleunigte seine Schritte, die unnatürlich laut klangen, Glassplitter und Betonbrösel knirschten unter seinen Sohlen. Die Luft roch nach Rindenmulch, wie ein frisch bepflanzter Garten, sogar durch seine schweißtriefende Staubmaske hindurch.

 Als er sich an dem Unfall vorbeiquetschte, konnte er nicht anders: Er musste sich das Blutbad anschauen. Alle Einwohner von Los Angeles hatten den gleichen, unwiderstehlichen Drang; er war der Grund, warum selbst eine überhitzte Chevette auf dem Seitenstreifen einen Zwanzig-Meilen-Stau verursachen konnte.

 Das Fahrerhaus des Trucks hatte sich in das Lagerhaus geschoben, was ihm den Anblick des Fahrers ersparte. Der Anhänger war auseinandergebrochen und spuckte Säcke mit Blumenerde aus, die bei dem Aufprall aufgeplatzt waren und überall tiefschwarzen Dreck versprengten. Jetzt wusste er, woher der Geruch kam.

 Der Volvo war fast völlig platt gedrückt und begraben unter Schutt. Nicht einmal das schwerfälligste, sicherste Automodell konnte es mit einem solchen Gigaliner aufnehmen. Benzin, Öl und Kühlflüssigkeit bluteten aus den beiden Fahrzeugen und vermischten sich im Rinnstein neben Martys Füßen.

 Es knisterte irgendwo.

 Er spähte über den Volvo und sah eine Funken speiende elektrische Leitung über den Boden zucken. Der Truck hatte einen Strommasten umgerissen, der nun quer über der Straße lag. Das Stromkabel lag in sicherer Entfernung von ihm und dem auslaufenden Benzin. Trotzdem hätte er gerne noch etwas mehr Abstand zwischen sich und das Kabel gebracht, das er argwöhnisch beäugte als wäre es ein lebendes Wesen, ein Raubtier, bereit zum Angriff.

 Und da kam sie, die Attacke, etwas packte ihn am Knöchel.

 Er schrie und versuchte instinktiv zur Seite zu springen, stolperte über seine eigenen Beine und knallte hart auf den Boden. Damit löste er einen weiteren Schrei aus, nur dass es dieses Mal nicht er war, der schrie. Es war ein Schmerzensschrei aus dem Inneren des Wagens.

 Marty krabbelte fort, und mit einem Blick über die Schulter sah er einen dreckverkrusteten Arm, der sich aus dem Volvo streckte und verzweifelt in die Luft griff. Es war, als käme eine Hand aus einem Grab emporgeschossen.

 »Helfen Sie mir, bitte«, flehte eine Frauenstimme aus dem Inneren des zusammengefalteten Volvos.

 Er könnte wegrennen. Einfach weitergehen. Niemand würde es je erfahren.

 »Ich kann nicht atmen«, wimmerte sie.

 Marty kroch zu dem Wagen, bevor ihm überhaupt bewusst war, eine Entscheidung getroffen zu haben, nahm die Hand und spähte in die Öffnung, aus der sie herausragte. Es war, als starrte er in den Schlund eines Metallmonsters, eines riesigen weißen Volvos, der diese arme junge Frau bei lebendigem Leibe zermalmte. Die untere Hälfte ihres Körpers war von scharfkantigem Metall völlig zerfetzt, ihr Oberkörper fast begraben unter Blumenerde. Ihr zweiter Arm war in einem unnatürlichen Winkel verdreht, abgebrochene Knochensplitter stachen durch die Haut.

 »Halten Sie durch«, sagte Marty, »ich bin bei Ihnen.«

 Er griff hinein, schaufelte den Dreck weg und befreite ihren Kopf, damit sie atmen konnte. Ihr Haar war fast so dunkel wie die Erde, sie hatte grüne Augen, die in panischer Intensität loderten. Sie sog die Luft in flachen, krächzenden Atemzügen ein.

 »Ich dachte, Sie würden mich zurücklassen.« Ihre Stimme hatte eine leichte Texas-Färbung. Er schätzte sie auf um die Dreißig.

 Marty nahm seine Brille ab und zog sich die Staubmaske vom Gesicht, sodass sie um seinen Hals baumelte. »Sie haben mich erschreckt. Das ist alles.«

 Er hätte sie fast gefragt, ob alles in Ordnung sei, konnte sich aber gerade noch bremsen. Die Frage war ein dummer Reflex. Sie steckte ganz offensichtlich in massiven Schwierigkeiten. Obwohl ihre Bluse vor Schmutz starrte, konnte er erkennen, dass sie blutgetränkt war und dass dort, wo der Wagen sie einquetschte, noch mehr Blut durchsickerte.

 »Ist da noch jemand bei Ihnen?«, fragte er.

 »Nein, Gott sei Dank nicht.« Sie leckte sich das Blut von den Lippen und schaute mit flehendem Blick zu ihm auf. »Können Sie mich hier rausholen?«

 Das Metall hatte sich derart um ihren Körper gewickelt, dass keine Chance bestand, irgendetwas für sie zu tun, nicht mit bloßen Händen und einem winzigen Montiereisen. Hier mussten ein Feuerwehrteam, schweres Rettungsgerät und einige Sanitäter ran. Und selbst dann hatte er seine Zweifel.

 »Ich denke nicht«, antwortete er. »Außerdem habe ich Angst davor, was passieren könnte, wenn ich es versuchen würde.«

 Sie nickte schwach. »In Ordnung. Ich denke, ich wusste die Antwort sowieso schon. Können Sie für den Lastwagenfahrer etwas tun?«

 »Ich weiß nicht«, Marty schaute weg, überrascht von einem plötzlichen Schuldgefühl. Als er wieder zu ihr sah, bedachte sie ihn mit einem seltsamen Blick.

 »Vielleicht sollten Sie mal nachsehen.«

 Die Art, wie sie das sagte, nämlich ganz ohne zu urteilen oder ihn gar zu verachten, ließ den Satz irgendwie noch vernichtender klingen. Er richtete sich langsam auf. Sie griff erneut nach ihm, dieses Mal sanft.

 »Sie kommen zurück, oder?«, fragte sie.

 »Ja«, sagte er, »natürlich.«

 Marty stand auf und ging zu dem Lastwagen. Gerade mal fünfzehn Minuten unterwegs und schon brach er die Regeln. Wenn er schlau wäre, würde er einfach weitergehen. Er konnte nichts für sie tun.

 Als er sich dem Lastwagen näherte, behielt er das lose Stromkabel im Blick, das sich zischend und knisternd über das Pflaster schlängelte. Die Benzinpfütze war immer noch weit genug von den Funken entfernt, doch das konnte sich ändern.

 Er kletterte an der Fahrerkabine hoch und schaute durch das Fenster auf der Fahrerseite hinein. Zunächst konnte er sich keinen Reim machen auf das, was er sah. Der Fahrer lehnte zusammengesackt an der Beifahrertür, aber sein Kopf lag in seinem Schoß. Wie konnte das sein?

 Einen Moment später begriff er. Ein Stück Wellblech, das bei dem Aufprall aus der Wand des Lagerhauses gerissen worden war, war wie eine Axt durch die Windschutzscheibe gefahren und hatte dem Fahrer den Kopf abgehackt.

 Marty kletterte so hastig von der Fahrerkabine herab, als wäre Enthauptung ansteckend, und wich zurück, ohne seinen Blick von dem Wrack abzuwenden. Er wartete nur darauf, dass der nächste Schrecken auftauchte.

 Als Marty acht Jahre alt war, war er in einen Nagel getreten, der sich komplett durch seinen Fuß gebohrt hatte. Bis heute war das die schlimmste körperliche Verletzung, die er je zu sehen bekommen hatte, Irving Steinberg und Clarissa Blake mal nicht mitgerechnet.

 Er stieß rückwärts an den Volvo, der dadurch ins Schaukeln geriet; der Schmerzensschrei der Frau riss ihn aus seinen Gedanken. Die Frau, irgendwie musste er der Frau helfen. Aber wem wollte er etwas vormachen? Er konnte verdammt noch mal überhaupt nichts für sie tun. Das war ein Job für Profis.

 Marty angelte in seiner Jacke nach seinem Handy und versuchte, den Notruf zu wählen. Wieder hatte er keinen Empfang. Doch selbst wenn er durchkommen würde, wie standen die Chancen, dass jemand wegen ihr herkommen würde, wo die ganze Stadt in Schutt und Asche lag? Die Frau stand auf der Prioritätenliste ganz unten.

 Es gab nur ihn. Und Marty hatte nicht die leiseste Ahnung, was er tun sollte. Er unterdrückte den Impuls wegzulaufen, steckte das Telefon zurück in seine Tasche und kniete sich wieder neben den Wagen.

 »Wie geht es ihm?«, fragte sie, doch sie unterbrach ihn, bevor er antworten konnte. »Schon gut, Ihr Gesicht spricht Bände.«

 Sie zitterte stark und verzog vor Schmerzen das Gesicht. Er hatte noch nie zuvor jemanden gesehen, der solche Schmerzen aushalten musste, und er wollte es auch jetzt nicht sehen. Er schaute weg. Blut tropfte von ihrer Nase und rann aus ihren Mundwinkeln.

 »Ich heiße Molly«, flüsterte sie. »Molly Hobart.«

 »Marty Slack.« Er nahm ein Papiertaschentuch aus seiner Tasche und wischte ihr das Blut aus dem Gesicht, dann fragte er sich, was er jetzt mit dem Taschentuch machen sollte. Was, wenn sie AIDS hatte? Er ließ das Taschentuch fallen und hoffte, dass nichts von dem Blut mit seinen Händen in Berührung gekommen war. »Kann ich irgendetwas tun, damit es etwas bequemer für Sie wird?«

 Er hatte einen Erste-Hilfe-Kasten in seiner Sporttasche, aber er bezweifelte, dass ein Spritzer Bactine und ein Heftpflaster dazu beitragen würden, dass sie sich besser fühlte.

 »Halten Sie einfach meine Hand und reden Sie mit mir«, sagte Molly, »bis Hilfe kommt.«

 Das konnte Tage dauern, wenn überhaupt jemand kam.

 Marty konnte nicht hierbleiben und warten. Er war auf dem Weg nach Hause. Wenn er es nicht bis zum Einbruch der Dunkelheit ins Tal schaffte, könnte es wirklich gefährlich werden. Sie würde das verstehen. Er musste es ihr nur sagen, dann würde sie ihn gehen lassen.

 »Sicher«, sagte er.

 »Könnte ich ein bisschen Wasser haben?«

 Er nahm eine der Flaschen aus seiner Tasche, drehte den Verschluss auf und träufelte ihr langsam etwas Evian in den Mund. Es fiel ihr schwer zu schlucken.

 Nach einer kleinen Weile sagte sie sanft: »Ich sollte überhaupt nicht hier sein.«

 »Ich weiß, was Sie meinen«, sagte er.

 »Nein, wirklich. Es ist unrecht. Es gibt eine Autowerkstatt ganz in meiner Nähe, da hätte ich hingehen können. Aber diese Scheiß-Versicherungsfirma meinte, ich müsste das Auto in dieser Werkstatt in der Innenstadt reparieren lassen, sonst würden sie nicht zahlen. Das ist doch nicht gerecht, oder?«

 »Was ist passiert?«

 »Meine Tochter hat Traubensaft auf dem Sitz verschüttet. Ich griff nach hinten, wo die Papiertaschentücher lagen, damit es sich nicht überall ausbreitete, und dabei streifte ich ein parkendes Auto.« Molly drückte seine Hand, zaghaft, als wolle sie sich versichern, dass sie noch da war. »Zwei Unfälle in einem Monat. Die werden meine Beiträge jetzt ganz schön anheben.«

 »Niemand wird Sie hierfür verantwortlich machen.«

 »Sie kennen meine Versicherung nicht«, sagte sie. »Hat eigentlich schon jemand den Notruf angerufen?«

 »Ich habe es versucht, aber ich kriege keinen Empfang.«

 »Ich bin mir sicher, dass jemand angerufen hat.«

 In diesem Moment traf ihn die bestürzende Erkenntnis. Molly hatte keine Ahnung, was ihr zugestoßen war, was die eigentliche Ursache ihres Unfalls war. Und wenn er es ihr sagen würde, würde ihr nur bewusst, dass ihre missliche Lage wirklich niemanden interessierte.

 Niemanden außer ihn.

 Er hätte unter der Brücke durchgehen sollen, rissig hin oder her. Er hätte einfach ein Gebet sprechen und so schnell er konnte wegrennen sollen.

 »Sie sind aus Texas«, sagte Marty.

 »Thalia«, antwortete sie. »Ist eine ziemlich kleine Kleinstadt.«

 »Was hat Sie denn nach L. A. verschlagen?«

 »Auch ein Unfall«, Molly lächelte, an ihren Zähnen klebte Blut. »Clara ist jetzt fünf Jahre alt.« Sie ließ seine Hand los und zeigte auf die Sonnenblende. »Klappen Sie das mal runter.«

 Marty tat, wie ihm geheißen. Ein Foto war mit Gummiband an der Blende befestigt. Er schob es heraus und betrachtete es.

 Es war ein Foto von Molly, die mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht und einer kleinen Version ihrer selbst auf dem Schoß auf einer Picknickdecke irgendwo auf einer saftig grünen Wiese saß. Das Kind war mit vielleicht fünf Jahren alt genug, um zu wissen, wie man anbetungswürdig vor einer Kamera posiert.

 »Mein ganzes Leben besteht aus einer Reihe von Unfällen«, sagte Molly. »Clara ist der einzige davon, der mich glücklich gemacht hat.«

 Clara brachte Molly selbst jetzt, wo sie in Metall gewickelt mit einem Fremden Händchen hielt, zum Lächeln. Der Gedanke an ein Kind entlockte Molly genauso mühelos ein Lächeln, wie er Beth dazu brachte, in Tränen auszubrechen.

 »Haben Sie Kinder?«, fragte sie.

 »Nein«, antwortete er. »Wir haben es eine Zeit lang versucht, aber es hat nicht geklappt.«

 Monatelang hatte Marty sich zu angeblichen »Arbeitsessen« aus dem Sender geschlichen, um seine Mittagspause in einer Fruchtbarkeitsklinik in Beverly Hills zu verbringen, wo er in geschmackvoll eingerichteten Besucherräumen in einen Becher onanierte. Am Anfang war das gar nicht so übel. Man konnte seine Mittagspause auch auf unangenehmere Weise herumkriegen, als sich zu nicht jugendfreien DVDs einen runterzuholen.

 Doch eines Tages trat er mit seinem Becher aus seiner Besucherkabine und lief geradewegs Freddie Koslow in die Arme, einem Typen aus der Entwicklungsabteilung des Senders, der gerade aus der Kabine nebenan kam. Da standen die beiden unfruchtbaren Führungskräfte nun, mit ihren Spermabechern in der Hand, und diskutierten beiläufig über Entwicklungsprojekte, als hätten sie sich gerade zufällig im Bistro Garden getroffen.

 Das war das letzte Mal, dass Marty die Klinik besucht hatte. Doch all das erzählte er Molly nicht. Es war schlimm genug, dass die halbe Fernsehbranche über seine trägen Spermien Bescheid wusste.

 »Bei unserem Versuch ging es nur darum, Spaß zu haben«, sagte Molly. »Wir haben es auch nur einmal getan, und mehr hat es nicht gebraucht. Roy machte sich schleunigst aus dem Staub, und ich konnte nicht in Thalia bleiben, nicht so. Also ging ich weg, bevor sie geboren wurde. Ich steuerte San Francisco an, aber mein Auto gab den Geist auf, als ich gerade durch L. A. fuhr. Also bin ich geblieben. Sehen Sie? Noch ein Unfall.«

 Plötzlich verzog sich Mollys Gesicht zu einer gequälten Fratze, sie kniff die Augen zusammen und Tränen des Schmerzes quollen aus ihren Augenwinkeln. Sie streckte ihre Hand aus und griff nach seinem Handgelenk, zerquetschte es fast, grub ihre Finger so fest in seine Haut, dass er selbst einen Schmerzensschrei unterdrücken musste.

 Ihr Griff lockerte sich, und als sie ihre Augen wieder öffnete, sah er, wie viel Angst sie tatsächlich hatte. Ganz egal, wie sehr er auf sie einredete, es würde sie jetzt nicht ablenken.

 »Sie ist in der Löwenzahn-Vorschule in Tarzana«, sagte Molly eilig, »werden Sie vom Krankenhaus aus die Schule anrufen und ihnen Bescheid sagen, was passiert ist?«

 »Klar«, erwiderte er.

 Und dann hörte Marty es, das unverkennbare Grollen, wie ein Magen, der unter seinen Füßen knurrte. Molly riss die Augen auf.

 »Was ist das?«, schrie sie auf, in diesem einen, langen Moment vor dem Unvermeidlichen.

 »Nachbeben!«, rief er.

 »Nachbeben?«

 Zu spät bemerkte Marty seinen Fehler, und gerade als er sah, wie sich Verwirrung auf ihrem Gesicht abzeichnete, ging das Beben los und schlug riesige, unsichtbare Wellen unter der Straßendecke.

 Er griff fest nach Mollys Hand, beugte seinen Kopf nach unten und schloss die Augen, um das Ganze auszusitzen. Das Grollen wurde lauter, ein unterirdischer Donner, durchsetzt mit den Geräuschen von berstendem Beton, zerbrechendem Glas und knirschendem Metall. Die beiden Fahrzeugwracks schaukelten hin und her, knarrend und ächzend wie rostige Scharniere. Der Wagen rutschte weg und entriss ihre Hand seinem Griff.

 Marty versuchte noch, sie festzuhalten, doch von dem herunterfallenden Gemäuer, das beim Aufprall zerschellte und zu tausend staubigen Splittern explodierte, die sich winzigen Nadelstichen gleich in seine Haut bohrten, wurde er wieder in Embryohaltung gezwungen.

 Und dann war es vorbei. Das Grollen wich zurück wie eine Büffelherde auf der Flucht.

 Marty löste sich aus seiner Schutzhaltung, über und über zerstochen, und begutachtete den Schaden. Der Volvo war einige Meter weitergerutscht, ebenso der Lastwagen, Benzin ergoss sich aus seinem auseinandergebrochenen Tank und strömte dem auf der Straße tanzenden Stromkabel entgegen.

 Er rannte zum Auto und beugte sich hinein. Molly starrte mit verzweifeltem Blick zu ihm hoch, eine Hand griff nach ihm, Blut sprudelte aus ihrem Mund und ertränkte die Worte, die sie zu sagen versuchte.

 Sie war gefangen, und Marty ebenso, verdammt dazu, sich binnen weniger Sekunden zwischen ihrer Notlage und seinem eigenen Überleben zu entscheiden.

 Marty schaute von ihr zu dem Kabel. Die Zungen aus Benzin waren nur noch wenige Zentimeter davon entfernt, an dem Kabel zu lecken. Es ging um Sekunden.

 Molly packte ihn und zog ihn herunter.

 Er wirbelte herum, und einen Schreckensmoment lang dachte er, er müsste Molly gewaltsam abschütteln, um zu entkommen. Doch sie ließ sofort los, öffnete ihre Hand, um ihm das Foto zu zeigen, das sie fest umklammert hatte, und bot es ihm mit flehendem Blick an.

 »Es tut mir leid«, flüsterte er, dann rannte er weg.

 Er hörte sie noch ein letztes, verzweifeltes Mal etwas schreien, das wie »Engel« klang, und dann explodierte der Lastwagen hinter ihm. Der Druck blies ihn um und schleuderte ihn auf die Alameda Street, dann rollte der Feuerball über ihn hinweg.

 Marty knallte mit dem Gesicht voran auf das Pflaster, so heftig und schnell, dass er nichts tun konnte, um seinen Fall aufzuhalten, der ihm den Atem raubte, seine Brille zerschmetterte und eine der kleinen Wasserflaschen in seiner Jackentasche aufplatzen ließ. Wie er so dalag und nach Luft schnappte, flatterte ihm ein Stück Papier vors Gesicht, winzige Flammen leckten an den sich kräuselnden Rändern. Es war das Bild von Mollys Tochter. Er schlug die Flammen mit der Hand aus.

 Die Ränder des Fotos waren verkohlt, aber die lächelnden Gesichter waren unversehrt geblieben. Die Molly auf dem Foto und die Frau, die er zurückgelassen hatte, die Frau mit den flehenden Augen und dem blutigen Lächeln, waren zwei verschiedene Personen. Marty würde nie in der Lage sein, die beiden Bilder miteinander in Einklang zu bringen, und eins davon würde er nie wieder loswerden.

 Engel.

 Galt dieser Aufschrei, dieser letzte Atemzug, ihrer Tochter, ihrem kleinen Engel? Oder rief sie nach Marty, in dem sie in ihrer Verzweiflung etwas sah, was er definitiv nicht war? Oder schrie sie angesichts des dunklen Geistes, der gekommen war, um sie zu holen, einfach vor Entsetzen?

 Er würde es nie erfahren, aber er würde wahrscheinlich auch nie aufhören, sich diese Fragen zu stellen.

 Marty nahm das Foto und rappelte sich auf. Jeder Teil seines Körpers schien zu schmerzen. Seine Haare waren angesengt, sein Gesicht verkratzt, ein Hosenbein war am Knie zerrissen und sein Schritt war mit Evian getränkt, aber er hatte es geschafft.

 Langsam wandte er sich der schmalen Straße zu und starrte ungläubig auf den Anblick, der sich ihm bot. Beide Fahrzeuge standen lichterloh in Flammen, und das Feuer breitete sich auf die Überreste der umliegenden Gebäude aus.

 Hätte er eine Sekunde länger gezögert, wäre er bei lebendigem Leibe verbrannt. Er war gerade noch einmal davongekommen.

 Bis zum heutigen Tage hatte er es geschafft, sein Leben zu leben, ohne es auch nur ein einziges Mal aufs Spiel zu setzen. Und jetzt war er zwei Mal an einem einzigen Morgen gerade so dem Tode entronnen.

 Diese Art von Glück hält nicht lange an, nicht für echte Menschen. Er wäre fast umgekommen, und zwar nur, weil er stehen geblieben war, nur, weil er sich für die Probleme anderer Leute hatte einspannen lassen. Mollys sicherer Tod wäre fast auch seiner geworden.

 Diesen Fehler würde er nicht noch einmal machen.

 Marty drehte dem Feuer den Rücken zu, stopfte das Foto tief in seine nasse Tasche, zog die Riemen der Sporttasche über den Schultern nach und marschierte los.

 


 KAPITEL DREI

 This Is The City, Los Angeles, Kalifornien

 11:40 Uhr. Dienstag.

 Martys Ray-Ban saß bedenklich wackelig auf seinem Nasenrücken, gehalten von nur einem Bügel, und auch ein Glas war gesprungen. Aber er würde die Brille auf keinen Fall abnehmen, sie war Teil seiner Tarnung. Er schritt zielstrebig in der Mitte der Alameda Street voran und schlängelte sich vorsichtig durch das Trümmerfeld aus Bruchstücken von Straßenbelag, kaputten Autos und eingestürzten Gebäuden.

 Seine Atemschutzmaske war zerdrückt, doch er brachte sie wieder in Form und zog sie sich über Mund und Nase. Er hatte nur noch drei Masken und würde diese hier erst dann wegwerfen, wenn sie absolut nicht mehr zu gebrauchen war. Zudem bedeckte sie sein Gesicht und verbarg jegliche Emotionen wie Mitgefühl oder Angst, die er versehentlich zeigen könnte.

 Rauch und Staub schwängerten die Luft und hüllten ihn in einen wabernden Nebel der Zerstörung. Er war ihm willkommen. Der Dunstschleier verbarg ihn noch zusätzlich vor anderen und die anderen vor ihm.

 Er ignorierte die kollidierten und die kaputten Autos und die Opfer im Fahrzeuginneren.

 Er ignorierte die verstörten Überlebenden, meist betagte Asiaten, die wie Betrunkene stolpernd seinen Weg kreuzten, lauter runzlige, vom Alter gezeichnete Gesichter.

 Er ignorierte die Verletzten und die Toten, die wie der feilgebotene Plunder eines Garagenflohmarkts auf den Gehwegen aufgebahrt waren.

 Und er ignorierte die Weinenden, die Stöhnenden und die Schreienden.

 Er ignorierte einfach alles.

 Da draußen gab es tausend Mollys, und er wollte keine weitere treffen. Es war zu schmerzhaft und viel zu gefährlich.

 Marty hielt seinen Blick auf seine Füße gerichtet, während er den verbogenen Gleisen der längst in Vergessenheit geratenen Eisenbahnstrecke folgte, die in den rissigen Asphalt eingesunken waren. Vielleicht waren es auch alte Straßenbahnschienen. Marty hatte keine Ahnung, und es war ihm eigentlich auch egal. Das bisschen, was er über die Geschichte von Los Angeles wusste, hatte er aus Dragnet-Wiederholungen zusammengeklaubt. Wenn Jack Webb es nicht gefilmt hatte, wusste Marty es auch nicht.

 Er hatte nicht das Gefühl, dass ihm da etwas entging. Los Angeles hatte sowieso nicht viel Geschichte, und das letzte bisschen davon wurde umgehend zubetoniert, sobald es Alterserscheinungen zeigte, was in seinen Augen Sinn machte. Die einzigen Gebäude, für die die Touristen sich interessierten, waren die, die sie ständig im Fernsehen oder in Filmklassikern sahen, und die meisten davon waren Kulissen auf den Hinterhöfen der Filmstudios. So gesehen war er ein ausgewiesener Geschichtsexperte.

 Das imposante Wayne Manor. Das Bates Motel. Melrose Place. 77 Sunset Strip. Das Baywatch-Hauptquartier. Jed Clampetts Schloss. Das Haus der Bradys. Gilligans Lagune. Cabot Cove. Diese Orte waren kulturell und emotional bedeutsamer für L. A. und vielleicht auch für den Großteil der nach 1950 Geborenen, als die von Unkraut überwucherten Schlachtfelder von Gettysburg, die Freiheitsglocke oder sogar das Weiße Haus.

 Abgesehen von Drehorten für Film und Fernsehen waren die interessantesten und bedeutendsten Sehenswürdigkeiten der Stadt so kurzlebig und austauschbar wie die zeitgeschichtlichen Dokumente, auf denen sie abgedruckt waren – die schmalen »Reiseführer zu den Häusern der Stars«, die von gelangweilten Latinos verteilt wurden, die auf Strandklappstühlen an Straßenecken und Autobahnausfahrten herumsaßen.

 Jetzt würden sie alle durch neue Sehenswürdigkeiten ersetzt werden müssen.

 Marty passierte Little Tokyo, was er nicht einmal bemerkt hätte, wenn das blaue Schild, das den Stadtteil ankündigte, nicht senkrecht verkantet stehen geblieben wäre. Jetzt fielen ihm die japanischen Geschäfte auf, deren Schilder von bröckelnden Fassaden baumelten oder zerbrochen auf den Straßen lagen. Landwa Lebensmittel. Der Mitsuwa-Markt. Yaohan Plaza. Und selbst durch den Staub hindurch konnte er das unverkennbar salzige, fettige und fischige Aroma von japanischem Essen riechen.

 Vielleicht lag es aber auch nur an Martys Fantasie, die noch beflügelt wurde durch die schmerzerfüllten und fassungslosen asiatischen Gesichter, die nicht zu entziffernde japanische Schrift und das Wissen, dass er sich in ihrem winzigen, dahinwelkenden Winkel einer sterbenden Innenstadt befand.

 Die Schienen beschrieben einen Bogen und verschwanden auf einem Parkplatz an der nordwestlichen Ecke zwischen der 2nd Street und Alameda Street. Hunderte versammelten sich voller Panik auf der unebenen Betonlichtung und starrten die Gebäude an, denen sie entkommen waren, während sie in den Armen ihrer Freunde und Kollegen Trost suchten und das gequälte Geheul all der kollidierten Autos ihr eigenes übertönte.

 Er ging weiter, vorbei an einem Stapel rußiger Steine, rostiger Eisenstangen und korrodierter Metallabdeckungen, alles Überreste eines verlassenen Gebäudes, das sich aufgelöst hatte wie ein Stück Würfelzucker, das von einem Tropfen Wasser getroffen wurde. Ein verwirrter Wachmann, der den Platz vermutlich vor Besetzern schützen sollte, saß auf einem Stuhl in seinem wackeligen Sperrholzverschlag, der kaum größer war als der Mann selbst. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen wirkte der Wächter auf Marty nicht gerade, als würde er seinen hohen, schmalen Unterschlupf so schnell wieder verlassen.

 Die Front des Japanisch-Amerikanischen Museums war in sich zusammengefallen, und ein Haufen zerbrochenes Glas glitzerte wie Schnee auf dem weiträumigen Platz an der Ecke Alameda und 1st Street. Marty überquerte die Kreuzung und wandte sich nach Westen.

 Auch ohne Straßenschild wäre ihm spätestens jetzt klargeworden, dass er in Little Tokyo war. Auf der südlichen Straßenseite markierte die Nachbildung eines hölzernen Wachturms den Eingang zu einem Mini-Einkaufszentrum, das einem authentischen japanischen Dorf ähneln sollte – zumindest einem von Winchell’s Donuts gebauten.

 Dem Einkaufszentrum gegenüber, oder besser dem, was davon übrig war, stand eine Reihe historischer Gebäude aus den 1880er-Jahren, nämlich die Häuser der ersten japanischen Siedler – was Marty sicher nicht gewusst hätte, wenn er nicht so sehr darauf geachtet hätte, wohin er seine Füße setzte. Die Namen der früheren Bewohner der Häuser zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und dem Zweiten Weltkrieg waren mit Messinglettern in den aufgebrochenen, buckligen Gehweg graviert, als Teil eines urbanen Kunstprojekts.

 Marty blieb vor einem der Gebäude stehen und las die Auflistung: 1890, Queen Hotel. 1910, Nihon Hotel. 1914, T. Kato, Hebamme. 1926, Dr. W. Tsukifuji, Zahnarzt. 1935, Ushikawa-Krankenhaus. Jetzt war es eine Videothek.

 Ein paar Schritte weiter war Fugetsu Do, die japanische Bäckerei, wo der Glückskeks erfunden worden war. Marty spähte durch das zerbrochene Fenster. Drinnen war niemand. Vielleicht war der Bäcker von einem seiner Kekse vorgewarnt worden.

 Marty setzte seinen Weg fort, und Little Tokyo machte abrupt Platz für das Verwaltungsviertel. Ein Schild vor dem Rathaus informierte darüber, dass das 28-stöckige Gebäude, das jeder kannte, der schon einmal auf die Dienstmarke eines Polizisten in L. A. geschaut hatte, gerade einer aufwändigen Erdbebensanierung unterzogen wurde, die offensichtlich zu spät kam. Der eindrucksvolle phallische Turm, der wie das Imitat eines griechischen Tempels zum Himmel strebte, stellte das offizielle Wahrzeichen der Stadt dar, und jetzt, wo er in zwei Teile zerbrochen quer über den Park lag wie ein gefallener Soldat, tat er das umso mehr.

 Auf der anderen Straßenseite hatte das baufällige »Weltberühmte Haus des Authentischen Koscheren Mexikanischen Burritos« dem Beben unbeschädigt getrotzt und seine Pforten geöffnet. Dampf entwich aus der winzigen offenen Küche, wo ein schwitzender Küchenchef, dem Anschein nach völlig ungeachtet des Desasters, damit beschäftigt war, den gleichermaßen katastrophenblinden Kunden an der Straßentheke ihr Essen zu servieren.

 Wenn Marty alles außer dem Burrito-Stand aus seinem Sichtfeld verbannte, sah es aus wie in jeder anderen Mittagspause auch, in der der Tresen bevölkert war von hungrigen Rechtsanwaltsgehilfen, Sekretärinnen und Beamten, die überfüllte Burritos kauten und riesige Softdrinks in sich hineinkippten. Der einzige Fehler im Bild war, dass alle irgendwo bluteten, ihre Klamotten zerrissen und ihre Körper staubbedeckt waren. Doch es gab hier keine Panik, kein Stöhnen und kein Schluchzen. Es schien, als fänden die Kunden willkommenen Trost bei den vertrauten Burritos, und so blickten sie stur Richtung Küche und nicht auf die erschütterte Welt um sie herum.

 Ohne nachzudenken drehte Marty sich unvermittelt um und ging auf den Burrito-Stand zu. Obwohl er mexikanisches Essen verabscheute, spürte er plötzlich ein überwältigendes Verlangen nach einem Burrito; er hatte keine Ahnung, warum. Vielleicht war es das Staunen über die Entdeckung einer Oase inmitten des Unglücks, das ihn näher kommen ließ. Andererseits hatte er auch noch nie einen koscheren Burrito probiert, und heute war ohne Zweifel der Tag der neuen Erfahrungen.

 Marty drängelte sich zum Tresen durch, zog seine Atemschutzmaske herunter und füllte seine Nasenlöcher mit dem Duft von zischendem Fett. An den Wänden hingen verblasste, fleckige Fotos von TV-Schauspielern und Filmstars, die es nicht ins Kino, sondern nur auf Video geschafft hatten, die von der Sonne ausgebleichten Autogramme waren mit Kugelschreiber von zittriger Hand nachgezeichnet worden. Lee Horsley hatte hier gegessen. Eine überzeugendere Empfehlung konnte dieser Ort nicht kriegen.

 Der Küchenchef schuftete wie ein Wahnsinniger, nahm Bestellungen auf, servierte Essen und bediente die Kasse.

 »Was Sie hätten gern?«, der Koch stellte die Frage mit starkem mexikanischen Akzent.

 Marty warf einen Blick auf die Karte. Außer dem koscheren Burrito und einem Dutzend Variationen davon gab es auch Chicken Teriyaki Burritos für die japanischen Nachbarn, Hamburger für den faden Bürokraten und Shrimp Cocktails für den anspruchsvollen Gourmet. Wofür hätte Lee Horsley sich entschieden?

 »Was ist ein koscherer Burrito?«, fragte Marty.

 »Pastrami, Salami von Hebrew National, Corned Beef, Chilisoße, Zwiebeln, Senf, Essiggurken und Paprika, gewickelt in hausgemachte Tortilla«, antwortete der Koch. »Ist sehr, sehr gut.«

 Das Einzige, was noch fehlte, waren ein Matzebrot-Bällchen und Gefilte Fisch, um die Sache rundzumachen.

 »Nehm’ ich«, Marty legte vier Dollar auf den Tresen. »Und eine Cola.«

 Der Küchenchef wischte sich das Geld in die Handfläche, versenkte es in der offenen Kasse und kehrte zu seinen Töpfen zurück, wo er eine Handvoll klein geschnittenes Fleisch aus einem Eimer schaufelte und es auf den zischenden Grill schmiss. Marty schaute ihm zu.

 »Sie wissen schon, dass es ein Erdbeben gab, oder?«, fragte Marty.

 Der Koch antwortete, ohne sich umzudrehen. »Leute müssen trotzdem essen. Ich muss trotzdem Brot verdienen.«

 Marty wollte den Küchenchef gerade fragen, was ihn dazu inspirierte, solch bizarre Gerichte zu kreieren, wurde jedoch durch einen kräftigen Schubs von dem massigen Typen neben ihm abgelenkt.

 »Hey Arschloch, deine Rückseite brennt.«

 Marty schaute über seine Schulter und sah aus dem Augenwinkel, wie Rauch aus seiner Sporttasche aufstieg. Er schrie auf, schüttelte die Tasche ab und warf sie auf den Betonboden, um dann die Flammen auszutrampeln. Erst nachdem das Feuer erstickt war und er atemlos auf die verschmorte Tasche starrte, wurde ihm die Dummheit seines Tuns bewusst.

 Er hatte das Feuer gelöscht und die Tasche gerettet, nur um dann alles, was nicht verbrannt war, durch sein Gestampfe kaputt zu machen. Hätte er sich die Mühe gemacht, zuerst sein Hirn einzuschalten, anstatt in Panik zu verfallen, hätte er die Flammen mit etwas Wasser löschen können.

 Jetzt wusste er wenigstens, warum überall, wo er hinging, so viel Rauch war.

 »Gut gemacht, Volltrottel.« Der große Kerl neben ihm im JC-Penney-Anzug und mit Walmart-Krawatte wieherte schallend vor Lachen; dabei vermied er es geschickt, sich an einem Mundvoll Burrito zu verschlucken.

 Marty hob seine verbrannte Tasche auf und trug sie rüber zu einem der wackligen Tische, wo er den Inhalt auf der abgeblätterten Resopalplatte ausbreitete.

 Das Transistorradio war zertrümmert, ebenso die Taschenlampe, doch Marty dachte, er würde sie vielleicht trotzdem wieder zum Laufen bekommen. Ein paar seiner Evian-Flaschen waren aufgeplatzt und tränkten seine Streichhölzer, aber die würden irgendwann trocknen. Jedenfalls hoffte er das. Sein T-Shirt war angesengt, außerdem einige seiner Müsliriegel, doch das Klebeband, der Erste-Hilfe-Kasten und das meiste von dem anderen Kram schien in Ordnung zu sein.

 »Du dachtest, du wärst auf Das Ganz Große Ding vorbereitet, stimmt’s, Chef?« Auf den Kommentar folgte noch mehr schallendes Gelächter.

 Marty blickte auf und sah den Riesenkerl neben dem Tisch stehen, der angewidert seinen an einen Felsbrocken erinnernden Kopf schüttelte. Der Typ umklammerte eine Cola mit seiner Pranke, als ob er Angst hätte, sie könnte sich herauswinden. Mit einem einzelnen fettigen, haarigen Finger ging er Martys Sachen durch.

 »Du brauchst gar nichts von dem ganzen Scheiß hier.« Er öffnete seine Jacke, und zum Vorschein kam eine große Knarre, die an einem locker sitzenden Schulterholster hing. »Das ist alles, was man zum Überleben braucht.«

 »Ein Gewehr ist aber kein Getränk«, sagte Marty.

 »Das Ding benutzt man, um sich von jemand anderem eins zu besorgen, Vollidiot. Man trägt doch nichts auf dem Scheißrücken mit sich rum, das ist Grundwissen für den Überlebenskampf: kein Fallast. Lass doch irgendeinen anderen Deppen den schweren Scheiß mit sich rumschleppen. Nimm dir, was du brauchst, und zwar dann, wenn du es brauchst. Das ist Gesetz, frag Darwin, Smith und Wesson.«

 Der Küchenchef stellte Martys Burrito und seine Cola vor ihn hin. Marty blickte flüchtig zu dem Riesen, halb in der Erwartung, der würde sich an sein Essen heranmachen. Der Typ grinste, alles voller gelber Zähne und geschwollenem Zahnfleisch.

 »Nein, danke«, der Kerl zog einen Stuhl heraus und setzte sich. »Ich bin satt.«

 Marty biss in seinen Burrito. Er war heiß, salzig und troff vor Käse. Unglaublich lecker. Er konnte gar nicht schnell genug ein zweites Mal hineinbeißen.

 »Man fragt sich schon, warum hebräisches Essen woanders nicht so gut schmeckt, was?«

 Marty spülte einen Bissen Burrito mit etwas Cola hinunter. Sie war sehr süß, sehr kalt und schmeckte einfach großartig. Das war eine der besten Mahlzeiten in Martys Leben, trotz seiner momentanen Gesellschaft.

 »Bulle?«, fragte Marty.

 »Besser«, er griff in seine Brusttasche und reichte Marty seine Visitenkarte, garniert mit mit einem frischen, fettigen Fingerabdruck am Rand. Buck Weaver, Kopfgeldjäger, Geldeintreiber und Privatdetektiv. »Ich habe gerade Paco Pandito eingelocht.«

 Marty zuckte mit den Schultern, er hatte den Mund voll.

 »Kein Geringerer als der mieseste, unangenehmste und gerissenste Wichser im ganzen Westen der USA«, sagte Buck. »Ein Autos klauender, Dope dealender, koksender, Schwänze lutschender Bastard, so ist der drauf. Hab ihn im Outlet-Center bei Barstow erwischt. Er kann heruntergesetzten Markenklamotten einfach nicht widerstehen. Das ist seine Schwäche. Hab ihm mit der Knarre eins übergezogen, wie er gerade bei Tommy Hilfiger rauskam, dann hab ich ihm in die Eier getreten, damit er auf der Rückfahrt einigermaßen umgänglich bleibt. Weil es nicht empfehlenswert ist, zu unfreundlich zu sein, wenn man im Scheiß-Kofferraum mitfährt.«

 Buck schlürfte seine Cola. »Ich wäre in Barstow geblieben, wenn ich gewusst hätte, dass ich genau rechtzeitig zu diesem gottverdammten Großen Beben zurückfahre. Wenigstens hab ich meine Kohle bekommen, bevor es losging.«

 Marty nickte, während er seinen Burrito verschlang und zwischen den Bissen nur zum Cola-Trinken Pausen machte.

 Die Art, wie Buck ihn musterte, ließ Marty befürchten, dass der Typ kurz davorstand, ihm den Burrito aus den Händen zu reißen. Er aß noch schneller.

 »Du machst so einen schmierigen, unaufrichtigen Eindruck«, stellte Buck fest, »lass mich raten: Autoverkäufer oder Anwalt?«

 »Programmchef«, antwortete Marty.

 »Was zur Hölle ist das denn?«

 »Ich mache Fernsehshows«, erklärte Marty.

 »Du schreibst die?«

 »Nein.«

 »Du produzierst sie?«

 »Nein.«

 »Du führst Regie?«

 »Nein.«

 Buck hämmerte seine Faust auf den Tisch, er war frustriert und nicht sehr glücklich darüber. »Wie zum Teufel machst du dann?«

 Marty aß seinen Burrito auf und saugte den letzten Rest der Cola zwischen den Eiswürfeln heraus, während er über seine Antwort nachdachte. Der Punkt ist, die Sendungen könnten durchaus ohne jegliche Beteiligung seinerseits hergestellt werden. Er hatte keine wirklich kreative Funktion, außer dass er sicherstellte, dass der Sender die Show bekam, für die er bezahlte. Aber kein Programmverantwortlicher der Stadt ließ zu, dass seine Aufgabe sich hierin erschöpfte, nicht wenn er es in diesem Geschäft zu etwas bringen wollte. Der Trick bestand darin, ausreichend involviert zu wirken, um im Erfolgsfall die ganzen Lorbeeren einzuheimsen, dabei aber genügend Abstand zu halten, um nicht für einen Misserfolg verantwortlich gemacht zu werden. Daran erkannte man einen großen Programmchef.

 »Ich versorge die Autoren, Producer und Regisseure mit Vorgaben«, sagte Marty. »Ich liefere sehr konstruktive Anmerkungen.«

 »Das nennst du einen verdammten Job?«, schnaubte Buck.

 »Es ist ein Beruf«, verteidigte sich Marty. Warum ließ er sich mit diesem Mann auf eine Auseinandersetzung ein?

 »Und was hast du nun davon?«

 »Ungefähr so viel wie du von deinem.«

 »Ich hab’s verdammt noch mal drauf, da draußen zu überleben«, sagte Buck. »Was zur Hölle hast du? Anmerkungen? Gib mir eine deiner großartigen Scheiß-Anmerkungen.«

 Marty blickte ihm in die Augen. Der massige, grobschlächtige, primitive Neandertaler im Polyesteranzug mit Souvenirkrawatte aus dem Treasure-Island-Kasino.

 »Es heißt Ballast«, sagte Marty, »nicht Fallast.«

 Buck beugte sich langsam nach vorne. »Was zur Hölle sagst du da?«

 »Du hast gesagt, du willst keinen Fallast«, Marty lächelte spöttisch. »Klingt, als würdest du keine heruntergefallenen Äpfel mit dir herumtragen wollen.«

 Buck zog seine Knarre heraus und setzte Marty den Lauf mitten auf die Stirn. »Ein Mucks und ich mach dich zu Fallobst.«

 Marty erstarrte. Die bloße Dummheit der Situation machte ihm mehr zu schaffen als die Angst vor dem Tod. Er hatte das Erdbeben überlebt, nur um dann umgebracht zu werden, weil er eine Pause machte, um einen koscheren Burrito zu essen und die Aussprache eines Soziopathen zu korrigieren. Niemand an dem Stand schien etwas zu bemerken. Die hatten ja auch das Erdbeben nicht bemerkt, warum sollten sie einen Mord mitkriegen?

 Marty hielt Bucks fischäugigem Blick einen langen Augenblick stand. Doch anstatt zu schießen, fing Buck an zu grinsen und steckte die Knarre ins Holster zurück.

 »Kapierste? Verdammtes Fallobst.« Buck klopfte Marty auf die Schulter, zwei friedliebende Höhlenmenschen teilen sich ein Feuer. »Hättest du nicht gedacht, dass ich ein Spaßvogel bin, was?«

 Marty spürte immer noch den Abdruck des Gewehrlaufs auf seiner Stirn. Er stand schnell auf und stopfte seinen Kram wieder in sein Bündel. Es war höchste Zeit abzuhauen. Warum hatte er überhaupt erst hier angehalten?

 »Du hast recht, das war eine super Anmerkung, Scheiße noch eins«, sagte Buck, während er sich aufrichtete und dabei Martys Fluchtweg versperrte. »Du hast vielleicht Eier.«

 Eins davon deutlich größer als das andere, jedenfalls hatte man ihm das gesagt, ein Umstand, der seine Unentschlossenheit, seine übertriebene Vorsicht und seine unmotivierten Spermien erklären könnte.

 »Ich will einfach nur nach Hause«, sagte Marty.

 »In welche Richtung bist du unterwegs?«

 »Nach Westen.«

 Buck legte den Arm um Martys Schulter und zog ihn auf die Straße. »Weißte was? Ich auch.«

 


 KAPITEL VIER

 Downtown

 12:25 Uhr. Dienstag.

 Die Straßen waren jetzt vollgestopft mit Menschen. Hunderte von Regierungsmitarbeitern, Anwälten, Geschworenen, Bezirkspolizisten, Richtern, Durchreisenden, Parkplatzwächtern und Reportern der L. A. Times liefen umher und versuchten, sich von den brennenden Bussen, den qualmenden Autos, den einstürzenden Gebäuden, dem Wehklagen der Verletzten und dem Gestank der Toten fernzuhalten.

 Buck drängelte und schubste sich zwischen ihnen den Weg frei, sodass auf der 1st Street in Richtung Bunker Hill eine Schneise für ihn und Marty entstand. Marty wurde klar, dass es durchaus einige Vorteile haben könnte, Buck dabeizuhaben.

 Marty hatte erst ein oder zwei Meilen zurückgelegt, seit er das Set verlassen hatte, aber es war ein anstrengender Marsch und kein einfaches Unterfangen, auf den ruinierten, mit großen Stücken von aufgeworfenem Asphalt übersäten Straßen voranzukommen. Seine Füße fühlten sich bereits geschwollen an, seine Knie schmerzten und er war außer Atem. Wenn er weiter so abbaute, dachte Marty, würde Buck ihn ein paar Meilen weiter wohl wiederbeleben müssen. In diesem Moment beschloss er, wieder ins Fitnessstudio zu gehen und seine Mitgliedschaft endlich zu nutzen, sofern das Studio noch stand, und wenn nicht, würde er einfach drei, vier Mal am Tag um die Trümmer joggen.

 Während er Bunker Hill hinaufging, erinnerte Marty sich deutlich an die letzten beiden Male, als er in der Innenstadt war. Das erste Mal war vor fünf Jahren, als er und Beth hierhergekommen waren, um eine Heiratslizenz zu beantragen und den Familienrichter zu treffen, der sie trauen sollte. Der Richter schien die volle Kraft des Gesetzes zu verkörpern, so als wäre er von John Houseman persönlich in der Kunst der Einschüchterung durch finstere Blicke geschult worden. Doch als er dann die Trauung durchführte, schien stattdessen Henny Youngmen durch ihn zu sprechen, der ihre Schwüre offensichtlich als Chance nutzte, um eine potenzielle Vegas-Show zu testen.

 Das zweite Mal war vor ungefähr einem Jahr, um sich davor zu drücken, als Geschworener verpflichtet zu werden. Dafür brauchte es lediglich ein signiertes Foto von Jennifer Garner sowie das Versprechen, das Drehbuch des Beamten zu lesen, sobald er es vollendet hätte. Marty hatte es immer noch nicht erhalten, und dem Schaden am Gebäude des Bezirksgerichts nach zu urteilen, das unter den riesigen Doc Martens von Mutter Natur zermalmt worden war, hatte sich die Sache wohl erledigt.

 »Hey, hast du dir in die Hose gepisst?«, Buck warf einen Blick auf Martys Hose.

 »Das ist Evian«, gab Marty schwer atmend zurück.

 »Yeah«, schnaubte Buck. »Und scheißen tust du Beluga-Kaviar, wetten?«

 Abraham Lincolns abgetrennter, bronzener Kopf rollte an Marty vorbei, als er an der Ecke Hill und 1st Street kurz verschnaufte und die schimmernden Bürogebäude der Innenstadt ein paar Blocks weiter südlich betrachtete. Bucks Interesse galt eher dem über die Kreuzung rollenden Kopf des Ehrlichen Abe als der Aussicht.

 Man konnte die Monolithen aus poliertem Granit und getöntem Glas nur aus der Ferne wirklich gut sehen, von Nahem wirkten sie so einladend und kreativ wie eine Staumauer. Jeder von ihnen war als erhabenes architektonisches Statement entworfen worden, das vom Freeway aus mit einem Blick erfasst werden konnte. Jetzt vergossen sie ihre Glassplitter wie Tränen.

 Marty verschnaufte kurz auf der höchsten Stelle des Bunker Hill, und von diesem Standpunkt aus konnte er sogar die Zukunft sehen, oder zumindest das Gebäude, das sie in tausend schlechten Fernsehshows und Filmen verkörperte. Das Bonaventure Hotel bestand aus fünf gigantischen Glaszylindern, die nur darauf warteten, nach Absprengung des Startgerüsts aus Beton eine Rakete ins All zu schießen. Heute sah es aus, als sei es endlich zum Abschuss gekommen, nur dass die Raketen vor dem Start explodiert waren.

 Die Fernsehstudios würden die Zukunft woanders finden müssen.

 »Na, das nenn’ ich mal Scheißironie«, schnaubte Buck. Er verfolgte den Weg von Abes eigensinniger bronzener Rübe mit den Augen und hatte dabei ungewollt etwas Interessantes entdeckt.

 »Was?«, fragte Marty.

 »Schau dir das an«, Buck zeigte auf einen Block weiter südlich, wo das alte Backsteingebäude des Kawada Hotels immer noch an der Ecke 2nd und Hill Street stand. Das Schild des Cafés Epizentrum war unversehrt. »Ist das nicht der blanke Hohn?«

 »Mhm.« Marty ging weiter und wunderte sich zum vielleicht achten Mal in fünf Minuten, warum Buck einfach nicht wegging. Aber es könne wohl nicht schaden, sagte er sich, einen Riesentypen mit einer Riesenknarre an seiner Seite zu haben, insbesondere in Anbetracht der üblen Gegenden, die er bald durchqueren musste.

 »Ich mag so ironisches, originelles Zeug«, sagte Buck. »Widerspricht irgendwie meinem Harter-Hund-Image. Lässt mich so verdammt vielschichtig wirken, dass du mich ficken willst, stimmt’s?«

 Marty hörte Schreie aus dem Amt für Wasser- und Energieversorgung, einem kastenförmigen Bau auf einem Parkhaus, dessen oberste Ebene in einen quadratischen See verwandelt worden war, sodass ein Wassergraben das Gebäude umgab. Der vierzig Jahre alte architektonische Kunstgriff war jetzt, da das Parkhaus in sich zusammengesackt und die gleichaltrige Zugbrücke, die das Gebäude mit der Straße verbunden hatte, eingestürzt war, zur Falle geworden. Die Angestellten der Behörde saßen in einem kollabierenden Bau fest, konnten ihr Schicksal aber immerhin damit rechtfertigen, dass dies nun einmal der Preis dafür war, in einem bürokratischen Märchen zu arbeiten.

 »Ich hab mal einen kleinen Welpen gerettet«, fügte Buck hinzu. »Die wollten das sabbernde kleine Pelzknäuel töten, weil es sein Heim gegen einen Eindringling verteidigt hat. Ich konnte mit dieser verdammten Ungerechtigkeit nicht leben, mit der Vorstellung, dass dieses arme, flauschige Geschöpf sterben sollte, weil es das Richtige getan hatte, verdammt noch mal, also hab ich moralisch Stellung bezogen. In der Nacht, bevor sie ihm die Spritze geben wollten, befreite ich ihn aus dem Hundezwinger und ließ ihn in meinem Mercury Montego wohnen.«

 Buck schaute Beifall heischend zu Marty, bekam aber stattdessen nur Skepsis.

 »Was für ein Welpe?«, fragte Marty.

 »Was spielt das für eine Scheißrolle?«

 »War es ein Pitbull?«

 »Es war ein Pitbullwelpe«, blaffte Buck. »Die sind genauso scheißsüß wie jeder andere Welpe auch.«

 »Und dieser Eindringling, was genau hat der getan?«

 »Über den Zaun in das Revier des Hundes klettern, das hat er getan, nachdem er die Ruhe des Tiers auf schreckliche Art gestört hatte.«

 »Er verschreckte einen bissigen Pitbull«, sagte Marty.

 »Der Baseball von dem Balg rauschte in die Hundehütte und hat dem Hund einen Riesenschrecken eingejagt, dann kletterte das bescheuerte Kind in den Hof, um seinen Ball zu holen. Okay? Der Punkt ist, der Hund kann einen Scheißbaseball nicht von einem verdammten Gorilla unterscheiden und tat, was in seiner Natur liegt, nämlich sich und sein Herrchen zu verteidigen. Also war das, was ich getan habe, eine verdammt humanitäre Tat.«

 »Das war dein Hund, stimmt’s?«, fragte Marty. »Und er hat ein Kind zerfleischt.«

 »Du verstehst nicht, worum es geht, Arschloch.« Buck fuchtelte mit seinem fettigen Finger in der Luft herum. »Ich habe einen komplexen Charakter und tausend gute Stories.«

 Endlich begriff Marty. »Du versuchst gerade, mir eine Serie zu verkaufen, richtig? Über dich?«

 »Warum auch nicht, Scheiße noch mal? Hast du schon mal ’nen Typen wie mich im Fernsehen gesehen?«

 Nur bei Jerry Springer. »Ruf meine Sekretärin an und lass dir einen Termin geben.«

 »Wir haben genau jetzt unseren Termin, Vollidiot«, sagte Buck. »Oder hast du etwa noch anderweitige dringende Verpflichtungen?«

 Die Welt um sie herum war gerade im wahrsten Sinne des Wortes untergegangen und Marty sollte sich einen Pitch anhören. Aber es waren dennoch beileibe nicht die übelsten Umstände, unter denen er je gezwungen gewesen war, sich Ideen für Fernsehserien anzuhören. Sein Spezialist für männliche Fruchtbarkeit hatte gerade seinen Hodensack untersucht und an seinen ungleichen Eiern herumgetastet, als er ihm die Beobachtung unterbreitete: »Einige wirklich unglaubliche Typen gehen hier ein und aus. Sie würden mir diese irrwitzigen Geschichten nicht glauben.«

 »Tatsächlich?«, sagte Marty und versuchte so zu tun, als sei es völlig natürlich, mit der Hose um die Knöchel herumzustehen, während ein Typ seine Testikel durch die Hand rollen ließ und Serienkonzepte mit ihm diskutierte.

 »Ich habe die alle auf Karteikarten, die sind Gold wert, lustiger als Seinfeld. Willst du sie mal sehen?«

 Marty traute sich in Anbetracht der Tatsache, dass der Typ ihn bei den Eiern hatte, nicht Nein zu sagen. Die Situation unterschied sich gar nicht so sehr von der heutigen, Martys innere Einstellung hingegen schon. Vor einem Jahr saß seine Frau im Wartezimmer, und er konnte ihre sehnsuchtsvolle Verzweiflung durch die Wände hindurch spüren. Er brauchte einen gut gelaunten Arzt. Er brauchte Eier, die – wenn auch nur auf einer Seite – Spermien wie ferngesteuerte Raketen produzierten.

 Buck brauchte er nicht.

 »Schau dich um«, sagte Marty zu Buck. »Wir haben gerade das Große Beben überlebt. Tausende von Menschen sind tot. Die Stadt liegt in Trümmern. Meinst du wirklich, das ist jetzt der richtige Moment, um mir eine Fernsehserie zu pitchen?«

 »Absolut. Wir freunden uns gerade an. Wenn das alles vorbei ist, haben wir eine gute Grundlage, um gemeinsam Geschäfte zu machen«, antwortete Buck. »Wie heißt du?«

 »Marty Slack.«

 »Im Fernsehen sind alle Ermittler Weicheier, Marty. Gutmenschen, die einfach nur helfen wollen und sich ums Geld nicht scheren. Jeder will bezahlt werden, also das ist schon mal Bullshit. Wie zum Geier zahlen die sonst ihre Sportwagen ab und kaufen sich diese ganzen teuren Anzüge, wenn sie nicht bezahlt werden? Erklär mir das mal.«

 Marty wollte ihm gerade von der letzten Krimiserie erzählen, an der er gearbeitet hatte – genau genommen erst heute morgen noch –, als er die andere Seite des Bunker Hill erreichte, den Harbor Freeway sah und alles vergaß, was er hatte sagen wollen. Ein einziger Wust von ineinander verkeilten, ausgebrannten und noch brennenden Autos, verteilt über sechs Spuren aufgerissener Straße und abgestürzter Überführungen, über Meilen hinweg. Wenn da unten jemand schrie oder weinte, so wurde er von dem trostlosen Wehklagen gequälter Autos übertönt.

 Los Angeles war eine einzige Kreuzung riesiger Schnellstraßen, und Marty wusste, dass sie alle so aussehen mussten – gigantische Ameisenstraßen, die mit Brennspiritus vollgespritzt, dann angezündet und schließlich ein paar Mal mit einem Stein verdroschen worden waren.

 Die Zahl der Toten war unvorstellbar. Und Hilfe würde niemals kommen. Sie war – tot oder lebendig – im Verkehr stecken geblieben.

 Marty zog sich die Staubmaske über Nase und Mund und überdachte seine Möglichkeiten. Er könnte die Böschung hochklettern und das Massaker auf der Schnellstraße überqueren, oder er konnte unten drunter durchgehen, wo die 110 über die 1st Street führte. Die Überführung stand noch, doch wer wusste schon, wie stabil sie war? Wie schnell konnte er knapp zwanzig Meter weit rennen? Wie sehr wollte er sein Glück herausfordern?

 Buck hatte seine Entscheidung schon getroffen, er war bereits unter der Überführung und brüllte Marty an, dass er sich verdammt noch mal beeilen solle. Marty wusste, dass Buck überhaupt nicht darüber nachdachte, er bewegte sich einfach mit der ganzen intellektuellen Selbstreflexion einer Amöbe vorwärts.

 Marty traute sich zwar nicht zu, sich seinen Weg durch das Chaos auf dem Freeway zu bahnen, aber es war definitiv Selbstmord, unter einer Überführung durchzugehen, die bereits von zwei Erdbeben an einem Vormittag geschwächt war. Es blieb ihm also nur noch eine einzige Option. Blind drauflos, wie Buck. Nur um einiges schneller.

 »Shit«, brummte Marty, dann rannte er so schnell er konnte und nutzte die Steigung, um Schwung aufzubauen für die Überführung. Er war zur Hälfte unter der Straße durch, als er über einen Betonbrocken stolperte.

 Marty schlitterte, als ob er versuchte, die erste Base zu erreichen. Flach auf dem Bauch liegend, die Nase auf dem Asphalt, hörte er das Grollen. Er wusste, was da im Anmarsch war. Nachbeben. Er rappelte sich auf und rannte weiter, im Bewusstsein, dass er zu spät war, dass er innerhalb von Sekundenbruchteilen unter Tonnen von Beton zermalmt werden würde.

 Schreiend rannte er unter der Überführung hervor, stolperte wieder, rollte auf den Rücken und drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um mitanzusehen, wie eine Feuerwalze über die Schnellstraße fegte und in ihrer Schneise Autos wie Popcorn explodierten. Das Grollen, das er spürte, war kein Nachbeben, es war eine Serie von Explosionen, die über die 110 raste.

 Das Feuer bewegte sich vorwärts wie Wasser, es überschwemmte die Schnellstraße und verflüchtigte sich dann, als hätte es nie existiert, wie eine Blasen werfende Ausgeburt aus Martys überarbeiteter Fantasie. Doch er wusste, es war keine Fantasie. Es war nur ein weiterer unfassbarer Anblick, an einem Tag, der schon zu viele davon gesehen hatte.

 Marty kam wieder auf die Beine und sah Buck, der mit dem Rücken zu ihm an den Maschendrahtzaun der halb fertigen, 150 Millionen Dollar teuren Belmont High School pisste. Wenn der Kopfgeldjäger das Feuer gesehen hatte, so hatte es bei ihm keine große Wirkung hinterlassen, jedenfalls keine, die groß genug gewesen wäre, als dass er seine Blase ignoriert hätte. Er schien um einiges interessierter daran, sich an der teuersten High School der Welt zu erleichtern, deren Bau auf halber Strecke gestoppt und schließlich eingestellt worden war, weil jemand festgestellt hatte, dass sie auf Giftmüll stand. Aber wenigstens war die Schule erdbebensicher.

 Buck zog seinen Reißverschluss hoch und drehte sich zu Marty um. »Ich habe ein paar Anmerkungen zu deinem Laufstil. Erstens, bind’ dir die Scheißschuhe zu.«

 Marty schaute hinunter zu seinen Füßen. An beiden Schuhen waren die Schnürsenkel offen. Seine Brille rutschte von der Nase und zerbrach auf dem Boden.

 »Zweitens, du rennst wie ’ne Schwuchtel mit ’nem Stock im Arsch«, sagte Buck. »Bist du etwa so ’ne Schwuchtel mit ’nem Stock im Arsch?«

 »Nein«, sagte Marty und band seine Schuhe zu. »Ich bin verheiratet.«

 »Mit einer Frau?«

 »Ja, mit einer Frau.«

 »War sie schon immer eine Frau?«

 Marty funkelte ihn wütend an, sah das entzündete Zahnfleisch in Bucks Grinsen und trampelte auf seiner Brille herum, bis sie zu Plastikkrümeln zermahlen war.

 »Genau dahin gehe ich jetzt«, sagte Marty, »zu ihr nach Hause. Wohin gehst du?«

 »Ich gehe auch nach Hause.«

 Sie gingen weiter, Seite an Seite, die fast verlassene Straße hinunter. Wo waren die alle? Einen Augenblick später fragte Marty Buck: »Wo ist zu Hause?«

 »Hollywood.«

 »Hast du jemanden, der auf dich wartet?«

 Buck schüttelte den Kopf.

 »Warum hast du es dann so eilig?«

 Buck warf ihm einen eisigen Blick zu. »Wohin zur Hölle würdest du denn sonst gehen?«

 Marty wandte seinen Blick nach vorne, wo die 1st Street wieder anstieg, dieses Mal als gewölbte Betonbrücke, die sich über den Glendale Boulevard spannte. Sie schien intakt, und auf dem Scheitelpunkt war ein Auto stehen geblieben, aber Marty wollte sein Glück nicht herausfordern. Er würde um die Überführung herumgehen, um auf der anderen Seite des Glendale Boulevards wieder auf die 1st Street zu treffen.

 »Wie heißt sie?«, fragte Buck.

 »Beth.«

 »Was macht sie?«

 »Sie war Schauspielerin, aber das hat sie aufgegeben.«

 »Hab ich sie schon mal irgendwo gesehen?«

 »Nein.«

 »Wie zum Teufel willst du das wissen?«, schnaubte Buck. »Kennst du jede Sendung, die ich je gesehen habe? Gib mir mal ein paar Titel.«

 Marty zählte mechanisch einige auf. »They Eat Their Own 2, Summer Wine, The Endless Spiral.« Nicht gerade eine glanzvolle Vita, Beth würde dem sofort zustimmen. Ihr lukrativster Auftritt war eine Werbung für ein Mittel gegen Magenübersäuerung, die über Jahre hinweg immer mal wieder lief.

 »The Endless Spiral, war das das mit Christopher Walken als Gespenstermörder?«

 »Yeah.«

 »War sie das Mädchen, das im Taxi von Christopher Walken mit dem Finger penetriert wird?«

 Ja.

 »Nein«, antwortete Marty.

 Nachdem er diese unerträgliche Szene im Screening überstanden hatte, noch dazu direkt neben Christopher Walken, willigte Marty schließlich ein, Kinder zu bekommen, wenn sie die Schauspielerei dann für eine Weile sein lassen und Hausfrau und Mutter werden würde.

 »Ich begegne einem Haufen schlechter Scheißlügner in meiner Branche«, sagte Buck, »und du bist der beschissenste von allen. Wie konntest du zulassen, dass irgend so ein Typ es deiner Frau mit dem Finger macht?«

 »Es war Christopher Walken und sie spielten das nur.«

 »Für mich sah das aus wie ein Finger in ihrer Fotze«, sagte Buck.

 »Es war ein Fotzendouble!«, sagte Marty. »Können wir es einfach dabei belassen?«

 Buck amüsierte sich eindeutig zu sehr, um das Thema fallen zu lassen, und wahrscheinlich hätte er das auch nicht getan, wenn nicht ein mexikanischer Mann in Panik auf sie zugerannt wäre, irgendetwas auf Spanisch brabbelnd. Für Marty war es ein Leichtes, einfach weiterzugehen und ihn zu ignorieren, doch Buck hielt an und antwortete dem Mann, erstaunlicherweise in fließendem Spanisch. Das ließ Marty für einen Moment innehalten, einen Moment, den er bald bereuen sollte.

 Er verstand ein paar Worte – Junge, Auto, in der Falle – und schaute wieder zu der Überführung hin.

 Marty sah nun, dass die Überführung alles andere als intakt war. Sie klaffte am Scheitelpunkt auseinander und ein Toyota wippte über der schartigen Kante; er hatte sich in der geborstenen Bewehrung im Beton verheddert. Die Windschutzscheibe war zertrümmert, und direkt unterhalb des Wagens lag ein lebloser Körper über die Straße verspritzt.

 Der Fahrer hätte sich besser angeschnallt.

 Buck rempelte ihn an. »Der Kerl sagt, da oben ist ein Kind im Auto, angeschnallt und zu verängstigt, um sich von der Stelle zu bewegen.«

 »Ich kann es ihm nicht verübeln«, sagte Marty und machte Anstalten wegzugehen. Buck griff nach ihm.

 »Der Typ braucht unsere Hilfe, um das Kind da rauszuholen.«

 Marty schüttelte den Kopf. »Sehe ich aus wie Charlton Heston?«

 »Was zur Hölle …?«

 »Ich bin kein Held.« Marty wandte sich ab, und wieder packte Buck ihn.

 »Vielleicht hab’ ich mich verdammt noch mal nicht klar genug ausgedrückt. Da ist ein Kind alleine in diesem Auto da oben. Es sitzt in der Falle.«

 »Genauso wie tausend andere Kinder in dieser Stadt. Soll ich etwa jedes einzelne von ihnen retten?«

 Buck ließ Marty los und schaute ihm direkt in die Augen. »Du wirst dieses hier retten.«

 »Nein«, sagte Marty. »Ich gehe nach Hause.«

 Er rückte die Sporttasche auf seinen Schultern zurecht, drehte Buck den Rücken zu und machte sich auf nach Westen. Molly war genug. Mehr als irgendjemand von ihm verlangen konnte. Er hatte seine Schuldigkeit getan, mehr musste er nicht tun. Seine Pflicht war es, nach Hause zu seiner Frau zu gehen.

 Marty hörte das Klicken. Das Dirty-Harry-Klicken. Das Geräusch kam geradezu aus seinem Unterbewusstsein. Er wusste, was es war, aus fiktionaler Erfahrung, schon sein ganzes Leben lang. Obwohl noch nie zuvor jemand eine Pistole auf ihn gerichtet und den Hahn gespannt hatte, hatte er es so oft im Fernsehen gehört, dass er das Geräusch instinktiv erkannte.

 »Noch einen Schritt, Arschloch, und ich knall’ dich ab«, sagte Buck hinter ihm.

 Marty hielt an und schaute über seine Schulter. Jawohl, Buck zielte tatsächlich zum zweiten Mal an diesem Tag mit seiner Knarre auf ihn. Hinter Buck fuchtelte der Mexikaner mit seinen Händen herum und produzierte quasselnd eine verzweifelte Sturzflut unverständlichen Spanischs, offensichtlich besorgt, fürchterlich missverstanden zu werden.

 Marty sprach langsam und deutlich.

 »Ich habe das schon einmal mitgemacht, Buck. Darum ging mein Rucksack in Flammen auf. Ich bin gerade noch davongekommen. Du willst ein Held sein? Dann los. Ich hoffe, du überlebst es, aber ich kann es nicht noch einmal riskieren. Ich muss es nach Hause schaffen, für meine Frau. Das ist meine moralische Pflicht. In Ordnung?«

 Doch Marty erhielt keine Antwort von Buck, und er wollte verdammt sein, wenn er jetzt anfinge, darüber zu streiten. Also ging Marty einfach los.

 Und Buck schoss.

 Marty hörte den unglaublich lauten Pistolenknall im selben Moment, als er den glühend heißen Schlag in seiner Schulter spürte, der ihn herumwirbelte und von den Füßen riss.

 Seine Schulter brannte. Er berührte den blutigen Riss in seiner Jacke, und während seine Ohren immer noch klingelten, starrte er ungläubig zu Buck hoch. »Du hast auf mich geschossen?«

 »Ich hab dich gestreift«, sagte Buck. »Sei nicht so ein Weichei.«

 Martys Wut übertrumpfte seinen Schmerz. »Du hast niemanden, es ist völlig egal, ob du bei dem Versuch, jemanden zu retten, verreckst. Es gibt niemanden, der auf dich wartet, niemanden, der auf dich angewiesen ist.«

 »Doch, dieses Kind«, sagte Buck. »Schau dich doch mal um, Arschloch. Du bist am Leben. Du hast zwei gesunde Arme und zwei gesunde Beine. Deine verdammte Pflicht ist es, jedem zu helfen, den du siehst, ob du willst oder nicht. Du hast die Wahl. Du kannst als Held sterben bei dem Versuch, dieses Kind zu retten, oder du kannst als Feigling sterben, genau hier und jetzt. Es liegt ganz bei dir.«

 Marty schaute hoch zu dem Auto, das in der leichten Brise knarzte, dann zu dem blutigen Klumpen auf dem Asphalt. In einigen Minuten könnte er, wenn er nachgab, genauso daliegen. Nur mit einem Auto und womöglich der ganzen Überführung auf ihm drauf. Selbst die Obdachlosen waren schlau genug gewesen, unter der angeknacksten Brücke abzuhauen, und hatten ihre von Flöhen bewohnten Matratzen, stapelweise verdreckte Decken und Plastiktüten voll mit Müll zurückgelassen.

 Die bröckelnde Brücke, das hin- und herschwankende Auto, das waren Todesfallen. Dieser Rettungsversuch, ohne die nötige Ausrüstung oder Erfahrung, war Selbstmord.

 Es war wie all die Geschichten, die er in der L. A. Times gelesen hatte, die Geschichten über Leute, die ertrunken waren bei dem Versuch, jemanden zu retten, der im Eis eingebrochen oder von einer heftigen Strömung unter Wasser gezogen worden war. Statt dass eine einzige unglückselige Person starb, opferten noch dazu drei oder vier Möchtegern-Retter unweigerlich ihr Leben.

 Diese Geschichten, vergraben in der hintersten Ecke der letzten Seiten, empfand Marty immer als traurig, tragisch und dumm. Er gefiel sich bei dem Gedanken, dass er, käme er in eine solche Situation, sich für sein Überleben zu entscheiden verstünde statt für blindes Heldentum, egal wie quälend diese Entscheidung auch sein möge.

 Doch er war noch nie in einer solchen Situation gewesen.

 Er hatte auch noch nie mit einer Pistole auf der Brust eine Entscheidung treffen müssen.

 Es änderte die Sachlage.

 »Nimm die Knarre weg«, sagte Marty.

 Buck hielt weiter drauf.

 »Nimm die Scheißknarre weg!«, brüllte Marty. »Ich kann so nicht nachdenken.«

 »Es gibt nichts nachzudenken.«

 »Hast du einen Schimmer, wie du das Kind da rausbekommen willst, ohne den Wagen über die Kante kippen zu lassen? Hast du, du verdammter Psychopath?« Marty starrte ihn und den ausdruckslosen Blick in seinem Gesicht an. »Wahrscheinlich nicht.«

 Buck steckte die Waffe ins Holster. »Du hast ein Stück Seil in deiner Tasche. Wir lassen dich runter.«

 »Erstens ist dieses Seil dafür gedacht, ein Bündel Kabel zusammenzuschnüren, es ist nicht stark genug, um einen Mann zu halten«, sagte Marty. »Und zweitens, warum bin ich der Glückliche?«

 »Weil du der Leichteste von uns dreien bist«, sagte Buck. »Und selbst wenn nicht, du hast ’ne Kugel im Arm.«

 »Du hast gesagt, es war ein Streifschuss.«

 »Hör auf, so ein Weichei zu sein«, sagte Buck.

 Marty blickte wieder zu dem schwankenden Auto, dann auf den Asphalt und den darauf verspritzten Körper. Seine Augen wanderten von der Leiche zu dem versifften Deckenstapel, und er erinnerte sich an etwas, das er eines Nachts auf Cinemax gesehen hatte, einen dieser Frauen-im-Gefängnis-Softpornos. Die vollbusigen, sexuell unternehmungslustigen Sträflinge flüchteten mithilfe von Bettlaken. Es war kein besonders sicheres Gefängnis und die Wachen waren nicht allzu helle, aber die Mädchen waren ziemlich einfallsreich und ihr Vorgehen einwandfrei.

 Marty hielt seine blutende Schulter umklammert und stand auf. »Ich habe eine Idee. Du wirst noch ein paar Leute finden müssen, die mit anpacken.«

 13:30 Uhr. Dienstag.

 Der Gestank der mit Urin gestärkten Decken, die er sich um die Brust gebunden und unter die Achseln geklemmt hatte, war überwältigend. Wenn Marty nicht abstürzte, würde der Geruch ihn umbringen.

 Die Decken des Penners waren an den Enden zusammengeknotet und fest mit Martys Seil umwickelt. Die Vorrichtung schleifte einige Meter hinter ihm über den Boden bis zu der Stelle, wo Buck, Enrique und ein halbes Dutzend weiterer Überlebender das andere Ende festhielten, als würden sie sich zum Tauziehen aufstellen.

 Marty stand am Rande des Abgrunds, neben dem Toyota, und sammelte seinen ganzen Mut zusammen. Die Zecken, Flöhe und Läuse waren wahrscheinlich schlau genug, die Decken spätestens jetzt zu verlassen. Sinnlos, wegen diesem Idioten einen Absturz zu riskieren, der Eingesperrte Partyschlampen mit einem Unterrichtsvideo über innerstädtische Rettungsaktionen verwechselte.

 »Wir sind so weit«, rief Buck.

 »Ich nicht«, murmelte Marty, während er sich die eng anliegenden, ledernen Arbeitshandschuhe über die Hände streifte.

 Das Auto hing an einem einzigen Hinterrad und wurde lediglich durch ein paar Stücke verbogenen Bewehrungsstahls an Ort und Stelle gehalten. Er konnte das Kind nicht sehen – das Auto war zu weit nach vorne gekippt –, aber er konnte es vor Angst wimmern hören.

 Marty hatte keine Ahnung, was er tun sollte, außer nicht nach unten zu schauen. Er drehte sich zu den Männern um, die das Seil festhielten, Fremde, die er vor einer Stunde noch nicht gekannt hatte und die er auch jetzt nicht kannte. Er vertraute ihnen und einem behelfsmäßigen Seil aus einem Dutzend dreckiger Decken sein Leben an.

 »Seid ihr sicher, dass ihr mich halten könnt?«, fragte Marty.

 »Noch zwei Sekunden und ich schubse dich«, sagte Buck. »Hör auf, Zeit zu schinden. Das Auto hält nicht mehr lange.«

 Marty atmete tief durch und bewegte sich bis ganz an die Kante. Es war ein tiefer Abgrund. Wenn er abstürzte, waren seine Überlebenschancen gleich null.

 »Scheiße«, flüsterte er und setzte sich hin.

 Er hielt sich an zwei Stahlteilen fest und rutschte über die Kante, Betonstückchen lösten sich, fielen ins Nichts und zerschellten unten auf der Straße.

 Scheiße. Scheiße. Scheiße.

 Marty rutschte noch ein Stückchen weiter, bis seine Beine über den Rand baumelten. Bald würde es überhaupt nichts mehr geben, woran er sich festhalten konnte.

 »Habt ihr mich?«, rief er.

 »Beeil dich, scheißenocheins«, knurrte Buck.

 Marty ließ den Bewehrungsstab los und fiel, schreiend. Die Decke schnitt in seine Achseln und riss ihm mit einem Ruck die Schultern nach oben gegen den Hals. Doch sie hielt und stoppte seinen Fall, wenn auch sein Handy aus der Tasche geschleudert wurde. Marty baumelte kreiselnd neben dem Auto und machte den Fehler, in dem Moment nach unten zu schauen, als sein Handy auf dem Asphalt zerschellte.

 Oh Gott.

 Er würde nicht nur sterben, er konnte jetzt nicht einmal mehr jemanden anrufen, um Bescheid zu sagen.

 Er streckte die Hand aus und bekam das Auto zu fassen, um sein Kreiseln zu stoppen, und da sah er das Kind. Es hing angeschnallt im Vordersitz, mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen und ausgestreckten Armen, sodass seine Hände flach gegen das Armaturenbrett drückten. Das Kind war schwarz, vielleicht sechs oder sieben Jahre alt. Es starrte Marty an, als sei er eine riesige, böse Spinne, die außen am Fenster hing.

 »Ganz ruhig«, sagte Marty. »Beweg dich nicht von der Stelle.«

 Als ob das Kind irgendwohin gehen würde. Etwas Blöderes hätte er nicht sagen können. Doch Marty fiel nichts anderes ein. Er war sich nicht einmal sicher, wie er das Kind da herausholen sollte, ohne dass das Auto abkippte. Die Tür zu öffnen war vermutlich zu riskant. Die ganze Sache könnte zu plötzlich ins Rutschen geraten.

 »Wie heißt du?«

 »Franklin!« Der Junge schrie es fast.

 »Okay, Franklin, wir machen das jetzt folgendermaßen. Du kurbelst das Fenster herunter.«

 Der Junge schaute ihn an und schüttelte den Kopf, seine Zähne klapperten vor Angst. Auf gar keinen Fall, nicht für diesen Typen.

 »Du musst«, sagte Marty, und seine Stimme überschlug sich fast vor Angst. Wenn er darauf baute, den Jungen durch seinen eigenen Mut zu überzeugen, konnte er es auch gleich sein lassen.

 Das Kind schüttelte einfach weiter den Kopf. »Nein!«

 »Hör zu, Junge, ich weiß, dass ich aussehe wie der letzte Idiot und Hosenscheißer. Ein Trottel in einem Haufen dreckiger Decken. Du denkst, du lässt es lieber da im Auto darauf ankommen.« Dem Ausdruck auf Franklins Gesicht nach zu urteilen, hatte Marty den Jungen richtig gelesen. »Aber Franklin, die Wahrheit ist, das Auto wird abstürzen, und du wirst sterben. Möglicherweise stirbst du auch bei dieser Aktion, aber dann wirst du wenigstens versucht haben, dich zu retten.«

 Das Kind schaute ihn an, dann schaute es nach vorne, durch die zerbrochene Windschutzscheibe auf den Boden weit unten. Marty wusste, worüber er nachdachte. Er selbst dachte auch darüber nach.

 »Was würde er von dir erwarten?«, fragte Marty.

 Die Decke verrutschte etwas, und weitere Betonstücke lösten sich. Marty stieß einen unkontrollierten Schrei aus und griff in die Leere um sich herum.

 »Lass den Scheiß!«, schrie Buck von unten.

 Etwas in Bucks Stimme, vielleicht die Heftigkeit oder der Zorn, musste wohl etwas in ihm bewirkt haben, denn Franklin kurbelte langsam das Fenster herunter. Der Wagen schwankte und ächzte, als er ein wenig sein Gewicht verlagerte. Marty griff behutsam durch das offene Fenster und hielt die Tür fest, um sich zu stabilisieren. Er konnte sehen, dass Franklin sich in die Hose gemacht hatte. Marty nahm es ihm nicht übel.

 »Okay, pass auf, wie wir das jetzt machen. Du schnallst dich los, hältst dich an meinem Arm fest, und ich werde dich ganz langsam herausziehen.«

 Franklin starrte ihn an. »Ich kann nicht.«

 »Du musst, Franklin«, sagte Marty. »Ich werde dich nicht fallen lassen, ich verspreche es.« Er hoffte, es war ein Versprechen, das er würde halten können. Seine Gedanken sprangen unvermittelt und unkontrolliert zu dieser entsetzlichen Anfangsszene in »Cliffhanger«.

 Franklin musste den Rest Zweifel in Martys Augen gesehen haben. »Ich will auf die Feuerwehrmänner warten.«

 Sie verloren wertvolle Sekunden. Und je länger Marty so herumbaumelte, desto mehr Angst bekam er. Das bisschen Entschlossenheit, das er hatte, ließ schnell nach, genauso wie die Kräfte der Männer, die ihn hielten. Marty stellte sich vor, was die Zuschauer im Gegensatz zu ihm sehen konnten, die lockeren Knoten, die langsam aufgingen, die Decke, die an der scharfen Betonkante einriss. Und alle würden schreien, warum tut der gottverdammte Vollidiot nicht irgendetwas?

 »Franklin, es gibt keine Feuerwehrmänner. Es wird nie mehr irgendwelche Feuerwehrmänner geben. Ich bin die Feuerwehr. Und jetzt nichts wie raus aus diesem verfluchten Auto.«

 Das Kind fing wieder an zu weinen, doch es löste den Gurt und fiel umgehend nach vorne gegen das Armaturenbrett. Aufgrund der Gewichtsverlagerung schwankte das Auto plötzlich vor und zurück. Marty griff ins Innere, packte Franklin an der Rückseite seines T-Shirts mit beiden Händen und zog ihn mit aller Kraft in genau dem Moment heraus, als der Toyota vornüber in den freien Fall stürzte.

 Franklin baumelte an Martys Händen, sein Shirt rutschte am Körper hoch und seine Beine strampelten im leeren Raum, während der Wagen sich der Länge nach überschlug und unten auf den Boden krachte. Marty und der Junge schrien nun beide in panischer Angst, während sie da in der Luft hingen und sich um sich selbst drehten.

 Himmel, war der Junge schwer. Marty hatte noch nie etwas so Schweres gehalten, es fühlte sich an, als würde das Kind ihm die Arme aus den Gelenken reißen und dabei Sehnen zerfetzen und Muskeln sprengen. Er würde ihn unmöglich auch nur eine Sekunde länger halten können.

 Der Junge packte Marty und umklammerte ihn fest, er presste sein Gesicht gegen Martys Beine und erstickte seine Schreie. Doch Marty schrie laut und heftig aus Leibeskräften, er schrie für zwei.

 Buck und Enrique zogen die beiden hoch auf die Überführung und noch ein paar Schritte weiter von der Kante weg, bevor sie losließen. Der Junge machte sich von Marty los, sobald sie in Sicherheit waren, und rannte schluchzend davon. Enrique jagte ihm hinterher, erwischte ihn und zog ihn behutsam in eine Umarmung.

 Marty setzte sich auf und riss sich, so schnell er konnte, die pissegetränkten Decken vom Leib. Buck reichte ihm seine Hand. Marty wischte sie beiseite.

 »Geh mir aus der Sonne«, sagte Marty und kam schwankend auf die Beine. Er schlotterte am ganzen Körper. Buck streckte noch einmal seine Hand nach ihm aus, und Marty schlug ihm mit der Faust ins Gesicht.

 Es war kein richtiger Fausthieb, kaum mehr als ein Klaps, um ehrlich zu sein. Seine Faust zitterte zu stark, um echte Kraft zu entwickeln. Doch es war das erste Mal seit der dritten Klasse, dass Marty jemandem eine verpasst hatte. Seine pugilistischen Fähigkeiten hatten sich seither keinen Deut verbessert.

 Marty war von dem Schlag genauso überrascht wie Buck, doch er bereute ihn nicht. Marty war noch nie so wütend oder so voller Angst gewesen.

 Es wäre für Buck ein Leichtes gewesen, Marty mit einem Gegenschlag plattzumachen. Stattdessen grinste der große Mann nur.

 »Wer hat dir denn das Kämpfen beigebracht? Der gleiche Clown, der dir gezeigt hat, wie man rennt?«, sagte Buck. »Das muss sich ändern, wenn du diesen Heldenscheiß weiter durchziehen willst.«

 »Ich will kein Held sein«, schrie Marty ihn an. »Ich würde gerne leben.«

 »Immer mit der Ruhe. Jetzt, wo du es schon einmal getan hast, wird es das nächste Mal leichter gehen.«

 »Ich gehe nach Hause!« Marty fand seine Tasche und schulterte sie. »Und ich halte für niemanden an, hast du mich verstanden?«

 Buck ging auf ihn zu. »Wir werden sehen.«

 Marty zeigte mit dem Finger auf Buck und wich zurück. »Halt dich verdammt noch mal fern von mir, du durchgeknallter Hurensohn.«

 »Wir gehen in die gleiche Richtung.«

 »Ich gehe alleine«, sagte Marty. »Ich will dich nie wiedersehen.«

 Buck schaute Marty an, ehrlich verblüfft. »Warum bist du denn so angepisst?«

 Marty traute seinen Ohren nicht. Was genau kapierte der Typ nicht?

 »Du hast auf mich geschossen«, schrie Marty. »Du hast mich in vollgepisste Decken gewickelt und von der Abrisskante einer eingestürzten Überführung baumeln lassen!«

 »Der Teil war deine Idee. Und was spielt das jetzt noch für eine Scheißrolle? Du hast dem Jungen das Leben gerettet.«

 Ja, das hatte er.

 Marty drehte sich um und blickte zu Franklin, der immer noch weinend in Enriques Armen hing, in den Armen eines völlig Fremden. Der Albtraum war vorbei. Dank Marty Slack.

 Er hatte tatsächlich ein verängstigtes Kind aus einem Auto gepflückt, das über einem drei Stockwerke hohen Abgrund wippte.

 Heilige Scheiße.

 Vielleicht steckte ja am Ende doch ein kleiner Charlton Heston in ihm.

 Marty spürte, wie sich ein Lächeln des Stolzes auf seinem Gesicht ausbreitete, und unterdrückte es schnell, sich ins Gedächtnis rufend, dass er wütend war. Rasend. Völlig aus der Fassung.

 Er hat auf dich geschossen. Er hat dich mit der Knarre dazu gezwungen. Du hättest umkommen können! Der einzige Grund, warum du noch am Leben bist, ist reines Glück. Was meinst du, wie viel du davon noch übrig hast?

 Der finstere Blick kehrte zurück. Er drehte sich um, um Buck die Stirn zu bieten.

 »Ich hätte genauso gut tot sein können, nur weil du mir eine Knarre an den Kopf gehalten und mich dazu gezwungen hast, diesen dummen, selbstmörderischen Stunt hinzulegen«, sagte Marty. »Du bist ein gemeingefährlicher, irrer Neandertaler. Ich will dich nicht in meiner Nähe haben, kapiert? Geh weg. Bring jemand anderen um.«

 Marty drehte sich um und marschierte davon, an Enrique und Franklin vorbei, ohne sie anzusehen. Er wollte nicht noch tiefer in die Probleme des Jungen mit hineingezogen werden, und in Enriques übrigens auch nicht. Das Einzige, was er wollte, war nach Hause gehen und so viele Meilen zwischen sich und diesen ganzen Scheiß bringen, wie er konnte.

 »Bleib stehen oder ich schieße«, sagte Buck.

 Ohne zurückzublicken, zeigte Marty Buck den Finger und ging einfach weiter.

 


 KAPITEL FÜNF

 Auf der Stelle treten

 14:20 Uhr. Dienstag.

 Marty wanderte über die Glendale Avenue Richtung Westen und hielt sich fern von der Überführung zu seiner Linken.

 Es war schon mitten am Nachmittag und er hatte erst drei oder vier Meilen geschafft, seit er losgegangen war. Doch Marty fühlte sich, als wäre er schon hundert Meilen gewandert. Jedes Gelenk seines Körpers pochte vor Schmerz. In diesem Tempo würde er Tage brauchen, um nach Hause zu gelangen.

 Er blickte nach rechts. Er ging gerade an einem nüchternen, fensterlosen weißen Bau vorbei, der aussah wie ein Mausoleum. Vielleicht war es das auch einmal gewesen. Ein Schild unterhalb des Flachdachs besagte »Bob Baker’s Marionettentheater«, das zurzeit ein Programm namens »Die Welt ist voller Musik« zeigte.

 Marty hatte noch nie von dem Etablissement gehört und wunderte sich, wer sich wohl die Mühe machte, in diese gottverlassene Gegend zu kommen, um sich ein solch archaisches Unterhaltungsprogramm zu Gemüte zu führen. Welches Kind würde eine Puppe an Fäden seiner Playstation, dem Internet oder einem Blockbuster mit digitalen Effekten auf DVD vorziehen? Sich eine Show im Marionettentheater anzuschauen, machte in Martys Augen so viel Sinn wie sich in einer Höhle zu versammeln, um einem Steinzeitmenschen dabei zuzusehen, wie er Strichmännchen auf Stein kratzt.

 Er war so sehr damit beschäftigt, sich mit dem sinnlosen Sinnieren über die Irrelevanz des Puppenspiels in einer modernen Welt die Zeit zu vertreiben, dass er den obdachlosen, ein rostiges Steakmesser schwingenden Mann erst bemerkte, als er direkt vor ihm stand.

 Er sah aus, als hätte jemand die schorfige Visage des bärtigen Penners benutzt, um ein paar Hundert schmutziger Teller abzuwischen. Und er roch genauso wie Marty. Ein Urinal auf zwei Beinen.

 »Du hast meine Sachen geklaut«, zischte der Mann durch abgebrochene, faulige Zähne hindurch. »Ich hab dich gesehen.«

 Jetzt wusste Marty also, warum sie den gleichen Gestank verbreiteten. Die vollgepissten Decken gehörten diesem Typen mit einem Gesicht wie ein Topfreiniger.

 »Ich habe deine Decken nicht geklaut …«, begann Marty.

 »Ich hab dich gesehen«, unterbrach ihn der Penner. »Wichser.«

 »Ich habe sie nur ausgeliehen, um ein Kind zu retten. Du hast gesehen, wie ich das Kind gerettet habe, oder?«

 »Gib mir die Sachen«, wiederholte der Mann. »Ich will meine Sachen.«

 »Ich habe sie nicht«, antwortete Marty. »Sie liegen auf der Überführung. Du kannst sie dir gerne holen. Danke fürs Ausleihen.«

 »Wichser«, der Penner fuchtelte mit dem Messer in Martys Richtung, fast hätte er ihn dabei abgestochen. Marty machte einen Satz nach hinten und ging in Abwehrhaltung.

 »Hey, tut mir leid, dass ich deine Sachen ausgeliehen habe, ohne zu fragen, aber es ist alles noch da, gleich da oben auf der Überführung«, sagte Marty. »Ich brauchte sie, um das Kind zu retten. Wenn du gesehen hast, wie ich die Decken genommen habe, musst du das auch gesehen haben.«

 Der Penner studierte Marty mit den klebrigen, glasigen Augen eines Bluthundes. »Gib mir deine Sachen.«

 »Deine Decken sind da oben. Du musst sie dir nur holen.«

 »Gib mir deine Sachen.« Der Penner näherte sich der Sporttasche. »Ich will deine Sachen.«

 »Nein.«

 »Wichser!« Der Penner durchlöcherte die Luft zwischen ihnen mit dem Messer. »Gib mir deine Sachen oder ich stech’ dich ab.«

 Marty wusste, dass er das auch wahrmachen würde. Doch es stand absolut außer Frage, sein Überlebenspaket aufzugeben. Und erst recht nicht im Austausch gegen einen Stapel in Pisse getränkter Lumpen, die er nie hatte haben wollen. Nein, er würde sein Bündel nicht abgeben.

 »Du willst es haben?«, fragte Marty und ließ es von seinen Schultern gleiten. »Wunderbar, kannst du haben. Wichser.«

 Mit diesen Worten stürzte Marty sich auf ihn, wobei er die Sporttasche wie einen Schild frontal vor sich hielt. Marty warf sich genau auf des Penners Messer, das in der Tasche versank, ohne Schaden anzurichten.

 Der Penner taumelte überrascht zurück, und gerade als er realisierte, dass er seine Waffe verloren hatte, gab es einen lauten Knall und er schwenkte herum, als würde er von einem unsichtbaren Linebacker zur Seite geschubst.

 Marty brauchte einen Moment, um zu verstehen, was passiert war, um das Geräusch, den am Boden liegenden Penner und das Blut, das sich unter ihm zu einer Pfütze sammelte, sinnvoll zu kombinieren.

 Er war angeschossen worden.

 Marty wirbelte blitzschnell herum und sah, wie Buck auf ihn zukam, die Knarre lässig über die Schulter geworfen, ein dreistes Grinsen in seinem Gesicht. »Keine Bange, der Profi fackelt nicht lange.«

 »Was zum Teufel ist nur los mit dir?« Marty ließ augenblicklich seine Sporttasche fallen und kniete neben dem Penner nieder, der noch am Leben und halb bei Bewusstsein war, vor Schmerzen stöhnend. Er war an der Schulter verwundet.

 »Ich hab dir gerade das Leben gerettet«, sagte Buck, »du leichtsinniger Idiot.«

 »Ich hatte alles im Griff!« Marty riss das blutgetränkte Hemd des Mannes auf, der Geruch und die von Flöhen zerbissene Haut ließen ihn zurückweichen.

 »Du hast doch nicht mal deinen Pimmel beim Pissen im Griff.« Buck nahm sein Opfer in Augenschein.

 Marty drehte den Mann vorsichtig um und sah die Austrittswunde. Die Kugel war geradewegs durch ihn hindurchgegangen. Das war sein Glück, oder? Er hatte keine Ahnung. Scheiße!

 »Du kannst nicht hier herumrennen und Leute erschießen!«, schrie Marty ihn an.

 »Ich kann schießen, auf wen ich will und wann ich will«, antwortete Buck salopp. »Ich bin ein amtlich zugelassener Kopfgeldjäger. Außerdem war das gerade Selbstverteidigung.«

 »Er hat aber nicht dich bedroht«, schnaubte Marty. »Gib mir den Erste-Hilfe-Kasten aus meiner Tasche.«

 »Ich habe über deine Selbstverteidigung gesprochen, Arschloch.« Buck hob die Tasche auf. »Hat er dich nun mit einem Messer bedroht oder hat er nicht?«

 »Ich habe ihn entwaffnet!«

 »Deine Methode, ein Individuum zu entwaffnen, ist fast so beeindruckend wie deine Methode, jemandem einen Fausthieb zu verpassen«, prustete Buck und ließ die Tasche, in der noch das Messer steckte, verächtlich vor Martys Füße fallen. »Du müsstest eigentlich Anspruch auf eine Ausgleichszahlung wegen fehlender Männlichkeit haben.«

 Marty öffnete den Reißverschluss der Tasche, riss die Plastikverpackung des Erste-Hilfe-Kastens auf und blätterte hektisch durch die lächerlich kleine Beipackbroschüre. Bienenstiche, Blasen, gebrochene Arme – wo zur Hölle war das Kapitel über Schusswunden?

 Buck seufzte müde. »Was zum Teufel suchst du?«

 »Anweisungen!«, erwiderte Marty scharf. »Wie stoppe ich die Blutung?«

 »So, du Schwachkopf.« Buck riss den Penner hoch in eine sitzende Position, packte mit jeder Faust etwas Verbandsmull aus dem Erste-Hilfe-Kasten und presste sie auf beide Wunden. »Wo hast du eigentlich gelebt?«

 Marty schaute die beiden an – den gestörten Penner und den Amokläufer, der auf ihn geschossen hatte – und richtete sich langsam und mit wackeligen Beinen auf.

 »In einer anderen Welt«, sagte Marty, »und ich kann es kaum erwarten, dorthin zurückzukehren.«

 Er raffte seine Sporttasche mit einem der Riemen zusammen, zog das Steakmesser heraus und warf es so weit weg, wie er konnte. »Du kannst den Verbandskasten behalten. Du wirst ihn brauchen.«

 »Wo gehst du hin?«

 »Nach Hause. Hast du nicht zugehört?« Marty nahm eine frische Staubmaske aus seinem Rucksack, machte den Reißverschluss wieder zu und warf sich die Riemen über die Schultern. »Du bleibst hier und kümmerst dich um diesen Mann, bis Hilfe kommt.«

 »Einen Scheiß werde ich.«

 »Oh doch, Buck. Denn wenn das alles hier vorbei ist, werde ich der Polizei erzählen, was heute hier passiert ist, dass du kaltblütig auf ihn geschossen hast. Es liegt also in deinem eigenen Interesse, dass er nicht verblutet.«

 Buck schüttelte den Kopf. »So um die zwanzig-, dreißigtausend Menschen sind heute umgekommen. Glaubst du wirklich, es interessiert irgendjemanden, wie es einem dreckigen, obdachlosen Penner ergangen ist?«

 »Wir alle sind jetzt dreckige, obdachlose Penner, Buck.« Marty zog die Staubmaske über und justierte sie über Nase und Mund. »Und vergiss nicht, ihm seine Decken zurückzugeben. Er will sie unbedingt wiederhaben.«

 Und mit diesen Worten machte Marty sich erneut auf den Weg, begleitet von dem strengen Geruch von Schweiß, Schießpulver, Benzin und der Pisse eines anderen Mannes sowie dem von einem Dutzend Schürfwunden, unzähligen Prellungen und einer Gewehrkugel verursachten Schmerz. Im Gepäck die frischen Erinnerungen an eine tote Frau, einen verängstigten Jungen und einen obdachlosen Mann, der ein rostiges Steakmesser schwingt.

 Ein Morgen voller fürchterlicher Erfahrungen, die für ein ganzes Leben gereicht hätten, und er hatte es immer noch nicht hinter sich. Es schien kaum möglich. Es war mit Sicherheit nicht fair.

 Er wusste nicht, wie viel er noch würde verkraften können. Das Erdbeben und die extremen Schäden, die es angerichtet hatte, schienen immer noch weit weg, unwirklich, obwohl er selbst mitten hindurchlief. Doch all das hier, die Gerüche und Schmerzen, die er mit sich trug, waren viel zu persönlich und fast zu hässlich, um sie ertragen zu können. Er hatte nichts für Molly getan und sie dem sicheren Tod in der Feuerhölle überlassen. Wenigstens hatte er dieses Versagen mit Franklin wieder ausgeglichen.

 Er hatte diese große, gewagte Heldentat vollbracht. Den Rest dieser Katastrophe würde er aussitzen.

 Das Einzige, was Marty wollte, war, seinen Kopf klar zu kriegen, das Leid zu vergessen – sowohl das, dessen Zeuge er gewesen war, als auch das Leid, das er selbst verursacht hatte – und seinem Verstand eine Pause zu gönnen, bis er die heimische Türschwelle erreicht hatte.

 Sollte das nicht funktionieren, würde er sich auch mit nur einer Stunde innerer Ruhe zufrieden geben, einer Gelegenheit sich zu sammeln und vielleicht die Kraftreserven zu finden, die sich in einer dunklen Ecke seiner Seele versteckten. Vielleicht konnte er sie behutsam wieder aktivieren.

 All sein Unglück, all die Gefahren, in die er sich begeben hatte, konnten auf seine Unfähigkeit zurückgeführt werden, sich an seine eigenen Regeln zu halten. Das würde sich von nun an ändern.

 Marty bog in die 1st Street ein, die beim Anstieg auf der anderen Seite der Überführung zum Beverly Boulevard wurde. Zu seiner Linken war über die gesamte Länge eines Straßenblocks ein Wandbild auf die Schutzmauer gemalt worden, die den Grund und Boden des Fußballfeldes der alten Belmont High School zusammenhielt, wo sich jetzt Hunderte von verängstigten Kindern im Freien versammelt hatten.

 Er startete am Ende des Wandbildes, das die Entwicklung des Menschen darstellte. Es begann in der Zukunft und zeigte zunächst eine lächelnde, multiethnische Gruppe von Los Angelenos, die Hand in Hand in eine Die-Jetsons-artige Zukunft voller stromlinienförmiger Gebäude und fliegender Autos liefen. Während Marty weiter Richtung Westen ging, nahm ihn das Bild mit auf eine Reise in die Vergangenheit, vorbei an Indianercamps und Büffeln, Höhlenmenschen und Säbelzahntigern, bis zurück zu den Einzellern, die glücklich und unwissend in dreckigen Pfützen herumschwirrten, und der kosmischen Explosion, mit der alles begann.

 Beth saß rittlings auf ihm, ihre Hände flach auf seiner Brust, ihr Gesicht verkniffen vor Konzentration, und arbeitete zielstrebig ihrem Höhepunkt entgegen. Er mochte es, sie so zu sehen, mit geröteter, feuchter Haut, schweren Augenlidern, dem halb offenen Mund und den kleinen Brüsten, die mit den drängenden Bewegungen hin- und herschaukelten.

 Als sie den Punkt schließlich erreichte, sog sie scharf die Luft ein, ihre Kinnlade fiel herunter, und sie rieb sich noch hastiger an ihm, um dem Moment hinterherzujagen und ihn so lange wie nur irgend möglich nicht entkommen zu lassen; ihr ganzer Körper war unter Spannung, ihre Brustwarzen zu kleinen, harten Spitzen zusammengezogen.

 Dann griff er nach ihr und gab sich völlig dem Moment hin, denn für ihn war es keine Jagd, er war vielmehr auf verlorenem Posten, es war ein Kampf gegen eine immer stärker werdende Kraft, von der er wusste, dass sie ihn überwältigen würde, und genau das wollte er unbedingt.

 Beth brach schwer atmend auf seiner Brust zusammen, frischer Schweiß auf ihrem Rücken. Max klopfte aufgeregt mit seinem Schwanz auf den Hartholzboden, fast wie ein Publikum, das vor Begeisterung mit den Füßen aufstampfte. Der Hund liebte es, wenn sie Liebe machten. Er lag da, mit dem Kopf auf einem Stapel Drehbücher, und schaute ihnen zu wie ein wohlwollender Lehrer. Marty hasste es, wenn der Hund im Raum war, er fand es störend. Mehr als ein Mal hatte der verdammte Hund seine Nase im falschen Moment an die falsche Stelle gesteckt.

 »Wir können nicht ewig so weitermachen«, sagte sie heiser.

 »Warum nicht?«, flüsterte er zurück und küsste ihren Kopf.

 »Weil es zwei Uhr nachmittags ist, an einem Donnerstag. Wir sollten bei der Arbeit sein.«

 »Das bin ich«, sagte er. »Je tiefer ich unsere Beziehung erforsche, desto tiefer ist auch mein Verständnis für die Charaktere, die ich entwickle.«

 »Das ist doch Schwachsinn.« Sie zwickte ihn spielerisch.

 »Klar ist es das«, lächelte er zurück. »Das hier ist besser als Arbeit. Das ist genau das, was die Leute gerne tun würden, wenn sie arbeiten.«

 Beth rutschte von ihm herunter, sodass sie auf ihrer Seite lag, ihm zugewandt und den Kopf in eine Hand gestützt. Ihre Sommersprossen wirkten noch dunkler danach, und sie verströmte diesen köstlichen Geruch nach Sex, genau wie er. Diesen Moment liebte er am meisten.

 »Es ist großartig, und ich liebe es auch. Aber wir müssen praktisch denken. Keiner von uns verdient Geld.« Sie fuhr mit dem Finger die Kontur seines Bauchnabels nach, verfolgte die Linie seiner Behaarung bis hoch zu seiner Brust. »Wenn es nicht noch meine Tantiemen aus der Captain-Crunch-Werbung gäbe, hätten wir die Miete diesen Monat nicht zusammengekriegt.«

 Warum musste sie jetzt darüber reden? Warum mussten sie überhaupt darüber reden? Die Miete war bezahlt, dieser Monat lag hinter ihnen. Mit dem nächsten Monat würden sie sich befassen, wenn es so weit war.

 »Es wird sich etwas ergeben«, sagte Marty. »Du kriegst eine Serie oder einen großen Film, ich werde eines meiner Drehbücher verkaufen. Wir schaffen das.«

 Sie küsste ihn, hart und verzweifelt, auf die Lippen, dann beugte sie sich nachdenklich über ihn. »Ich liebe dich und ich glaube an dich, aber wir müssen ehrlich sein.«

 »Okay.«

 »Du hast keines deiner Drehbücher zu Ende gebracht«, sagte sie, fast schuldbewusst.

 »Ich weiß, wie man eine gute Geschichte erzählt.« Marty setzte sich auf und drehte ihr den Rücken zu. »Es fällt mir nur ein bisschen schwer, sie zu schreiben. Ich kriege das hin.«

 Sie legte die Arme um ihn und drückte sich gegen seinen Rücken. »Ich weiß, aber bis dahin solltest du vielleicht darüber nachdenken, etwas anderes zu tun.«

 »Ich bin Autor.«

 »Aber du kannst pro Drehbuch 75 Dollar verdienen, als Lektor für die Studios«, sagte sie. »Vielleicht könntest du für eine Weile weniger schreiben und dafür mehr lesen.«

 Monatelang hatte er ihr Einkommen mit dem Lesen von Drehbüchern und dem Schreiben von Lektoraten für Produzenten aufgestockt, die zu beschäftigt waren, um die Stapel der eingesandten Drehbücher und Konzepte selbst zu lesen. Diesen Müll zu lesen verstärkte nur noch seine Frustration über seine Unfähigkeit, ein eigenes Drehbuch zu Ende zu bringen. Er wusste, dass er besser schreiben konnte als diese Idioten. Was ihm Angst machte, war, dass selbst wenn er es schaffte, ein Drehbuch zu vollenden, irgendein anderer frustrierter Autor, ein anderer »freiberuflicher Lektor«, derjenige sein würde, der ein Urteil über ihn fällen würde. Und er wusste aus eigener Erfahrung, wie kleinlich und rachsüchtig die sein konnten.

 »Du bist gut darin«, sagte sie.

 »Im Lesen«, sagte er. »Ich bin gut darin, das Drehbuch von jemand anderem zu lesen. Ich kann zwar keins schreiben, aber ich bin verdammt gut darin, welche zu lesen. Wow. Na, das ist ja mal ein beachtliches Talent.«

 »Aber du weißt, wie man Drehbücher verbessert, ich habe deine Lektorate gelesen«, sagte sie. »Du könntest aus einem lausigen Buch einen großartigen Film machen.«

 »Aus dem Buch eines anderen.«

 »Das ist wirklich ein Talent, Marty. Das können nicht viele Leute.«

 »Die meisten Leute in dieser Stadt tun genau das: anderen Leuten sagen, wie gut oder schlecht ihre Drehbücher sind, weil sie selbst nicht schreiben können.«

 »Ich meine doch nur, vielleicht solltest du es mal für eine Weile in Vollzeit versuchen, bis der Knoten geplatzt ist, den du im Kopf sitzen hast.«

 »Du glaubst nicht daran, dass ich es schaffe«, sagte Marty, während er mit seinem Ehering rumspielte. Nach fast einem Jahr hatte er sich immer noch nicht daran gewöhnt. »Du findest nicht, dass ich schreiben kann.«

 »Ich finde, wir müssen Geld verdienen. Ich denke, wenn wir uns nicht so viele Sorgen machen müssen, ob wir die Miete zusammenkriegen, wird es dir vielleicht leichter fallen, kreativ zu sein. Du wirst nicht so sehr unter Druck stehen.«

 Das machte durchaus Sinn, das konnte er nicht abstreiten. Ihm war sehr bewusst, dass sie die Hauptverdienerin war, dass sie seine langen Nachmittage finanzierte, an denen er auf einen leeren Computerbildschirm starrte. Kreativ gesehen, bremste ihn das aus. Der Wind bremste ihn aus. Ein Buch, das im Regal aus der alphabetischen Ordnung tanzte, bremste ihn aus. Es schien, als bremste ihn alles aus.

 Die Wahrheit war, dass er ein Angebot erhalten hatte. Von einem der Sender. Eine Einstiegsposition in der Entwicklungsabteilung, den ganzen Tag Drehbücher lesen. Er hatte ihr nichts davon erzählt, weil er wusste, sie würde wollen, dass er es annähme.

 »Ich liebe dich, Marty. Und ich will, dass du glücklich bist und deine Träume verwirklichen kannst.« Sie drehte seinen Kopf zu sich her und gab ihm einen Kuss. »Ich sag doch nur, es ist eine Option, das ist alles.«

 Er nickte.

 Beth küsste ihn noch einmal, stand auf und tappte nackt den Flur hinunter zur Küche. Gott, er liebte es, sie nackt herumlaufen zu sehen, mit dieser Selbstverständlichkeit. Wie hatte er es nur geschafft, sie zu verführen? Wie hatte er sie nur dazu gebracht, sich in ihn zu verlieben?

 Das schwache Grollen schien aus großer Entfernung auf sie zuzurasen, kam jedoch im Handumdrehen bei ihnen an, unerwartet und doch vertraut. Das ganze Haus erzitterte, und schon war alles wieder vorbei, außer Beths Kreischen. Sie rannte ins Schlafzimmer, hechtete auf das Bett und kletterte an Marty hoch, klammerte sich so fest an ihn wie nie zuvor.

 »Was war das?«, rief sie, am ganzen Körper zitternd.

 »Nur ein Erdbeben.«

 »Wie meinst du das, nur ein Erdbeben«, sagte sie. »Heilige Scheiße.«

 »Alles ist gut.« Nicht einmal der Hund ließ sich aus der Ruhe bringen, er gähnte und streckte sich quer über Martys Unterwäsche und Socken aus.

 »Marty, das ganze Haus hat gewackelt, der Boden hat sich bewegt. Nichts ist gut.«

 »Ist doch nur ein Erdbeben«, sagte er, »3,4. Höchstens.«

 »Der Boden hat sich bewegt, Marty. Scheiße. Der Boden hat sich bewegt.« Sie begann zu weinen, schluchzte vor Angst und verbarg ihr Gesicht an seiner Brust wie ein verschrecktes Kind. Einen Moment lang war er verwirrt; er verstand einfach nicht, warum ihr eine leichte Erschütterung so große Angst eingejagt hatte.

 Und dann dämmerte es ihm und er schämte sich vor sich selbst dafür, dass er es nicht gleich begriffen hatte. Was war er nur für ein Ehemann?

 Dies war ihr erstes Mal. Sie hatte noch nie zuvor ein Erdbeben erlebt.

 Wie hatte er nur so herablassend sein können? So herzlos? Er hielt sie fest, schuldbewusst, und küsste sie, streichelte ihr Haar, übertrieb es. »Alles in Ordnung. Alles wird gut; es war nur ein ganz kleines. Alles ganz normal.«

 »Der Boden hat sich bewegt«, schniefte sie. »Das ist nicht normal.«

 »Ich weiß.«

 Beth war im Staat Washington geboren und aufgewachsen, und wegen der UCLA, wegen Hollywood nach Kalifornien gezogen. Sie war nicht hier geboren und mit dem regelmäßigen Gepolter aufgewachsen, mit der allgegenwärtigen Gefahr des unausweichlichen, mythischen, schrecklichen Großen Bebens.

 Das war eine Vorstellung, die er sicher nicht gerade jetzt mit ihr teilen würde.

 »Wir können nicht an einem Ort leben, wo der Boden sich bewegt«, sagte sie. »Wir müssen weg von hier, wir müssen hier raus. Irgendwohin, wo … wo … der Boden am Boden bleibt.«

 »Wir können es uns momentan nicht leisten, woandershin zu gehen«, sagte er sanft.

 »Sobald wir das Geld haben, gehen wir«, schniefte sie, hob ihren Kopf und schaute ihm in die Augen. »Versprochen?«

 »Ich besorge mir morgen einen Lektoratsjob.« Er küsste sie und zog sie wieder zu sich herunter, wissend, dass sie es in ein, zwei Tagen vergessen haben würde.

 »Es ist nicht normal, dass der Boden sich bewegt«, sagte sie noch einmal.

 Es hatte seither weitere Erdbeben gegeben, doch wie die meisten Leute, die für eine Weile in L. A. lebten, hatte sie sich daran gewöhnt. Und wie er es von ihr erwartet hatte, machte sie sogar Witze darüber, auf diese blasiert-gelangweilte Art der Kalifornier. Doch ihm machte sie nichts vor. Sie schaffte es nie so ganz, die Angst in ihren Augen zu verbergen. Marty fragte sich, wie ihre Augen wohl jetzt gerade aussahen, und beschleunigte seine Schritte.

 Es war lange her, seit er Beth das letzte Mal gesagt hatte, dass er sie liebte. Oh natürlich, er hatte es gesagt, auf diese mechanische »Guten Morgen, wie geht’s?«-Art. Doch er sagte es nicht mit Gefühl, nicht so, dass sie verstand, dass er sie dringender brauchte als Luft. Er wusste, dass er es zurückgehalten hatte, und er wusste nicht, warum. Und jetzt war es ihm wichtiger als je zuvor, dass sie wusste – ja, er liebte sie.

 Über ihm flog ein riesiger Schwarm Vögel Richtung Meer, für sie war die Welt unerschüttert, sicher. Die Luft würde sie nie im Stich lassen, würde nie unter ihren Flügeln wegsacken.

 Es ist nicht normal, dass sich der Boden bewegt. Jeder wusste das. Es war arrogant und mehr als nur ein bisschen dumm, an einem Ort zu bleiben, wo er genau das tat.

 Doch was wäre Hollywood ohne Arroganz und Dummheit? Man kann keine Träume fabrizieren, wenn man nicht bereit ist, selbst in einem zu leben.

 Willkommen auf der Kehrseite der Medaille, Arschloch.

 Jetzt, wo Buck weg war, war diese kleine Stimme wieder da; nicht, dass sie sich groß voneinander unterschieden hätten. Aber immerhin hatte diese hier keine Knarre.

 Du hattest ihr versprochen, dass ihr weggehen würdet, seid ihr aber nicht. Nur ein weiteres gebrochenes Versprechen in einem ganzen Haufen davon, habe ich nicht recht, Marty?

 Eigentlich wollte Beth L. A. gar nicht verlassen, jedenfalls nicht mehr als er auch. Ihre Karrieren fanden hier statt. Und je mehr Zeit zwischen den Beben lag, desto abstrakter wurde die Bedrohung.

 Jetzt war sie nicht mehr abstrakt.

 Nach Hause. Er musste nach Hause. Doch bei dem Tempo würde er eine Woche brauchen. Es war schon halb vier, und er war erst vier Meilen westlich der Innenstadt. Der Cahuenga-Pass lag etwa fünf Meilen in nordwestlicher Richtung. Er musste einen Zahn zulegen, sonst würde er es nicht ins Tal schaffen, bevor es dunkel wurde – und das Letzte, was er wollte, war hier zu sein, wenn die Sonne unterging.

 Seine Schulter pochte, sein Hemd klebte an der Schusswunde und wurde eins mit dem Schorf. Marty konnte spüren, wie an seinen Fersen Blasen wuchsen. Sein Körper war schweißgebadet, und er stank immer schlimmer, was er eigentlich nicht für möglich gehalten hätte, solange er noch nicht verweste. Er konnte sich nur ausmalen, wie übel der Gestank ohne den Schutz einer Atemmaske sein musste.

 Er ging entschlossenen Schrittes den Beverly Boulevard hoch, den hier wohl keiner mit seinem westlichen Ende verwechseln würde, das mitten durch Beverly Hills führte. Während der Boulevard dort mit exklusiven Boutiquen, schicken Restaurants und teuren Antiquitätengeschäften gepflastert war, war dieser Teil auf eine völlig andere Kundschaft ausgerichtet. Emilio’s Discountmarkt. Pepe Ranchero. Mercado Latino. Fleischerei Catalina. Nicht gerade die Art von Geschäften, die Marty für gewöhnlich in den Sinn kamen, wenn jemand den Beverly Boulevard erwähnte.

 Marty warf einen Blick in die Wohnstraßen, die vom Boulevard abzweigten. Die Straßen waren gesäumt von klassischen Häusern im viktorianischen, Craftsman-, English-Tudor- und spanischen Kolonialstil mit großen Vorgärten, die zwei Millionen Dollar und mehr einbringen würden, stünden sie in Beverly Hills, Hancock Park oder Pasadena. Doch diese Straßen waren vor langer Zeit der Welle von Einwanderern aus Mexiko, Südamerika und Asien überlassen worden, die nicht die Mittel hatten, um die Anwesen in ihrer ursprünglichen Bauweise und Anmut zu erhalten.

 Lange vor dem Erdbeben hatten Jahrzehnte der Vernachlässigung, wirtschaftliche Not und zerstörerische Neuerungen an diesen Häusern ihren Tribut gefordert. Welchen architektonischen Charme auch immer sie einmal gehabt haben mögen, längst war er vergitterten Fenstern und billiger Modernisierung, Maschendrahtzäunen und auf totem Rasen geparkten Schrottautos zum Opfer gefallen. Die ehemals eleganten Veranden waren mit alten Sofas und Pontiac-Autositzen zugemüllt oder mit Hühnerdraht umzäunt und zu Freiluft-Abstellkammern umfunktioniert worden.

 Martys Nachbarschaft in Calabasas würde niemals so enden. Es widersprach den Regeln der bewachten Wohnanlage. Anbauten oder Modernisierungen waren nicht erlaubt ohne die Genehmigung des architektonischen Komitees, das nie etwas genehmigte. Blumen, die ohne das Einverständnis des Landschaftskomitees gepflanzt wurden, wurden umgehend wieder aus dem Dreck gerupft. Autos, die nachts nicht in der Garage standen, wurden mit Knöllchen bestraft. Basketballkörbe, Wohnmobile und Boote waren verboten.

 So bewahrte man den Wert von Grundstücken. Bau eine Mauer drum herum und setze Komitees ein.

 Doch in diesem Viertel, nur wenige Meilen westlich der Innenstadt, fiel es Marty (außer in den Extremfällen) schwer zu unterscheiden, welche Schäden das Erdbeben den Häusern zugefügt hatte und was einfach offene Dauerwunden waren.

 Egal, in welchem Stadium des Verfalls oder wie beschädigt die Häuser auch waren, jetzt hatten sie eines gemeinsam: Sie standen alle leer. Ganze Familien waren aus ihren Häusern auf die Straße geflüchtet, ihre Fernseher und Stereoanlagen, Matratzen und Klamotten, Kühlboxen und Lehnstühle im Schlepptau, und schlugen in den Vorgärten ihre Lager auf. Sie bauten improvisierte Hütten, indem sie Laken, Mülltüten und Tischdecken von den Dächern ihrer Autos bis zu den Maschendrahtzäunen spannten und die Gehwege darunter mit Bettzeug auslegten.

 Marty wandte seinen Blick ab, aus Angst, er könnte von einem der traurigen Augenpaare in diesen schäbigen Unterkünften erwidert werden, und er wollte hier ganz sicher nicht in irgendetwas hineingezogen werden.

 Die Leute fielen bereits über die wenigen kleinen, vom Erdbeben verwüsteten Mercados und Supermercados entlang des Boulevards her, durchwühlten die Trümmer und suchten in den mit verschütteten und umgefallenen Waren übersäten Regalreihen nach heil gebliebenen Konservendosen und Wasserflaschen.

 Als er an den Läden vorbeiging, war er überrascht zu sehen, dass die Leute sich trotz ihrer Verzweiflung und Angst immer noch pflichtbewusst an den Kassen anstellten, um das, was sie gefunden, erkämpft und ihren Nachbarn aus den Händen gerissen hatten, zu bezahlen.

 Marty teilte ihre Verzweiflung nicht, er hatte noch genug Essen und Wasser in seinem Beutel, um es bis nach Hause zu schaffen, wo er und Beth reichlich Lebensmittel auf Vorrat gebunkert hatten.

 Einen kurzen und befriedigenden Moment lang fühlte sich Marty noch einmal so, als hätte er mit seinem kühlen Kopf und der erstklassigen Vorbereitung das Erdbeben bezwungen. Das einzige klitzekleine Problem war der Weg nach Hause. Doch in einigen Stunden würde auch dieser hinter ihm liegen, und er würde die Situation fest im Griff haben.

 Das Wichtigste war jetzt, aus seinen jüngsten Fehlern zu lernen und sich an seinen Plan zu halten. Nur daran zu denken, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Nur an Beth zu denken und daran, wie viel dringender sie ihn brauchte als jeder, der ihm unterwegs begegnete.

 Direkt vor ihm, wo der Boulevard eine Kurve beschrieb, konnte Marty eine Säule schwarzen Rauchs sehen. Beim Näherkommen erkannte er einen Riss im Asphalt, und ein Geysir aus Feuer schoss daraus empor, Flammen peitschten an die Gebäude auf beiden Seiten der Straße. Das Einzige, was von einer der schwelenden Gebäudestrukturen noch übrig war, war das schrullige Schild im Retrolook – eine lächelnde Comicfigur im Smoking, die mit erhobenem Finger eine Kakerlake tadelte und das Insekt so von dem hinter dem Rücken versteckten Hammer ablenkte.

 Die Figur wirkte so vertraut. Er versuchte, das Bild einzuordnen, als ein toter Vogel vor seinen Füßen auf die Straße knallte. Marty schaute nach oben und sah zwei weitere Vögel genau auf ihn zu rauschen.

 Er sprang zur Seite, aber es war zwecklos. Es regnete tote Vögel. Der gesamte Schwarm, der nur Augenblicke zuvor über ihn hinweggeflogen war, fiel um ihn herum vom Himmel herab. Sie trafen seinen Körper wie Baseballbälle und prügelten ihn zu Boden.

 Und dann fiel ihm ein, wo er diese Comicfigur mit dem Hammer gesehen hatte. Auf dem Lieferwagen eines Kammerjägers.

 Die Vögel starben, weil sie in eine Giftgaswolke geflogen waren, dieselbe wie die, die sich jetzt über seinem Kopf befand.

 


 KAPITEL SECHS

 Ein König ohne Thron

 15:50 Uhr. Dienstag.

 Marty rappelte sich auf, und während er in die nächstbeste Seitenstraße flüchtete, rief er, so laut er nur konnte: »Giftgas!«

 Doch niemand hörte auf ihn.

 Zum einen, weil seine Worte von der Atemschutzmaske verschluckt wurden, zum anderen, weil alle zu sehr damit beschäftigt waren, sich vor dem Hagelgewitter aus toten Vögeln in Sicherheit zu bringen. Die gefederten Hochgeschwindigkeitsgeschosse prasselten auf die Leute herab und rissen sie zu Boden, schlugen in parkende Autos ein und brachten durch ihren Aufprall die behelfsmäßigen Hütten zum Einsturz. Angesichts dessen nahm man von dem Verrückten, der die Straße hinunterrannte und Unverständliches schrie, überhaupt keine Notiz.

 Marty rannte voller Panik stolpernd und taumelnd über die Trümmer auf der Straße, wobei er immer wieder über die Schulter Blicke auf die trüb-braune Wolke aus Giftgas warf. Er rannte, als wäre die dunkle Wolke lebendig und ihm dicht auf den Fersen, als würde das Insektizid mit Tentakeln nach ihm greifen, gierig nach seinem Fleisch. Er rannte, bis er nicht mehr konnte, bis sich sein Magen zusammenkrampfte und sich jeder Atemzug anfühlte, als würde ihm ein Schwert die Kehle hinabgestoßen.

 Er zog seine Atemschutzmaske herunter, drehte sich um und sah mit großer Erleichterung, dass die schädliche Wolke nicht mehr über ihm war, sondern sich, angeschubst von einer leichten Brise, Richtung Osten bewegte. Doch Martys Gefühl der Erleichterung wurde von einem Krampf zunichte gemacht, der seinen ganzen Körper erfasste und ihm plötzlich Angst machte, er könnte die Kontrolle über seine Eingeweide verlieren.

 Und die Vorstellung, dass er sich vollscheißen könnte, genau hier, mitten auf der Straße, war für ihn furchterregender als jede giftige Wolke.

 Er scherte sich nicht darum, ob er bereits vergiftet und dies nur der Anfang eines grauenhaften Todes war. Er fragte sich nicht, ob die schrecklichen Krämpfe von dem Pestizid herrührten oder von seinem Authentischen Koscheren Mexikanischen Burrito. Das Einzige, woran Marty Slack dachte, war, innerhalb der nächsten sechzig Sekunden eine funktionierende Toilette zu finden, denn das war die Zeitspanne, die ihm laut seiner biologischen Stoppuhr noch blieb, bis sein Schließmuskel gesprengt werden würde.

 Einer seiner schlimmsten Albträume, viel schrecklicher als die Vorstellung, vom Großen Beben heimgesucht zu werden, war die Angst, die Kontrolle über seine Eingeweide zu verlieren und keine Toilette zu finden. Dieser Albtraum wurde nur noch von der Angst getoppt, das Große Beben könnte zuschlagen, während er auf der Toilette saß.

 Selbst unter gewöhnlichen Umständen wurde Marty schwindelig vor Entsetzen bei der Vorstellung, jemand könnte ihm dabei zusehen, wie er auf der Toilette saß und ganz regulären Stuhlgang hatte. Sogar in seinem eigenen Haus schloss er jedes Mal die Tür ab, wenn er das Badezimmer benutzte – die Möglichkeit, dass Beth einfach hereinkam, war unerträglich für ihn.

 Marty hatte bereits Augenblicke nach seiner Entscheidung, aus der Innenstadt nach Hause zu laufen, beschlossen, dass er in den nächsten Tagen nicht scheißen würde. Er war wild entschlossen, für die Dauer der Krise verstopft zu sein, oder zumindest so lange, bis er ein Dixie-Klo mit einem robusten Türriegel fand.

 So viel zu seinem Entschluss.

 Wie jedes zweite Versprechen, das Marty sich im Laufe des Tages selbst gegeben hatte, so würde auch dieses gebrochen werden, und zwar innerhalb der nächsten paar Sekunden. Sein Körper rebellierte, seine Gedärme verdrehten sich ineinander, als würden sie geflochten. Er musste etwas unternehmen.

 Marty konnte nicht einfach jemanden fragen, ob er seine Toilette benutzen konnte, denn selbst wenn derjenige es ihm erlaubte, so konnte er doch nicht riskieren, ein Haus zu betreten, das über ihm zusammenbrechen könnte. Was er wirklich brauchte, war ein Versteck.

 Er hatte zehn Sekunden, um eins zu finden.

 Warum verstecken? Lass die Hose runter und bringe es hinter dich, genau hier auf der Straße, oder da drüben auf dem Rasen. Wen juckt das schon? Die Stadt liegt in Schutt und Asche. Überall bluten und kotzen und sterben Leute; glaubst du, es würde sich jemand auch nur einen Scheiß darum scheren, dass irgend so ein Typ mal kacken muss?

 Marty konnte das nicht tun. Er würde es nicht tun. Es musste irgendwo ein Fleckchen geben, wo er sich verstecken konnte.

 Dann entdeckte er an der Ecke den Wohnkomplex mit Innenhof sowie die große, struppige Hecke, die an einer Wand entlang gepflanzt war. Es war niemand in der Nähe.

 Die Arme um den Rumpf geschlungen, als wolle er seine Gedärme an Ort und Stelle halten, hüpfte Marty schnell zu der Hecke und tauchte kopfüber hinein, wobei er sich an den Dornen das Gesicht zerkratzte und die Kleidung zerfetzte. Doch das war ihm egal, er wollte gänzlich von Gebüsch eingehüllt und völlig abgeschirmt sein.

 Marty öffnete den Gürtel seiner Hose, ließ sie auf seine Knöchel fallen und ging zwischen den spitzen Ästen in die Hocke, nur einen Sekundenbruchteil bevor sein Schließmuskel explodierte. Er kniff fest die Augen zu und kauerte sich in die Sträucher, Grimassen schneidend und gequält von den Krämpfen, den Geräuschen, den Gerüchen und der überwältigenden Erniedrigung seiner Nacktheit und Verwundbarkeit.

 Intellektuell betrachtet war Marty vollkommen bewusst, dass daran nichts Beschämendes war. Er war ein menschliches Wesen. Er war krank. Er hatte keine Wahl. Doch es gab nichts, was Marty sich einreden konnte, um die Beschämung zu mildern, die sogar noch stärker war als sein beträchtliches körperliches Unwohlsein. Marty zog sich die Atemschutzmaske über die Nase, hielt seine Augen geschlossen und betete, dass niemand vorbeikommen möge, während sein Körper sich krümmte, krampfte und eine gründliche Darmreinigung betrieb.

 Eine Hitzewelle rollte über ihn hinweg und er trieb dahin, in einem Fischerboot auf dem Deer Lake, sein Großvater hielt den rumpelnden Außenbordmotor mit einer Hand fest, während er die Rute der Schleppangel im Auge behielt und darauf wartete, dass die Fische anbissen.

 Es war ein heißer Tag, und die Hitze wurde auf dem Aluminium-Boot durch die Reflexion der Sonnenstrahlen noch verstärkt. Sie saßen in einer Bratpfanne, die auf dem stehenden Gewässer hin- und hertrieb. Niemand baute Häuser am Deer Lake. Man parkte sie, stellte einen Picknicktisch vor der Tür auf und nannte sie Fischerhütte.

 »Ich muss mal aufs Klo«, jammerte Marty zum sechsten oder siebten Mal, während er sich auf seiner Bank vor und zurück wiegte, sonnenverbrannt, unbehaglich und mit um seinen Magen geschlungenen Armen.

 Sein Großvater, Opa Earl, streckte ihm eine verrostete MJB-Kaffeedose entgegen. Sie war voller Zigarrenstumpen und Asche, Fischinnereien und Erdnussschalen. »Pinkel da rein. Die Fische beißen.«

 »Ich kann nicht.« Marty roch wie eine Kokosnuss, weil sein Schweiß die Klumpen aus Coppertone-Sonnencreme verflüssigte, die seine Mutter ihn jedes Mal auftragen ließ, wenn er auf den See hinausfuhr. »Ich muss groß.«

 »Dann hältst du es auch noch ein Weilchen länger aus«, entschied Opa Earl und zupfte gedankenverloren getrocknete Fischschuppen von seiner Hose, wobei er die Angelschnur im Blick behielt. »Wir sind über einem Schwarm Silberlinge. Die werden uns gleich ins Boot springen.«

 Das würden sie auch tun müssen. Den letzten Fisch hatten sie vor drei Stunden gefangen, und er war ein dünnes, kränkliches Exemplar, das den Haken wahrscheinlich absichtlich verschluckt hatte, um seinem elenden Leben ein Ende zu setzen. Seither hatte keiner mehr angebissen.

 »Wir könnten doch für eine Minute anlegen und direkt wieder hinausfahren«, argumentierte Marty. »Die Fische werden dann immer noch da sein.«

 Opa Earl warf ihm einen grimmigen Blick zu. »Mit der Angelschnur an Bord fängt man keine Fische.«

 Das war Opa Earls Allzweckbemerkung für alles im Leben, von der Impotenz seines Bruders bis zur US-Invasion in Grenada, eine Zeile unbestreitbarer Weisheit, die sogar noch größere, ja fast religiöse Bedeutung gewann, wenn er tatsächlich beim Angeln war. Als Opa Earl diesen Satz sagte, wusste der zehnjährige Marty, dass ihn weder Jammern noch Betteln noch seine Überredungskünste würden umstimmen können. Also saß Marty einfach da und starrte den toten Fisch in der Styropor-Kühlbox an, der im blutigen Eiswasser dümpelte.

 Als Marty nicht mehr länger einhalten konnte, als er vor Scham schluchzte, während sich seine Gedärme in die Badehose entleerten, war Opa Earl zu beschäftigt, um es zu bemerken. Es hatte einer angebissen. Opa Earl war im Boot aufgestanden und holte die verbleite Schnur ein, wobei er wie immer jedes Detail kommentierte.

 »Der faltet mir die Angelrute zusammen, schau dir das an! Das ist ein Monster! Das muss die Killerforelle sein, der größte Fisch im ganzen See. Hungrige Bastarde sind das. Ich hab mal eine dreißig Pfund schwere Forelle mit einer Zehn-Pfund-Angelschnur gefangen. Hab ich dir das mal erzählt? Hat mich fast aus dem Boot gezogen. Aber ich hab ihn gekriegt. Oh ja, dieser Fisch hat in mir seinen Meister gefunden. Ich bin der Albtraum der dunklen Gewässer, wusstest du das? Seit sechzig Jahren komme ich hierher und töte. Sie haben Angst vor mir. Das ist in ihren Instinkt übergegangen, es ist jetzt Teil ihrer Fisch-DNA. Wahnsinn, der da ist aber ganz schön am Kämpfen! Weiß der etwa nicht, mit wem er es hier zu tun hat?«

 Und so ging das immer weiter, Opa Earl bemerkte Martys Notlage überhaupt nicht, bis die circa fünfzehn Zentimeter lange Forelle, die übrigens genauso dünn und kränklich war wie die andere, die sie Stunden zuvor geangelt hatten, im Boot und Opa Earl zurück auf seinem Bänkchen war, wo er dem Fisch den Haken und damit auch den Großteil seiner inneren Organe herauszog.

 »Schau mal einer an«, Opa Earl hielt mit zwei Fingern den Fischmagen hoch. »Er hat jemandem den Mais weggefuttert. Wer zum Teufel benutzt Mais als Köder?«

 Opa Earl schmiss den Fisch in die Kühlbox und die Gedärme über Bord. Er war gerade dabei, sich die Hände im See zu waschen, als er einen widerlichen Gestank wahrnahm. »Was zur Hölle riecht hier so?«

 Marty konnte ihn nicht anschauen. Er hielt sich selbst fest umschlungen und versuchte, leise schluchzend, sich so klein wie möglich zu machen.

 »Hast du dich etwa gerade eingeschissen?«, rief Opa Earl und kam auf die Beine. »Gottverdammt, die Fische beißen!«

 Opa Earl packte Marty unter den Achseln und warf ihn in den See. Sein Großvater setzte sich vor dem Außenborder wieder hin, wischte sich die Hände an der Hose ab und steuerte das Boot in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren.

 »Mit der Angelschnur an Bord fängt man keine Fische«, sagte sein Großvater und schüttelte angewidert den Kopf, während das Boot davontuckerte.

 Das Wasser war kalt und so leicht wie Nebel. Es roch nach Kiefern und Krankenhäusern und sauberen Arbeitsplatten. Er schwamm in einem See aus Lysol. Marty öffnete die Augen und bekam eine weitere Ladung Desinfektionsmittel ins Gesicht geblasen. Jemand hielt eine Dose Lysol aus dem Fenster über der Hecke und besprühte das Gebüsch damit. Bevor er etwas sagen konnte – nicht, dass er in seinem momentanen, desorientierten, vergifteten und desinfizierten Zustand dazu in der Lage gewesen wäre –, hörte das Gesprühe auf und eine alte Lady streckte den Kopf hinaus, ihr Lächeln entblößte eine Reihe auffallend weißer falscher Zähne. Um ihren verwelkten Hals trug sie falsche Perlen, die so groß waren wie diese runden Monster-Kaugummis, und so weiß wie ihr Gebiss. Ihm taten davon die Augen weh.

 »Ich hoffe, du fühlst dich besser.« Ihre raue Stimme prasselte auf ihn herab wie eine Ladung Kieselsteine. »Ich habe ein hübsches Glas Ginger Ale und ein paar Kräcker für dich im Hof. Das Tor ist offen, achte darauf, es hinter dir zuzumachen, wenn du hereinkommst.«

 Sie ließ eine Rolle Toilettenpapier ins Gebüsch fallen und verschwand. Marty fühlte sich zutiefst gedemütigt, aber nicht so sehr, dass er sich nicht schleunigst den Hintern abgewischt, die Hose hochgezogen und sich aus dem Gebüsch befreit hätte. Den Rest der Klopapierrolle nahm er mit.

 Er taumelte aus dem Wacholderbusch und versuchte, sein Gleichgewicht wiederzufinden. Er fühlte sich, als hätte er gerade eine Fahrt im Kreiselkarussell hinter sich. Alles drehte sich, aber wenigstens waren die Krämpfe vorbei. Er ging um die Ecke zur Vorderseite des mit weißem Stuck verzierten Wohnhauses aus den 1940er-Jahren.

 Der Hof war durch ein schmiedeeisernes Tor gesichert, das fast bis zu den disneyesken, zwei Stockwerke hohen Türmchen zu beiden Seiten des Eingangs reichte. Marty ging durch das Tor, schloss es hinter sich und entdeckte einen landschaftlich üppig gestalteten Garten mit Blumen in Töpfen und Vogelhäuschen überall und eleganten Gartenmöbeln, die um einen kleinen Teich und einen stillgelegten Springbrunnen herum arrangiert waren.

 »Hier drüben, Herzchen.« Die alte Dame wartete in einem einteiligen Badeanzug an einem der Tische auf ihn, die knochigen Beine überschlagen, während sie mit einem Fuß nervös wippte, sodass die Sohle ihrer Hausschlappen gegen die Ferse patschte.

 Ihre Haut war unnatürlich wettergegerbt und mit den Jahren knittrig geworden; es sah aus, als hätte jemand einen schrillen, mit Blumen bedruckten Badeanzug über das rissige Leder des Fahrersitzes eines alten Autos gezogen und dann eine Halskette aus riesigen falschen Perlen um die Kopfstütze gelegt.

 »Komm, setz dich, bevor das Ginger Ale bei dieser Hitze schal wird.« Sie zeigte auf den Krug und zwei Plastikbecher, die neben einer Flasche Sonnenlotion und einem abgegriffenen John-Grisham-Taschenbuch auf dem Tisch standen.

 Marty nahm Platz und starrte sie an, als sei sie eine Erscheinung. Die Luft flirrte wie ein Fernsehsignal, das sich weigerte, ein scharfes Bild zu produzieren. Das Einzige, was er tun konnte, war ihr lahm die Rolle Toilettenpapier zurückzugeben.

 »Die behältst du, Herzchen«, winkte sie ab, jeder Finger ihrer Hand war mit einem riesigen Glasjuwel beringt. »Für den Fall, dass du noch einmal Magenprobleme bekommen solltest.«

 Entweder starb er gerade, dachte er, oder er erlebte die angemessene Reaktion seines Körpers darauf, dass er auf einer Feuerwelle gesurft, angeschossen worden und durch eine Giftgaswolke gerannt war. In dem Falle wäre es völlig normal und gesund, dass er sich die Seele aus dem Leib geschissen und jegliches Gefühl für ein physisches oder psychisches Gleichgewicht verloren hatte.

 Marty stellte das Toilettenpapier auf dem Tisch ab und griff nach dem Krug mit Ginger Ale, doch es fiel ihm schwer, ihn zu fassen zu kriegen, denn er wollte einfach nicht still stehen. Nichts stand still. Schließlich schaffte er es, den Krug festzuhalten und etwas vom Inhalt in sein Glas zu gießen, doch dann wiederum hatte er ernsthafte Probleme, damit seinen Mund zu treffen, und er verschüttete die Hälfte über sein Hemd, bevor ihm klar wurde, dass er immer noch die Atemschutzmaske trug. Er riss sich die Maske vom Gesicht und kippte das schale, lauwarme Ginger Ale in einem einzigen langen Zug hinunter.

 Es fühlte sich gut an. Er füllte das Glas sofort wieder auf, trank es aus und lehnte sich dann in seinem Stuhl zurück. Die Luft war voll vom Duft frisch erblühter Blumen und einem Hauch von Kokosnuss. Zum ersten Mal seit Stunden kam er innerlich zur Ruhe. Er war sicher. Er könnte für immer hierbleiben.

 »Es ist sehr friedlich hier«, sagte er.

 »Fühlst du dich besser?«

 »Viel besser, danke.« Gut genug, um sich für das, was er getan hatte, wieder zu schämen. »Tut mir leid wegen Ihres Busches.«

 »Büsche sind hässliche Dinger«, sagte sie. »Ich gebe nichts auf Büsche.«

 »Warum haben Sie mir geholfen?«

 »Wir haben hier im Seville-Komplex selten Gäste«, sie nahm einen Saltine-Kräcker und ließ ihn im Ganzen in ihrem riesigen Mund verschwinden. »Und es ist so ein schöner Tag.«

 Wenn dies ein schöner Tag war, hatte er keine Vorstellung davon, wie ihre schlechten Tage wohl so aussahen.

 »Außerdem«, sie lächelte, »müssen wir Unterhaltungsprofis zusammenhalten.«

 »Woher wissen Sie, dass ich im Fernsehbusiness bin?«

 »Deine Tasche«, sie nickte leicht zu seiner Sporttasche hin, die das Logo des Senders auf der Seite trug. »Ich habe viele gute Produktionen für deinen Sender gemacht.«

 »Was machen Sie?«

 »Ich bin Sonderschauspielerin«, sie griff nach einem riesigen Fotoalbum auf dem Sitz neben ihr. »Ich war in Hunderten von Produktionen und habe mit allen großen Stars gearbeitet.«

 Marty hatte absolut keine Ahnung, was eine Sonderschauspielerin war, aber wenigstens wusste er jetzt, warum sie ihn davor bewahrt hatte, seinen Arsch mit einem Blatt abwischen zu müssen. Obwohl ihre wahren Absichten entlarvt worden waren, verspürte er keine Eile zu gehen. Er fühlte sich immer noch benommen, und die Einsamkeit ihres Hofes hatte eine beruhigende Wirkung.

 Sie schlug das Album auf dem Tisch auf und drehte es so, dass Marty besser sehen konnte. »Das bin ich in ›Hello, Dolly!‹ mit Barbra Streisand.«

 Sie tippte mit ihrem gichtigen, beringten Finger auf ein Foto von einer Menschenmenge vor einem Bahnhof. »Ich bin die schöne Frau, die hinter Walter Matthau steht.«

 Ehe Marty sie auf dem Bild gefunden hatte, blätterte sie zu einem Setfoto von »Planet der Affen« um. »Das bin ich, die Affenfrau mit dem Obstkorb, zwei Affen links von dem wunderbaren Edward G. Robinson, obwohl man ihn mit dem ganzen Make-up kaum erkennen kann. Das war eine meiner größten Rollen.«

 Jetzt verstand Marty, was der Begriff »Sonderschauspielerin« bedeuten sollte. Entweder war es eine antiquierte Beschreibung dessen, was sie tat, oder sie hatte den Ausdruck erfunden, um sich und ihrer Arbeit den Anschein zu geben, eine echte Schauspielerin zu sein. Sie war Komparsin, eines der unzähligen namenlosen Hintergrundgesichter, die für 70 Dollar am Tag plus Verpflegung angeheuert wurden, um Korridore, Straßen und Menschenmengen für Filmszenen zu füllen.

 Sie blätterte rasch weiter. »Ich habe mit dem Showbiz aufgehört, nachdem ich einige Staffeln lang eine Krankenschwester in ›Diagnose: Mord‹ gespielt habe. Meine Rolle hat mich einfach nicht mehr gefordert. Meistens ging sie den immer gleichen Gang hoch und runter, mit den immer gleichen Akten in der Hand. Ich hatte aber wirklich das Gefühl, meine Figur sollte Anrufe beantworten, sich vielleicht sogar im Hintergrund mit anderen Ärzten beraten. Der zweite Regieassistent war nicht bereit, das kreative Risiko einzugehen, also kündigte ich. Seither warte ich auf die richtige Rolle für ein Comeback.«

 »Verstehe«, nickte Marty. »Ich habe leider gar nichts mit dem Casting von Sonderschauspielern zu tun.«

 »Aber du wirst doch die Augen offen halten nach interessanten Rollen?«

 »Sicher.« Ihr einen Job als Komparsin zu besorgen, war einfach. Es war das Mindeste, was er für sie tun konnte. Er war dankbar für ihre Freundlichkeit. Andererseits dachte er darüber nach, was sie wohl am Set sagen würde. Oh, er ist ein reizender Mann. Ich habe ihn kennengelernt, als er in meine Wacholderbüsche geschissen hat.

 Vielleicht würde er ihr stattdessen einfach einen hübschen Obstkorb schicken. Oder ein paar Blumen für ihren Garten.

 »Leben Sie hier alleine?«, fragte er, um das Thema zu wechseln.

 »Oh nein, die Flannerys wohnen oben, und dort drüben ruht sich gerade Mr Cathburt aus«, sie winkte jemandem auf der anderen Seite des Teichs zu.

 Marty reckte den Hals und sah zwei nackte Füße und ein Stück einer übel zugerichteten Liege, die unter einem massiven Haufen Stuck, Dachziegeln und Glas hervorragten. Der alarmierende Anblick schien seinen Blick so weit zu schärfen, dass er schließlich auch bemerkte, dass das Dach im zweiten Stock eingestürzt war. Als er sich wieder zu der alten Dame umdrehte, flirrte die Luft nicht mehr ganz so sehr, und er spürte das Hämmern seines Pulsschlags im Kopf. Der Tod und die Angst vor dem Sterben ließen ihn wieder klar sehen.

 »Mr Cathburt macht nachmittags gerne ein kleines Nickerchen«, flüsterte sie.

 »Ich glaube nicht, dass er schläft.«

 Marty stand auf und eilte hinüber zu der zerdrückten Liege, um nachzusehen, ob er irgendetwas für Mr Cathburt tun konnte. Dem war nicht so.

 Mr Cathburt lag erschlagen unter den Überresten des Balkons des zweiten Stocks. Auf dem Hof, nur ein paar Zentimeter entfernt, stand ein unversehrtes Glas Eistee auf der aktuellen Ausgabe von The Globe, die verkrustet in einer getrockneten Pfütze Blut klebte. Der Eistee war ganz trüb vor lauter Gips- und Stuckpartikeln, und die Schlagzeile des Globe kreischte: Clarissa Blakes lesbisches Liebesnest enttarnt! Ihre bisexuellen Freundinnen geoutet! So neugierig Marty auf Clarissa und ihre Freundinnen auch war, er hatte nicht vor, die Zeitschrift anzurühren.

 »Wenn er aufwacht, bewässern Mr Cathburt und ich normalerweise den Garten«, plapperte die alte Dame einfach weiter. »Das würde alles eingehen, wenn man es den Flannerys überlassen würde.«

 Marty hörte eine weitere Stimme, kaum wahrnehmbar. Zuerst dachte er, es könnte Mr Cathburt sein, der unter dem Balkon hervorwimmerte, doch dann erkannte er den kratzigen Radioton: Die Stimme kam aus einem Lautsprecher. Er schaute sich um und fand ein winziges Headset, das an einem Kabel herunterhing, das zwischen den Trümmern und der zerdrückten Liege eingeklemmt war. Irgendwo da drunter hatte ein Walkman überlebt. Das Kabel war blutverschmiert und klebrig, aber Martys Sehnsucht nach ein paar Nachrichten war größer als sein Ekel. Er hockte sich neben den verschiedenen Mr Cathburt, nahm die Kopfhörer und hielt sie sich ans Ohr.

 Die Stimme des Nachrichtensprechers war schwach und zittrig, als müsste er sich selbst zum Sprechen zwingen.

 »… völlige katastrophale Verwüstung. Das Ausmaß der Zerstörung ist schlichtweg unbeschreiblich. Die Zahl der Todesopfer geht mit Sicherheit in die Tausende. Wir haben keine genauen Informationen, da die Stadt im Dunkeln liegt, es gibt keinen Strom, die Telefonleitungen sind am Boden, wir wissen nur das, was wir von unserem Verkehrshelikopter aus sehen können und was wir über den Polizeifunk aufschnappen. Was wir wissen, ist, dass das Epizentrum irgendwo bei Chatsworth war und dass sich die Schäden in nördlicher Richtung bis Santa Barbara und im Süden bis San Juan Capistrano erstrecken. Es gab zwei schwere Nachbeben und ein paar Dutzend kleinere.

 Die Küstenorte Santa Monica, Marina Del Rey und Playa Del Rey verzeichnen Verluste. Verheerende Flächenbrände wüten in Baldwin Hills, Malibu und oberhalb von Sherman Oaks. Das Rathaus, das Griffith Park Observatory, das UCLA Medical Center, das Dodger Stadion, der Santa Monica Pier und das Dornröschenschloss sind nur einige der berühmten Gebäude, die eingestürzt sind. Aus einem großen Umkreis erreichen uns Berichte über ausgelaufene Chemikalien und Explosionen, Erdrutsche und eingestürzte Brücken. Unterirdische Gasleitungen wurden beschädigt und befeuern so heftige Großbrände, die ganze Viertel in Chatsworth, dem Bezirk Fairfax und in Culver City dem Erdboden gleichgemacht haben.

 Jeder einzelne Freeway hat massive Schäden erlitten und die meisten großen Straßen sind unpassierbar, was die Bemühungen der Rettungskräfte drastisch einschränkt, auch wenn diese Einsätze momentan im besten Falle nur sporadisch stattfinden.

 Der Los Angeles Airport steht in Flammen, die Landebahnen sind zerstört. Auch der Van Nuys Airport und der Santa Monica Airport haben schwere Schäden zu verzeichnen.

 Die Nationalgarde wurde einberufen, doch ohne befahrbare Straßen in die Stadt könnte es noch Tage dauern, bis die Gardisten in nennenswerter Zahl eintreffen.

 Wir sind ganz auf uns allein gestellt …«

 Marty ließ das Headset fallen, seine Hand zitterte. Er hatte Angst. Es gab keine Meldungen über Calabasas, sein Zuhause, doch das spendete ihm keinen Trost. Calabasas war nicht weit vom Epizentrum des Bebens entfernt, und mehr als einmal war es von Bränden bedroht gewesen, die sich vom Malibu Canyon her ausbreiteten. War ihr Haus zerstört? Wurde seine Frau gerade von einem verheerenden Großbrand verschlungen?

 »Wir haben den ganzen Tag hier draußen verbracht, Mr Cathburt und ich, die meiste Zeit haben wir gelesen«, die alte Dame redete immer noch. »Mr Cathburt hat drei Wochen gebraucht, um ›Die Akte‹ zu lesen. Ich hatte es in einem Wochenende durch, aber ich bin da anders als die meisten Leute. Ich mag auch anspruchsvollere Literatur.«

 »Sie sollten gehen«, Marty richtete sich rasch auf und ging zu ihr. »Es ist hier nicht sicher. Der Rest dieses Gebäudes könnte einstürzen.«

 »Ich habe alle Bücher von John Grisham, wenn du dir eins ausleihen magst. Wir könnten gemeinsam lesen, hier am Teich.«

 Der Garten wirkte bei Weitem nicht mehr so friedlich. Jetzt konnte er die Fliegen über Mr Cathburt schwirren hören, die jaulenden Alarmanlagen der Autos auf der Straße, das Flap-flap-flap eines Helikopters in einiger Entfernung, den Klang von Glasstückchen, die auf den Boden fielen.

 »Ich muss los«, informierte Marty die alte Frau. »Sie sollten auch gehen.«

 »Wo soll ich denn hingehen?« Sie schaute ihm in die Augen. »Ich lebe hier seit siebenundvierzig Jahren. Es gibt kein anderswo. Das hier ist mein Garten.«

 Marty nickte. »Kann ich irgendetwas für Sie tun, bevor ich gehe?«

 »Ja, bitte.« Sie streifte die Träger ihres Badeanzuges von den Schultern und lächelte schüchtern.

 Oh Gott, nein, dachte Marty.

 Sie reichte ihm die Flasche Hawaiian Tropic. »Ich könnte ein bisschen Sonnenlotion auf dem Rücken vertragen.«

 Marty wollte das nicht tun, aber er war dermaßen erleichtert darüber, dass es das Einzige war, worum sie ihn bat, dass er schnell etwas Lotion herausdrückte, sie in den Handflächen verrieb und die Creme dann auf ihren Schultern verteilte. Es fühlte sich an, als würde er ein Armaturenbrett mit Armor-All-Politur einreiben.

 »Das fühlt sich aber gut an«, schnurrte sie. »Deine Hände sind ganz weich.«

 »Du scheißt in ihr Gebüsch«, sagte eine vertraute Stimme, »das heißt aber noch lange nicht, dass du sie ficken musst.«

 Marty drehte sich um und konnte es kaum glauben, Buck zu sehen, der an das Hoftor gelehnt dastand und voller Abscheu den Kopf schüttelte. Gab es denn keine Möglichkeit, diesem Kerl zu entkommen?

 »Jedem das Seine, schätze ich.« Buck zuckte mit den Schultern und ging.

 »Vielen Dank noch mal für Ihre Hilfe.« Marty wischte sich eilig die Hände an seiner Jacke ab, zu spät war ihm klar geworden, dass er diesen Kokosduft nun für den Rest seiner Reise mit sich herumtragen würde. Andererseits schlug er den Duft, den er bisher verbreitet hatte, um Längen.

 »Komm wieder und besuche mich, jederzeit«, lächelte sie. »Und halte Ausschau nach einem passenden Drehbuch für mich.«

 Er zwang sich zurückzulächeln, nahm das Toilettenpapier und ging durch das Gartentor, das hinter ihm ins Schloss fiel.

 


 KAPITEL SIEBEN

 Das Paradigma des mythischen Helden

 Buck wartete am Straßenrand auf ihn.

 »Dein Laufstil wird immer besser«, sagte Buck. »Es wäre allerdings beeindruckender, wenn du dich nicht einscheißen würdest, sobald du zum Stehen kommst.«

 »Können wir das Thema wechseln?« Marty setzte sich in Bewegung und stopfte dabei das Toilettenpapier in seinen Beutel.

 »Okay.« Buck schloss zu ihm auf. »Lass uns über Brüste reden.«

 »Lass uns darüber reden, warum du mich verfolgst.«

 »Wenn du nicht so verdammt selbstverliebt wärst, du Arschloch, dann würdest du dich vielleicht erinnern, dass ich in Hollywood wohne. Wir haben zufällig den gleichen Weg.«

 »Es gibt mindestens ein Dutzend verschiedener Wege, um nach Hollywood zu kommen.«

 »Nicht, wenn man die riesige gottverdammte Scheiß-Giftgaswolke umgehen will. Übrigens, so langsam mag ich dich, Mark.«

 »Martin. Du wirst mich nicht mehr so sehr mögen, sobald ich der Polizei erzählt habe, was du getan hast.«

 »Ich bin mir sicher, das wird für die höchste Priorität haben«, schnaubte Buck.

 »Du solltest eigentlich bei dem Typen bleiben, auf den du geschossen hast.«

 Buck grinste. »Ich bin doch jetzt bei dir, oder?«

 »Bei dem anderen Typen, den du angeschossen hast.«

 »Enrique und der schwarze Junge sind bei ihm. Wie es aussieht, ist Enrique eine dieser männlichen Krankenschwestern, was – wie wir alle wissen – bedeutet, dass er in seiner Freizeit Hobby-Proktologe ist.«

 Marty warf ihm einen Blick zu, holte die Karte aus dem Rucksack und breitete sie auf der Motorhaube eines Autos aus.

 »Was machst du?«, fragte Buck.

 »Versuchen herauszufinden, wo ich bin.«

 »Du bist ein paar Blocks von Koreatown entfernt«, sagte Buck. »Weiter westlich kreuzt der Western Boulevard.«

 »Woher weißt du das?« Marty schaute sich nach einem Straßenschild um und entdeckte schließlich eins, das auf dem Boden lag.

 »Weil ich hier lebe, Arschloch. Schaust du beim Fahren nie aus dem Fenster?«

 »Ich fahre nie hier lang.« Marty suchte die Straße auf der Karte und stellte fest, dass Buck recht hatte. Sie waren am nördlichen Ende von Koreatown. Es könnte die sicherste Etappe ihrer Reise sein oder die gefährlichste, und alles nur wegen der gewalttätigen Krawalle vor gar nicht allzu langer Zeit.

 In den ersten Stunden der Rodney-King-Aufstände, während Nachrichtenhelikopter über den Straßen kreisten, strömten Horden wütender Schwarzer plündernd und brandschatzend durch Koreatown und zerstörten Schaufenster und kleine Geschäfte. Es war eine unaufhaltsame Welle aus wutentbrannter Solidarität und grandiosem Fernsehen.

 Obwohl die Koreaner nichts mit dem Übergriff gegen Rodney oder dem Freispruch der involvierten Polizeibeamten zu tun hatten, nahm man es ihnen übel, dass sie ihre Spirituosengeschäfte, Supermärkte und Tankstellen in schwarzen Vierteln eröffneten, ohne Schwarze einzustellen.

 Die bedrängten Koreaner wappneten sich umgehend, bewaffnete Brigaden patrouillierten in den Straßen, während andere auf den Dächern Wache hielten, wo sie ihre Karabiner schwangen, Ausschau hielten und darauf warteten, dass die Eindringlinge wiederkamen. Doch es war zu spät; die Koreaner hatten bereits fast die Hälfte aller während der Aufstände in der Stadt entstandenen Schäden hinnehmen müssen.

 Trotz allem, Marty erkannte schnell das Serienpotenzial. Unmittelbar nach den Aufständen entwickelte er einen Piloten mit dem Titel L. A. Seoul, der von einer koreanischen Bürgerwehr handelte, die die Gassen von Gesindel säuberten. Er schaffte es nicht ins Programm, trotz des Versuchs, ihn in letzter Sekunde für die Olsen-Zwillinge umzuschreiben. Stattdessen kaufte der Sender Cross-Eyed, ein Format über einen wiedergeborenen Privatdetektiv, der seine Aufträge von Gott erhält.

 Die Koreaner hatten die Krawalle sicherlich nicht vergessen und waren wahrscheinlich wieder auf den Straßen unterwegs, mit Waffen auf erneute Übergriffe vorbereitet. Das bedeutete, die Gegend dürfte frei sein von Plünderern, aber dafür voller schießwütiger Partisanen, die jedweden Fremden gegenüber feindlich eingestellt waren, selbst dem einen, der sich für die erste koreanische Primetime-Krimiserie eingesetzt hatte.

 Marty beschloss, dass es vielleicht gar nicht so übel war, Buck in der Nähe zu haben – wenigstens bis er den Cahuenga-Pass erreicht hatte und auf dem Weg ins Tal war. Er faltete seine Karte zusammen und steckte sie in die Innentasche seiner Jacke.

 »Also, sobald wir in Hollywood sind, bist du zu Hause«, sagte Marty. »Richtig?«

 »Yeah.«

 »Und wir gehen getrennte Wege.«

 »Das ist ein Klischee«, sagte Buck. »Etwas, das schon so verdammt oft gesagt wurde, dass es einen Scheiß bedeutet.«

 »Ja, ich weiß, was ein Klischee ist, danke.« Das würde ein langer Marsch werden bis Hollywood.

 17:35 Uhr. Dienstag.

 Marty und Buck befanden sich an einem Ort, an dem Menschen schmiedeeisernen Dingen huldigten. Sie umzingelten ihre Anwesen, verdeckten ihre Fenster und verbarrikadierten ihre Türen damit. Es gab ihnen ein Gefühl der Sicherheit. Nun, das Schmiedeeisen war alles, was um ihre Häuser herum noch stand, die ihrerseits eingefallen waren wie alter Kuchen.

 Wenn doch nur die Häuser aus Schmiedeeisen gebaut wären, dachte Marty.

 »Ich hasse diese spitzen Dinger, die aussehen, als ob sie in zwei verschiedene Richtungen wachsen würden«, sagte Buck. »So, als wollten sie um jeden Preis von ihrem Körper weg oder so.«

 »Über was in aller Welt sprichst du?«

 »Brüste«, antwortete Buck. »Oder auch Titten, Möpse, Hupen.«

 »Danke für die Aufklärung.«

 »Ich habe das Thema gewechselt, wie du gebeten hattest. Pass auf, dass du noch mitkommst.«

 Und während Buck weiter drauflosquatschte, verlegte Marty seine Aufmerksamkeit auf die Ruinen um ihn herum.

 Sie gingen an einem großen Apartmentkomplex vorbei, dessen Außenwände fehlten, sodass er aussah wie das Set der Quiz-Show »The Hollywood Squares«. Mit dem Unterschied, dass Marty nicht Promis an Tischen sitzen und dumme Fragen beantworten sah, sondern ungemachte Betten und umgefallene Stühle, heruntergefallene Bilder in kaputten Rahmen und Küchenböden, die mit zerbrochenem Geschirr und verschüttetem Essen übersät waren.

 Die koreanischen Mieter retteten, was sie konnten, trotz der hohen Wahrscheinlichkeit, dass das Gebäude direkt über ihnen kollabierte. Vier blutverschmierte Bewohner mühten sich damit ab, eine verbeulte Kenmore-Geschirrspülmaschine aus einer Erdgeschosswohnung hinauszuhieven. Andere karrten vorsichtig Computer, Stereoanlagen und Fernseher hinaus, wo alles unter der Aufsicht der Familienmitglieder auf dem Gehweg gesammelt wurde.

 Es war nicht wichtig, dass diese Annehmlichkeiten ihnen jetzt nichts mehr nützen würden; sie würden sie weder einen Tag länger am Leben noch warm oder gesund halten. Was zählte, war, was sie einmal gekostet hatten. Eine Dose Mais und das Wasser, in dem er schwamm, waren nur fünfundsechzig Cent wert, eine Spülmaschine dreihundert Dollar. Wen interessierte bei diesem Preis, ob die Maschine noch funktionierte oder ob man überhaupt überleben würde, um sie wieder zu benutzen?

 Doch während Marty ihnen zuschaute und dabei voller Verachtung den Kopf schüttelte, ertappte er sich bei dem Gedanken, ob Beth es wohl geschafft hatte, seinen Laptop und ihr neues TV-Festplattensystem zu retten. Ehe er dazu kam, sich dafür auszuschelten, hatten sie bereits die Western Avenue erreicht, die aussah, als wäre sie in der Mitte mit einer riesigen Hacke umgepflügt worden. Autos, Busse und Telefonmasten lagen überall verstreut, umgeworfen von der nach oben strebenden Straße.

 Die Straße war voller Menschen, hauptsächlich Koreaner, die ihre Wunden versorgten, sich in die Arme fielen oder ungläubig und benommen auf die Verwüstung starrten. Marty bemerkte sie kaum; die Szenerie war zum einzigen vertrauten Anblick in dieser veränderten Stadt geworden, zum neuen Standard der Normalität. Die einzigen Menschen, die Martys Aufmerksamkeit erregten, waren die, die mit Kalaschnikows vor ihren in sich zusammengesackten Schaufenstern und dem Erdboden gleichgemachten Minimärkten standen und nur darauf warteten, dass plündernde Horden auftauchten.

 Marty schaute hinüber zu Buck, voller Sorge, der verrückte Neandertaler könnte etwas Unvernünftiges tun.

 »Mach jetzt keine Dummheiten, Buck. Lass uns einfach so ruhig und unauffällig wie möglich hier vorbeigehen. Wir wollen keinen Ärger.«

 »Wovor zum Teufel hast du Angst, was soll ich denn schon machen?«

 »Ich weiß es nicht, aber diese Leute hier sind sehr nervös, und die kleinste Kleinigkeit könnte sie explodieren lassen.«

 »Ich finde nicht, dass die nervös aussehen.«

 »Warum tragen sie dann Schnellfeuerwaffen mit sich herum?«

 »Ach so, jetzt wirst du nervös.« Buck winkte dem am nächsten stehenden bewaffneten Koreaner zu. »Yang chow, amigo-san.«

 Marty wandte den Blick ab und ging so schnell er konnte weiter. Er wollte nicht in der Nähe sein, wenn der Koreaner Buck niederschoss.

 Koreatown war nicht annähernd so, wie Marty es aus L. A. Seoul kannte, wo es klaustrophobisch, feucht und dunkel zuging und die Luft zum Schneiden dick war vor lauter Räucherwerk, Opium und gefährlichen Männern in Manchu-Jacken. Außerdem gab es, sehr zu Martys Verwunderung, für dieses Koreatown noch keine touristischen Pauschalangebote, die das gesamte Land und seine Kultur in disneyfizierten Pagoden und mit einprägsamen Sprüchen bedruckten Morgenmänteln aus Fake-Seide zusammenfassten.

 Das Einzige, was diese fade Einkaufsmeile in Martys Augen von jeder anderen abhob, waren die Dienstleistungen, die angeboten wurden – Akupunktur, Aromatherapie, Shiatsu-Massage –, sowie der Überfluss an Schildern, alle in leuchtend roter koreanischer Kalligrafie mit englischer Übersetzung in winziger Druckschrift darunter.

 Shong Hack Dongs Permanent Make-up. Jang Soo Bäckerei. Myung Ga Massage. Yum Park Sa Ne Restaurant. Yehs Schneiderei. Myong Dong Naturkräuter. Kentucky Fried Chicken.

 Marty blieb unvermittelt stehen.

 Dort, inmitten der Zerstörung und doch unbeschadet und strahlend, lächelte die fröhliche Karikatur von Colonel Sanders vom Dach eines schnittigen, aus Metallwürfeln, aerodynamischen Finnen und stählernen Schloten bestehenden Gebäudes auf Marty herab. Es sah aus, als ob der Colonel gerade aus dem All zurückgekehrt sei, mit einem Eimer voll extra knusprigem Hähnchen für den Ausnahmezustand.

 »Gute Idee, Marty«, sagte Buck. »Ich hab langsam auch ein bisschen Hunger.«

 »Ich glaube nicht, dass es offen ist.«

 »Keine Sorge, der Oberkellner kennt mich.« Buck ging auf das Restaurant zu.

 In diesem Moment hörten sie das Quietschen von Gummi auf Asphalt. Marty und Buck drehten sich um und sahen einen Lastwagen, dessen Reifen bei dem Versuch, mittels zweier Ketten einen Geldautomaten aus der Wand einer Bank zu reißen, durchdrehten und qualmten.

 Das Führerhaus des Trucks bockte wie ein Pferd, sodass die Vorderreifen vom Boden abhoben; dann landete es unsanft und sprang vorwärts, riss dabei den Geldautomaten heraus und zog ihn noch ein Stück weiter, bevor das Gespann schließlich in einer Wolke aus Stuck und Kleingeld zum Stehen kam.

 Zwei Mexikaner sprangen aus dem Truck, schnappten sich Taschen von der Ladefläche und begannen das Geld zusammenzuschaufeln, während ein dritter Mann zusah, eine Schrotflinte im Arm.

 Marty sah zu den Koreanern hinüber. Die unternahmen gar nichts, obwohl sie dem einen Mexikaner mit Knarre waffentechnisch hundert zu eins überlegen waren. Sie standen dort nur herum und schauten zu. Sie schienen sich überhaupt nicht für die Aktion zu interessieren, was für Marty eine große Erleichterung war, da er nicht in einer Schießerei sterben wollte. Doch warum sie so desinteressiert waren, hätte er schon gerne gewusst.

 Dann sah er das Wells-Fargo-Schild und verstand. Es war nicht ihre Bank. Nichtsdestoweniger wollte Marty rasch weiter, für den Fall, dass sie ihre Meinung änderten. Genau das wollte er Buck gerade mitteilen, als der Kopfgeldjäger lächelnd seine Waffe zog.

 »Das wird nur eine Minute dauern.« Buck ging auf die Männer zu.

 Marty packte ihn. »Was zur Hölle machst du da?«

 Doch Marty wusste es bereits, denn es war exakt das, wonach dieser Moment förmlich schrie: die Szene zu Ende zu denken, genau wie es in diesen Drehbuchkursen für 800 Dollar das Wochenende und in unzähligen Actionfilmen gepredigt wurde. Es war die unvermeidliche Szene, in der der Held beweist, was für ein wilder, gefährlicher Mann er ist, indem er zufällig in einen Überfall, eine Geiselnahme oder den Selbstmordversuch eines Typen stolpert oder auch in eine kreative Kombination aus allen dreien.

 Doch das hier war kein Film.

 »Sie rauben eine Bank aus«, Buck ließ seinen Arm gerade herunterhängen und versteckte so die Waffe hinter seinem Bein. »Das ist ein No-Go.«

 »Wen kümmert’s?«, sagte Marty. »Wir hatten hier gerade ein Erdbeben. Die Stadt wurde dem Erdboden gleichgemacht. Das Geld ist unwichtig.«

 »Das wird sich ändern.«

 Buck schüttelte Marty ab und marschierte über die Straße auf den Mexikaner mit der Knarre zu, der ihn nicht einmal zu bemerken schien.

 Buck schrie: »Hey, Taco Bell!«

 Jetzt kam der Mexikaner in Bewegung. Er richtete die Schrotflinte auf Buck.

 »Ja, du«, Buck ging weiter auf ihn zu. »Du hältst dich wohl für besonders clever?«

 Die Drehbuch-Gurus von eigenen Gnaden nannten dies den entscheidenden Moment, oder etwas pompöser »die zentrale Bekräftigung des Paradigmas des mythischen Helden«, und Marty hasste es jedes Mal, wenn er es sah. Der Moment war falsch, formelhaft und führte zum kreativen Bankrott. Und doch verlangte Marty von den Autoren, ihm genau das in den ersten fünf Minuten der ersten Folge jeder Krimiserie seines Senders zu liefern. Und wenn sie mit ihm darüber streiten wollten, schmiss er sie hinaus und holte einen Autoren ins Boot, der es einfach tat. Und jetzt wurde Marty vom Schicksal oder einer Art kosmischem Wächter der Gewerkschaft filmschaffender Autoren dazu gezwungen, die Szene selbst zu durchleben. Oder in ihr zu sterben.

 Die zwei unbewaffneten Mexikaner hörten auf, Geld in ihre Taschen zu stopfen, und richteten sich auf, wechselten einen besorgten Blick und wandten sich Buck zu. Sie wussten nicht so recht, was sie mit diesem Typen anfangen sollten. Einer der beiden sagte etwas bedrohlich Klingendes auf Spanisch zu ihm.

 »No habla Schwachsinn, Dorrito.« Buck näherte sich weiter dem Schützen, der nervös sein Gewicht verlagerte und seine Kumpels mit Blicken um eine Ansage anflehte, jedoch keine bekam.

 »Verpiss dich«, informierte der Schütze Buck, »oder ich schieße.«

 Buck schüttelte den Kopf und drehte sich zu den beiden unbewaffneten Männern um. »Wo habt ihr nur diesen Trottel hier aufgegabelt?« Er zeigte auf den Schützen, und sie folgten seiner Geste mit ihren Blicken, was sie ausreichend von seiner Knarre ablenkte, als er an ihnen vorbeiging. »Taco Bell ist zu blöd zum Kacken, und ich kann es beweisen.«

 Der Bewaffnete hob seine Knarre auf die Höhe von Bucks Brust. »Ich blas’ dir die Eier weg, wenn du nicht stehen bleibst.«

 »Mit gesicherter Waffe bestimmt nicht, du Vollidiot.«

 Der Schütze schaute nach unten auf seine Schrotflinte. In diesem Moment der Unaufmerksamkeit rammte Buck dem Kerl mit der einen Hand seine Knarre in die Leiste, mit der anderen schmetterte er die Schrotflinte zur Seite.

 Buck lehnte sich nach vorne über sein Gesicht, sodass sich ihre Nasen fast berührten. »Wenn deine Freunde sich nicht verdammt noch mal hinsetzen und tun, was man ihnen sagt, mach’ ich eine Ken-Puppe aus dir.«

 Der Schütze war entweder absolut dummdreist oder schlichtweg nicht darüber im Bilde, was Barbie sich von Männern wünschte, denn er sagte kein Wort. Also spannte Buck den Hahn und kitzelte ihn mit dem Lauf. »Na, wie gefällt dir das? Die setzen sich jetzt hin, oder aus Taco Bell wird Tinker Bell.«

 Die Nachricht, wenn vielleicht auch nicht die Anspielung, kam an bei dem Schützen. Er teilte seinen Freunden umgehend mit, dass sie sich setzen sollten. Was sie auch taten.

 Marty schaute sich nach den Koreanern um. Die lächelten. Die Szene funktionierte jedes Mal. Das machte sie aber kein bisschen weniger hirnrissig. Jetzt, wo die Situation unter Kontrolle schien, marschierte Marty zu Buck hinüber und sagte: »Hast du deinen verdammten Verstand verloren?«

 »Hör auf zu jammern und nimm Taco Bell die Knarre weg.«

 Marty nahm sie dem Schützen aus der Hand, untersuchte sie und warf sie dann auf die Ladefläche des Lkw. »Sie war nicht gesichert.«

 Buck grinste den finster dreinblickenden Mexikaner an. »Huch.«

 Buck grinste immer noch, als Marty und er die drei Mexikaner erfolgreich an einen Telefonmasten gefesselt hatten. Marty machte das nur noch wütender.

 »Du findest das wohl lustig, Buck? Du hättest getötet werden können. Und wofür?«

 »Für einen dicken, fetten Gehaltsscheck.« Buck steckte jedem seiner Gefangenen eine seiner Visitenkarten in die Brusttasche. »Wenn die Bullen auftauchen, wissen sie gleich, wer diese Vollidioten festgesetzt hat. Und die Bank auch. Da sollten wohl zwei Riesen für mich rausspringen. Weißt du was, dieses Erdbeben könnte wirklich gut fürs Geschäft sein.«

 »Tu mir einen Gefallen, Buck. Nimm dir den Rest des Tages frei.«

 Marty ging weg und schlängelte sich durch die kleine Menge Koreaner, die sich versammelt hatten, um Buck bei der Arbeit zuzusehen. Buck zog einen imaginären Hut in Richtung der Koreaner und schloss zu Marty auf.

 »Über was zum Teufel regst du dich denn so auf?«

 »Darüber, dass du da hinten fast eine Schießerei angezettelt hättest«, antwortete Marty. »Und wenn es einen der Koreaner erwischt hätte, hätten die auch angefangen zu schießen, und alles hätte in einem Blutbad geendet.«

 »Schwachsinn«, Buck lächelte und zeigte anklagend mit dem Finger auf Marty. »Du hattest Angst um mich.«

 »Ich hatte Angst, getötet zu werden und es nicht nach Hause zu meiner Frau zu schaffen.«

 »Siehst du? Es passiert schon. Du fieberst mit mir mit. Ich hab dir doch gesagt, ich bin eine verdammt gute Serienfigur«, Buck klopfte Marty auf die Schulter. »Ich wäre sogar bereit, über einen Schwarzen als Kollegen nachzudenken, solange es nicht Arsenio Hall ist.«

 Jahre später würde Marty genau diese Anekdote auf Partys oder Veranstaltungen des Senders zum Besten geben. Wie er mitten im größten Erdbebenchaos, auf seinem Weg nach Hause durch die Ruinen von L. A., von einem verrückten Kopfgeldjäger verfolgt wurde, der versuchte, ihm eine Serie zu verkaufen.

 War es bei dem Riesenauftritt bei der Bank nur darum gegangen? Alles Teil der Verkaufsstrategie? Ob das wirklich so war oder auch nicht, sobald Marty die Geschichte erzählte, war alles Teil des Plans.

 Doch die Geschichte würde bald ein Ende finden. Es war kurz nach sechs. Noch eine Meile oder zwei, dann würden sie Hollywood erreichen. Buck würde nach Hause gehen und für immer aus seinem Leben verschwinden, und Marty würde weiter über den Cahuenga-Pass marschieren und bei Einbruch der Dunkelheit im San Fernando Valley ankommen. Der Rest der Strecke bestand dann nur noch aus dem Ventura Boulevard, der Zielgeraden nach Calabasas.

 Hübsch und einfach. Vielleicht hatte sogar ein Starbucks geöffnet. So viele wie es davon im Tal gab, war es statistisch gesehen eigentlich gar nicht möglich, dass das Große Beben sie alle plattgemacht hatte.

 Dieser erfreuliche Gedanke beherrschte Marty für die nächste halbe Stunde, während sie über Trümmer kletterten und sich ihren Weg bahnten, vorbei an den Verletzten, den Verirrten und den Hoffnungslosen.

 Marty versuchte sich vorzustellen, wie Beth aussehen würde, wie glücklich sie wäre, ihn zu sehen. In seiner Vorstellung hatte sie keinen einzigen Kratzer, sie sah genau so aus, wie er sie morgens in der Küche verlassen hatte. Nur die Gefühlskälte wäre verflogen, denn er wusste, wenn er in der Lage war, quer durch die verwüstete Stadt zu Fuß zu ihr zu gelangen, dann wäre es dagegen ein Kinderspiel, die Distanz in ihrer Ehe zu verringern.

 Doch um das zu bewerkstelligen, würde er fast zwei Jahre zurückgehen müssen. Sie lebten damals nicht in dem Haus in Calabasas; sie wohnten noch in dem Haus im Ranch-Stil in Reseda. Sie waren »nördlich des Boulevards«, der Demarkationslinie quer durchs Tal, die diejenigen, die »es geschafft hatten« und in der hügeligen Gegend über dem Ventura Boulevard lebten, von denen trennte, die immer noch versuchten, »es zu schaffen«, und im Flachland unterhalb davon wohnten.

 Marty war in seinem Arbeitszimmer und hing auf Seite 138 seines zweiten unvollendeten Romans fest. Kurz nachdem er seinen Job beim Sender ergattert hatte, verbannte er seine unfertigen Drehbücher in die Schublade; das vernunftsmäßige Eingeständnis seiner Unfähigkeit, ein Drehbuch zum Abschluss zu bringen, war der Preis, den er dafür zahlen musste, dass er einfach zu gut war in seinem Job. Er verbrachte seine Tage damit, die Drehbücher anderer Leute zu entwickeln und einen Entwurf nach dem anderen mit Anmerkungen zu versehen, bis die Autoren die Geschichte und die Figuren zumindest so gut hinbekamen, wie es ihre begrenzten Fähigkeiten erlaubten. Das Problem war, wenn Marty sich hinsetzte, um des Nachts selbst zu schreiben, konnte er einfach nicht aufhören, ein leitender Angestellter bei einem Fernsehsender zu sein. Er konnte keine Zeile schreiben, ohne sich selbst Anmerkungen zu liefern, noch ehe er zu Ende getippt hatte.

 Also stieg Marty auf Romane um, im festen Glauben, dass ihn das in kreativer Hinsicht befreien und er endlich der einfallsreiche, empathische und produktive Autor werden würde, der er überzeugt war zu sein.

 Oder sein könnte … wenn er doch nur über Seite 138 hinauskäme.

 Es ging nicht so sehr darum, dass die Geschichten ins Nichts führten – was sie zweifellos taten –, sondern dass seine Figuren einfach nicht lebendig wirkten. Sie waren bloße Spielsteine, die in der Geschichte umherwanderten, ihre Romanfunktion erfüllten, ohne dabei auch nur ein einziges Mal zu atmen. Er schleifte sie Seite für Seite mit, drängte sie in Situationen, zwang sie zu sprechen und zermarterte sich dann das Hirn über jedes einzelne Wort, das sie sagten.

 Nur einmal, wünschte Marty sich, sollte eine Figur das Heft in die Hand nehmen, Dinge sagen, die ihn überraschten, und der Geschichte eine neue Wendung geben, die ihm selbst erst in dem Moment in den Sinn kam, in dem er sie aufschrieb.

 Er steckte gerade in einem dieser frustrierenden Momente fest, in denen er hasserfüllt auf seinen Laptop starrte, auf das 26 962ste Wort auf der 138sten Seite, als Beth hinter ihm auftauchte und ihre Hand auf seine Schulter legte. Sie wollte zärtlich und rücksichtsvoll sein, ihn so sanft wie möglich stören, doch die Wahrheit war, dass er die Unterbrechung hasste wie die Pest, egal wie nett sie vonstatten ging, selbst wenn es gar nichts zu unterbrechen gab.

 Um ehrlich zu sein, dann ganz besonders.

 »In zwei Monaten werden wir drei Jahre verheiratet sein«, sagte Beth sanft.

 »Ich habe unseren Hochzeitstag noch nicht vergessen, aber danke für die Erinnerung.«

 Marty bereute seinen Tonfall umgehend, und an der Art, wie sie ihre Hand von seiner Schulter rutschen ließ, erkannte er, dass er sie verletzt hatte. Doch Beth ging nicht weg, sie ließ sich auf seine schäbige Couch fallen, das Levitz-Sondermodell für 200 Dollar, das er seit College-Zeiten von einem Haus ins andere mitschleppte, und wartete darauf, dass er sich umdrehte.

 Das tat er auch und sah, wie sie sich in eine Ecke gekuschelt hatte, die Knie an die Brust gezogen, was üblicherweise bedeutete, dass ein ernstes Gespräch auf ihn zukam, und was auch immer es war, er hatte es gerade noch schlimmer gemacht. Zeit für Schadensbegrenzung.

 »Tut mir leid«, sagte er. »Du hast mich echt im falschen Moment erwischt. Ich bin an einer schwierigen Stelle in meinem Buch. Um ehrlich zu sein, ich stecke fest.«

 »Ich auch«, sagte sie. »Ich verbringe meine Tage damit, entweder zu Castings zu gehen oder Komparsenrollen zu spielen, und in den Nächten übe ich dafür.«

 »Du bist Schauspielerin, das ist deine Aufgabe. Es geht nur um die Performance.« Er fragte sich, wohin das führen sollte, was das damit zu tun hatte, seit drei Jahren verheiratet zu sein, und warum sie jetzt damit anfangen musste, auf Seite 138.

 »Morgen spiele ich eine Reporterin, die keinen abkriegt, weil sie Mundgeruch hat, dann aber ihren Traummann findet, nachdem sie endlich damit anfängt, eine fantastische Mundspülung mit unglaublichem Pfefferminzgeschmack zu benutzen.«

 Marty lächelte. »Es ist ein Anfang. Du arbeitest auf etwas hin.«

 »Aber ich erreiche es nicht.« Beth blickte zu seinem Laptop. »Keiner von uns beiden erreicht es.«

 Das war das Vernichtendste, Schmerzhafteste, was sie jemals zu ihm gesagt hatte, umso mehr, als sie es so beiläufig dahersagte, als sei es eine offensichtliche Tatsache. Marty nahm an, dass es das auch war, er hatte nur keine Ahnung, dass sie das wusste. Und jetzt war es raus, das Ungesagte gesagt. Er war kein Autor.

 »Das wolltest du in meinem Falle ja auch nie«, sagte Marty. »Du warst es doch, die mich gedrängt hat, einen Job in der Drehbuchentwicklung anzunehmen.«

 »Ich musste gar nicht so sehr drängen.«

 »Deswegen bist gekommen? Um mir zu sagen, dass ich nicht schreiben kann und du nicht schauspielern?«

 Das tat Marty immer, wenn sie ihn angriff: umso härter zurückschlagen. Er kannte das von sich, und doch konnte er nicht damit aufhören.

 Sie begutachtete ihre Knie, was im Moment ein um einiges sicherer Ort zum Hinschauen war als ihr Ehemann. »Nein«, antwortete sie sanft.

 Das war Beth, sie gewann, indem sie eben nicht noch einen draufsetzte. Sie kam damit durch, gemein zu sein, denn er feuerte immer noch böser zurück, und dann gab sie nach. Und dann fühlte er sich schuldig, und er war derjenige, der sich entschuldigen musste. Und selbst wenn er es nicht tat, behielt sie trotzdem immer recht. Es war ein immer wiederkehrendes, gleichbleibendes Muster in ihren Konflikten; sie wussten es beide, aber keiner von beiden schien in der Lage zu sein, es zu durchbrechen.

 Der Hund kam hereingelaufen, sichtlich in Spiellaune, mit einem vollgesabberten Ball im Maul, doch selbst sein Hundehirn war differenziert genug, um die Schwingungen im Raum mitzukriegen. Er ließ den Ball fallen und schlich direkt wieder hinaus.

 »Warum versuchen wir es denn so verbissen?«, fragte sie. »Du, indem du den ganzen Tag im Sender arbeitest und dann die ganze Nacht versuchst zu schreiben. Und ich, indem ich hinter so vielen Rollen herrenne, wie ich nur kann, und alles annehme, was mir angeboten wird?«

 »Weil es das ist, was man tun muss, um es zu schaffen, um seine Ziele zu erreichen.«

 »Das sind wir also zwei Leute, die versuchen, ihre Ziele zu erreichen.«

 »Was ist daran so falsch?«

 »Es ist nicht genug.«

 Er wusste, was fehlte. Was er nicht sagte. Doch es war noch nicht zu spät, um den Fehler zu korrigieren.

 »Wir sind aber auch zwei Leute, die sich sehr lieben.« Manchmal fiel ihm im echten Leben der richtige Satz im richtigen Moment ein, beim Schreiben passierte ihm das selten. Bei den meisten Autoren war es andersherum, aber er fand nicht, dass er sich deswegen glücklich schätzen konnte.

 Sie lächelte, würdigte seine Bemühungen. »Zwei Leute, die sich lieben, aber jeden Augenblick in getrennten Welten verbringen, besessen davon, ihre Träume zu verwirklichen. Und wofür?«

 »Um die zu sein, die wir sein wollen.«

 »Wenn es nur darum geht, dann ist es selbstsüchtig und es ist leer und es ist einsam. Wir sollten für etwas arbeiten, für etwas Gemeinsames.«

 »Dein Erfolg wird mich so glücklich machen, wie er dich glücklich macht«, sagte er. »Vielleicht umso mehr, weil ich es dir so sehr wünsche. Das macht es zu etwas Gemeinsamem.«

 »Das ist süß, und wahrscheinlich sagst du genau das Richtige, aber es ändert nichts. Tatsache ist, wir tun es nur für uns selbst. Nicht für uns, nicht für unsere Ehe, nicht für unsere Familie. Wenn es so wäre, dann wäre es die Mühe wert.«

 Unsere Familie? Welche Familie?

 Und da wurde ihm klar, um was es eigentlich ging, eine umständliche, philosophische Art und Weise das zu sagen, was man auch ohne Umschweife in vier Worten ausdrücken konnte. Also sagte er sie.

 »Du willst ein Baby.«

 Sie schüttelte den Kopf. »Ich will eine Familie.«

 Marty drehte sich wieder zu seinem Laptop, um sich etwas Raum zum Nachdenken zu verschaffen. Wenn er es jetzt nicht schaffte zu schreiben, wie viel leichter wäre es mit einem schreienden Baby im Haus? Der Schlafentzug, der Lärm, die zeitlichen Anforderungen an ihn – geschenkt. Aber wie sah es mit der Verantwortung aus, die ein Kind mit sich brachte? Die bloße erschreckende Vorstellung reichte aus, um die wenigen kreativen Impulse, die er noch hatte, im Keim zu ersticken.

 Und schon wieder war er selbstsüchtig, schalt Marty sich. Er dachte nicht an sie oder an ihre Ehe, nur an seine persönlichen Ziele. War das nicht genau das, worüber Beth gesprochen hatte? Marty wusste, dass es so war, aber er wusste auch, dass er sich deswegen kein bisschen schuldig fühlte oder sie auch nur ein bisschen weniger liebte. Er wollte sie nicht verlieren, aber er war einfach noch nicht bereit, sich selbst aufzugeben.

 »Müssen wir das jetzt entscheiden?«, fragte er.

 »Bald.« Sie stand auf, küsste ihn auf den Scheitel und ging hinaus.

 Und einige Monate später, auf Seite 138 eines anderen Romans, mitten in einem Screening seiner Frau für eine Filmkomparsenrolle, während ein Stück von Christopher Walken in einem Körperteil seiner Frau steckte, beschloss Marty, dass er nun bereit war für Kinder.

 Und wieder ein paar Monate später stellte Marty fest, dass er genauso wenig in der Lage war, eine Figur in einer Gebärmutter zu erschaffen wie auf einem Blatt Papier.

 Buck stieß ihm den Ellbogen in die Rippen und störte ihn bei seinen Gedanken. »Meinst du, das ist ein Erdbeben-Sonderangebot oder der übliche Preis?«

 Marty folgte seinem Blick und entdeckte ein Schild, das von einer halb zerfallenen Steinmauer herunterhing. Darauf stand: »Rundum-Bestattungsservice auf dem Hollywood-Park-Friedhof mit Stahl- oder Holzsarg für nur 988 Dollar … für immer Hollywood.«

 »Was kriegst du bei dem Preis für einen Grabstein? Eine Karteikarte?« Buck schnaubte und schüttelte den Kopf.

 Marty war verblüfft. Nicht wegen des Schildes, sondern wegen der Tatsache, dass er vor den Toren des Hollywood-Park-Friedhofs stand. Er musste wohl die letzten paar Meilen in einer Art Trance und unter Bucks Führung zurückgelegt haben, denn er hatte keine Erinnerung daran, dass sie die Western Avenue verlassen hatten und den Santa Monica Boulevard hinuntergetrottet waren. Doch hier waren sie, direkt außerhalb des ewigen Studiogeländes, wo Jayne Mansfield, Tyrone Power, Harry Cohn, Rudolph Valentino und Cecil B. DeMille im Schatten der Tonstudios der Paramount Studios begraben waren, an die der Friedhof im Süden angrenzte.

 Der Friedhof hatte sich in eine Zeltstadt verwandelt, Hunderte Menschen suchten zwischen umgestürzten Grabsteinen und eingefallenen Krypten Zuflucht und fanden ein gewisses Maß an Sicherheit auf den Grünflächen der Toten.

 Doch Marty beachtete sie nicht. Sein Blick klebte am Paramount-Wasserturm, der über den Tonstudios und dem Friedhof aufragte. Für ihn war dieser Wasserturm wie eine Palme in einer Wüstenoase. Ihn zu sehen, verschaffte Marty ein echtes Gefühl von Erleichterung und Sicherheit, als wäre er bereits zu Hause angekommen.

 Marty gehörte zur Führungsschicht der Branche und hatte eine dauerhafte Zugangserlaubnis für das Paramount-Gelände. Er konnte das Gelände betreten, wann immer es ihm beliebte, er konnte sich im firmeneigenen Laden etwas zu essen besorgen, die Straßen der Kulissenstadt entlangschlendern und den einflussreichsten Autoren, Produzenten und Chefredakteuren der Branche unangekündigt Besuche in ihren Büros abstatten.

 Er wollte jetzt sofort durch die Tore des Studios rennen, in einem der mobilen Umkleideräume duschen, sich in der Kostümabteilung einen Satz frischer Klamotten besorgen und dann in Sicherheit die Katastrophe aussitzen, während er Mineralwasser nippte und an frischem Obst knabberte. Er würde nicht weitermarschieren und angesichts der Verletzten und Toten den Blick abwenden müssen. Sie wären auf der anderen Seite der Mauer.

 Mit Beth.

 Vielleicht verletzt. Vielleicht tot.

 Er wandte sich vom Wasserturm ab und blickte nach Norden, wo das Hollywood-Wahrzeichen oder genauer gesagt die drei davon noch übrig gebliebenen, schiefen Buchstaben gerade noch zu erkennen waren, selbst durch Rauch und Staub, der über umgekippten Palmen und Bürotürmen mit Schlagseite waberte, hindurch.

 Dorthin musste er gehen.

 Marty zog das Tempo an, vor sich den gleichmäßigen Anstieg der Gower Street in Richtung Sunset Boulevard, die Hollywood Hills und das Tal dahinter. Ein paar Blocks weiter sah er aus einem Berg verkeilter Fahrzeuge auf der Überführung des Hollywood Freeway Rauch aufsteigen.

 Er würde es nicht riskieren, unter dem Betonbogen hindurchzugehen; er würde stattdessen nach Westen auf die Franklin Avenue wechseln, dann der Highland Avenue nach Norden folgen, parallel zum Freeway über den Cahuenga-Pass, bis die Avenue ins Tal abfiel und zum Ventura Boulevard wurde.

 »Wenn wir bei mir zu Hause sind, sofern es noch steht, dann muss ich dir mein Badezimmer zeigen.« Buck tauchte neben Marty auf. »Ich habe es mit Cocktailservietten tapeziert, die ich in Bars auf der ganzen Welt gesammelt habe. Die Mädels stehen drauf.«

 Marty starrte ihn ungläubig an. »Echt?«

 »Alles, was du brauchst, ist ein Tacker und ein bisschen Klarlack und schon bist du in Fuck City.«

 »Wenn das hier alles vorbei ist, sollten sie vielleicht statt eines neuen Hollywood-Schilds besser das auf die Hügel schreiben.« Marty machte eine weitschweifige Handbewegung in die Luft, als prangten die Worte kühn über dem ganzen Himmel. »Fuck City.«

 »Da hätte ich eine Anmerkung«, sagte Buck. »Es muss Fucked City heißen.«

 Das war eine Anmerkung, an der selbst Marty nichts auszusetzen fand.

 


 KAPITEL ACHT

 Die Höllenfahrt der Poseidon

 18:47 Uhr. Dienstag.

 In dem Film »Erdbeben« war das Gebäude von Capitol Records das erste, das einstürzte, es kippte um wie der Stapel LPs, den es darstellen sollte. Doch da stand es, immer noch aufrecht, zwei Blocks weiter von dort, wo Marty und Buck sich gerade befanden, an der Kreuzung zwischen Sunset und Vine. Noch so ein Beispiel dafür, wie Filme immer wieder danebenlagen.

 Entwurzelte Palmen waren in verrückten Winkeln umgekippt oder lagen auseinandergebrochen quer über dem Sunset Boulevard, Autos stapelten sich über ihnen oder lagen zerquetscht darunter. Das Cinerama-Dome-Kino zur Linken war übersät mit Rissen und sah aus wie eine weggeworfene halbe Eierschale. Rechts von Marty erhob sich der Büroturm der Quantum Insurance aus einem Garten voller Glasscherben, den die untergehende Sonne in ein glitzerndes Diamantenfeld verwandelte. Es war beinahe schön. Doch Marty hatte ein wachsames Auge auf den Turm, aus Angst, er könnte jeden Moment umfallen.

 Buck wies mit einer Kopfbewegung Richtung Cinerama Dome. »Ich wohne da drüben, auf der Yucca. Nur ein paar Blocks da rüber.«

 »Das liegt nicht auf meinem Weg«, Marty zeigte hinüber zum Capitol-Records-Gebäude. »Ich gehe nach Norden weiter.«

 »Und was ist mit meinem Badezimmer?«

 »Ich will echt nach Hause. Meine Frau wartet auf mich.«

 Buck nickte. »Ja, okay, Thor kann’s wahrscheinlich auch kaum erwarten, mich zu sehen.«

 »Thor?«

 »Ja, Thor. Mein verdammter Hund.« Buck sah ernsthaft verletzt aus. »Hast du mir eigentlich überhaupt nicht zugehört?«

 Meinte dieser Typ das ernst?, dachte Marty. Glaubte Buck wirklich, er würde sich jedes einzelne seiner Worte merken?

 »Verzeih, ich war etwas zerstreut. Du weißt schon, wegen des Erdbebens, weil ich an der Überführung baumelte, solche Sachen.«

 »Okay, wie auch immer.« Buck holte seine Knarre heraus, und für einen Moment fürchtete Marty, er würde wieder auf ihn schießen.

 »Willst du sie haben?« Buck hielt ihm die Waffe hin. »Natürlich nur als Leihgabe.«

 »Was soll ich mit einer Knarre?«

 »Auf Leute schießen, du Penner. Es wird nur noch schlimmer werden da draußen.«

 »Nein, danke«, antwortete Marty. »Ich würde dich nicht der Möglichkeit berauben wollen, noch ein paar Plünderer mehr abzuknallen.«

 »Ich hab ’ne Menge Schusswaffen zu Hause.«

 »Davon bin ich überzeugt. Aber ich brauche sie wirklich nicht.«

 »Du begehst einen fatalen Fehler.« Buck schob das Gewehr wieder ins Holster und streckte Marty seine Hand entgegen. »Wenn du überlebst, treffen wir uns mal zum Mittagessen.«

 Marty schüttelte sie, nicht aus wie auch immer gearteter Freundschaft, sondern im Bestreben, Buck schneller loszuwerden. Er wollte diesen Mann nie wiedersehen. »Sicher, das wäre großartig.«

 Buck nickte und ging schnellen Schrittes die Straße hinunter. Marty blickte ihm hinterher, bis er ihn in der Menge aus den Augen verlor. Er wollte sichergehen, dass Buck ihm nicht wieder folgen würde.

 Zufrieden, dass er tatsächlich allein war, setzte Marty seinen Weg die Straße hinauf mit einer neuen Entschlossenheit in seinem Schritt fort. Dies war ein Wendepunkt auf seiner Reise, und ein positiver noch dazu.

 Als Marty an diesem Morgen zu seiner Wanderung aufgebrochen war, hatte er nicht mit Molly, Buck, Franklin, dem Penner oder der alten Dame mit der Vinyl-Haut gerechnet. Es gab in seinem Drehbuch keine Explosionen oder Rettungen, keine Giftgaswolken und keine unkontrollierbaren Eingeweide. Doch all dem zum Trotz war Marty genau da, wo er sein wollte, und grob im Zeitplan. Der schlimmste Teil seines Martyriums lag hinter ihm.

 Marty Slack hatte die Situation endlich im Griff, ein Mann nahm sein Schicksal in die Hand. Und er genoss dieses fantastische Gefühl in seiner ganzen Fülle für ganze fünfzehn Sekunden.

 Und dann kam das Nachbeben.

 Sein erster Gedanke, in dem Moment, als er den gewaltigen, unterirdischen Donnerschlag gleichzeitig hörte und spürte, war, dass er zu einem Scherz in einer grausamen himmlischen Seifenoper geworden war. Nie wieder würde er es wagen zu denken, er hätte die Kontrolle über sein Leben.

 Marty blieb wie angewurzelt stehen und versuchte, sein Gleichgewicht zu halten, während der Boden unter seinen Füßen wogte und die entsetzten Schreie der Menschen, die um ihn herum durcheinandergewirbelt wurden, von dem heftigen, sonoren Rumpeln der Zerstörung übertönt wurden. Gebäude schienen in den Erdboden zu schmelzen. Riesige Risse bewegten sich die Straße hoch und öffneten den Asphalt wie einen Reißverschluss. Glas spritzte wie Regentropfen auf die sich kräuselnden Gehwege.

 Doch gerade als das Beben abzuebben begann, hörte er ein gewaltiges Getöse, etwas so Tiefes und so Langgezogenes, dass es das Grollen der Erde an Lautstärke und Bewegung noch übertraf, und je näher es kam, desto intensiver und lauter wurde es.

 Ja, es kam näher.

 Das war Martys erste intuitive Warnung dafür, dass das hier anders war. Es war nicht wie das Beben, das er überall spüren konnte, überall gleichzeitig. Das hier kam, gewaltig und grausam, von den Hügeln.

 Und dann sah er es. Für die längste Sekunde seines Lebens war er ob seiner bloßen, horrenden Größe so von Schrecken ergriffen, dass er sich nicht bewegen konnte.

 Eine gigantische Schlamm, Bäume, Autos, Stromleitungen und ganze Häuser mit sich reißende Wasserwand türmte sich über dem Hollywood Freeway auf, krachte in das Gebäude von Capitol Records und absorbierte die Trümmer in ihrem grausamen Mahlstrom.

 Marty rannte vor Entsetzen schreiend weg, wissend, dass es kein Entkommen gab, kein höher gelegenes Gelände, wissend, dass er innerhalb von Sekunden unter einer flüssigen Lawine aus Trümmern, Unrat und Leichen begraben sein würde.

 Das Gebäude der Quantum Insurance ragte vor ihm auf und er stürmte hinein, einzig weil es da war, weil er das Getöse der Wassermassen hören und ihre schlammige Gischt spüren konnte, während sie ihm zu Leibe rückten. Erst dort, als er durch die Lobby rannte und die offene Tür zum Treppenhaus sah, hatte er eine Idee, wie er sich vielleicht retten könnte.

 Er stürzte ins Treppenhaus und erklomm die Metallstufen so schnell er konnte. Die Welle schlug in das Gebäude, brachte es wie ein Boot zum Schwanken und riss Marty von den Füßen. Er bekam das Geländer zu fassen und kletterte weiter, während sich das Wasser von der Lobby aus in das Treppenhaus ergoss, eine wirbelnde, dunkle Masse, die sich gegen ihn erhob.

 Marty hastete wie wahnsinnig die Stufen hoch, den drängenden Wassermassen nur wenige Schritte voraus. Immer noch bebte das Gebäude unter dem Druck des Wassers und der enormen Trümmerteile, die gegen seine Mauern krachten.

 Plötzlich explodierten die Türen über ihm und mächtige Wassermassen ergossen sich auf die Stufen, überschwemmten ihn mit einer dreckigen Brühe aus Unrat, die sich anfühlte wie ein Strom von Rasierklingen, die seine Kleidung und seine Haut aufschlitzten.

 Marty schrie vor Frust und Entsetzen, er rutschte und schlitterte über die glitschigen Metallstufen, panisch darauf bedacht, nicht hinzufallen und in den Sog des Whirlpools zu geraten, der ihn die Treppe hinaufjagte.

 Ein Schreibtischstuhl kam durch eine offene Tür über ihm geschossen, vom Wasser vorwärtsgetrieben, und rotierte seinem Kopf entgegen. Marty drückte sich flach an das Geländer, und der Stuhl wurde von einer Wand an die andere geworfen, an ihm vorbei, klatschte in die schäumende Dreckbrühe und verschwand darunter. Marty kletterte weiter, so schnell er nur konnte, seine Schreie waren eine jubelnde Cheerleader-Truppe, die ihn anfeuerte, ihn hinauftrieb, immer weiter hinauf.

 Aktenschränke und Schreibtische stapelten sich vor den Türen, die er passierte, verstopften sie und verlangsamten so die Wasserfluten, die in das Treppenhaus strömten. Er schrie und kletterte einfach weiter, bis er endlich Türen passierte, aus denen kein Wasser herausquoll.

 Marty hielt an und riskierte einen Blick zurück. Einige Treppenabsätze weiter unten hatte das schäumende Monster seine Verfolgung aufgegeben und schien sich sogar langsam zurückzuziehen. Keuchend, triefend und blutend sackte er auf einer Stufe zusammen, um wieder zu Atem zu kommen, und starrte auf das Wasser hinab.

 Das Gesicht einer Frau stieg aus dem Morast auf, die Augen weit aufgerissen, die Haut zum Bersten gespannt und geschwollen. Er schrie auf und torkelte zurück.

 Beth.

 Es konnte nicht sein. Er blinzelte heftig und schaute noch einmal hin, gerade in dem Moment, als der abgetrennte Oberkörper wieder an die Oberfläche kam. Es war nicht seine Frau, es war eine andere junge Frau, vielleicht der Grund der strapaziösen Reise eines anderen Mannes. Sie war eine Frau, die einmal von jemandem geliebt worden war, jetzt war sie nur noch ein Stück Treibgut, das bereits zu verrotten begann. Niemand würde sie je finden, niemand würde je erfahren, was passiert war. Niemand außer ihm, und er wusste nicht einmal ihren Namen.

 Marty stieg weiter die Treppen hoch, unfähig, seinen Blick von der verstümmelten Leiche abzuwenden, bis sie sich endlich herumwälzte, das Gesicht unter Wasser. Er ging rückwärts durch die erste Tür, an der er vorbeikam, und fand sich in der Lobby der siebten Etage der Quantum Insurance wieder.

 Wie er so dastand, inmitten von holzvertäfelten Wänden und Ledermobiliar, und auf die offene Tür zum Treppenhaus starrte, schaffte Marty es fast, sich weiszumachen, dass das, was gerade passiert war, bloß ein Albtraum im Wachzustand war, eine Sinnestäuschung.

 Es war nicht möglich, im Treppenhaus eines Bürogebäudes zu ertrinken. Wie hatte ihm das beinahe passieren können?

 Doch seine klatschnassen Kleider, das Brennen der Schnittwunden, der Geruch der Verwesung, der sich bereits vom Treppenhaus her ausbreitete, bekräftigten nur, was er eigentlich bereits wusste.

 Es war tatsächlich passiert. Ein Berg aus Wasser war die Vine Street hinabgetost und hatte ihn die Treppen eines Gebäudes hinaufgejagt.

 Und er hatte überlebt.

 Er hatte es besiegt.

 Er war der gottverdammte Charlton Heston.

 Luft pfiff durch die Lobby, wirbelte Papiere, Zeitschriften und Gipsstaub auf und drang in sein Bewusstsein. Er wandte sich von dem Treppenhaus ab und stolperte in die Büros. Noch glimmende Einbaulampen hatten sich in heruntergefallenen Deckenpaneelen verfangen und baumelten über reihenweise umgekippten Arbeitsnischen. Vergessene Brieftaschen, Geldbörsen und Jacken lagen überall verstreut, Beweismaterial einer hastigen Evakuierung.

 Vielleicht, wenn er die Brieftaschen durchsuchte, dachte Marty sich, könnte er die Frau im Treppenhaus ausfindig machen. Oder vielleicht war sie gar nicht aus diesem Gebäude, nicht einmal aus diesem Straßenblock, vielleicht war sie aus ihrem meilenweit entfernten Vorgarten weggeschwemmt worden und die Hügel hinabgetrieben, ihr auseinandergerissener Körper ein Spielball der wirbelnden Wassermassen.

 Marty wies sich selbst zurecht, nicht länger über sie nachzudenken, sondern sie an den Ort in seinem Gehirn zu verbannen, an dem auch Molly war. Mach die Tür zu und versuche, es hinter dem unnützen weißen Rauschen aus Telefonnummern von Restaurants, Erkennungsmelodien von Werbespots und den Namen von Zeichentrickfiguren zu verbarrikadieren.

 Beim Gang durch den breiten Korridor spähte Marty in die verlassenen Büros, die aussahen, als seien sie geplündert worden, die Fenster verschwunden, Wind peitschte herein und wirbelte das Chaos auf.

 Fenster.

 Marty fiel plötzlich ein, dass er sich hier hoch über der Zerstörung befand, dass er, wenn er wollte, sehen konnte, was ihn am Boden erwartete. Er bahnte sich vorsichtig einen Weg in eins der Eckbüros, ängstlich darauf bedacht, nicht auf etwas draufzutreten oder durch die großen Fensterlücken hinunterzufallen.

 Was er sah, ließ ihn schwindeln, ließ ihn an der Wand Halt suchen. Das Ausmaß der Zerstörung war fast zu groß, um es mit dem Verstand erfassen zu können.

 Der Hollywood-Damm war gebrochen und das Staubecken des Lake Hollywood hatte sich über die Stadt ergossen, hatte den ganzen Hang mitsamt den Häusern mit sich gerissen. Die Wasserlawine hatte den Hollywood Freeway weggeputzt und die Einmündung des Cahuenga-Passes unter sich begraben, bevor sie sich in der darunterliegenden Stadt ausbreitete und in einer Trümmerwelle ganze Straßenzüge von der Bildfläche fegte.

 Die Wucht der Wassermassen, die ob des mitgerissenen Unrats zäh dahinflossen, verminderte sich stetig, je weiter sie sich verteilten und je mehr Hindernisse sie überwinden mussten, und dünnte über eine immer größer werdende Ebene des Verderbens aus. Haufenweise schlecht sortierte Wrackteile (übel zugerichtete Schaukeln, verbogene Laternenmasten, Stücke von Fahrbahnen, ganze Busse) wurden angeschwemmt und blieben an Hochhäusern hängen, gefangen wie Seetang und Treibgut, während das Wasser vorbeiströmte.

 Marty eilte von einem Büro ins nächste und prüfte die Aussicht aus den einzelnen Fenstern, er rannte, um so viel zu sehen zu bekommen, wie er konnte, bevor die Einzelheiten in Rauch, Staub und der Dämmerung, die die Stadt zusehends umfing, verschluckt wurden.

 Das Wasser floss immer noch, verdünnte sich zu einem Rinnsal in V-Form, das sich in östlicher Richtung bis zur Western Avenue, im Westen bis La Brea und in südlicher Richtung bis zur Melrose Avenue ausdehnte. Helikopter schwärmten nun über Hollywood aus, Suchscheinwerfer durchkämmten die geflutete Ebene, um Überlebenden zu finden, oder aber um die Sinnlosigkeit der Bemühungen einzuschätzen.

 Und dann realisierte Marty, dass irgendwo unter all dem Schlamm und Unrat, die die Straßen verstopften, Buck Weaver war, seine Waffen, sein Hund und seine Sammlung von Cocktailservietten. Marty kam nicht umhin, sich Buck vorzustellen, wie er sich trotzig der Welle entgegenstellte und sie herausforderte, ihn zu holen, wie er seine Knarre sinnlos in die Wand aus Wasser abfeuerte und ihr Beleidigungen entgegenschrie. Er verspürte eine starke, fast körperliche Trauer, und es überraschte ihn.

 Marty hatte den Kerl nur wenige Stunden gekannt, und was er über Buck wusste, mochte er nicht. Warum also hatte er Tränen in den Augen?

 Ihre Beziehung, wenn man es überhaupt so nennen konnte, war nicht wie in »Männerwirtschaft«. Da war keine versteckte Zuneigung hinter der Fassade ihrer Auseinandersetzungen. Buck war eine Gefahr für sie beide und Marty war froh gewesen, ihn endlich los zu sein. Doch Marty hatte nie gewollt, dass er stirbt.

 Zwei Menschen, die er heute getroffen hatte, mit denen er sogar gesprochen und die er ein kleines bisschen kennengelernt hatte, waren tot. Vielleicht war das der Grund für die Tränen, dachte er. Der Schock des plötzlichen Todes und die Erkenntnis, dass es genauso leicht ihm selbst passieren könnte.

 Vielleicht war es auch gar nicht Trauer, die er verspürte. Es war Angst.

 Was immer es auch war, es war überwältigend, lähmend, und er musste darüber hinwegkommen, sonst wäre er nie in der Lage, das Gebäude zu verlassen.

 Wieder dachte er an Beth und daran, wie wichtig es war, es bis zu ihr zu schaffen. Sie war sein Zentrum. Er sagte sich, dass er, solange er sich nur auf sie konzentrierte, jedes Gefühl überwinden könnte, jedes Hindernis.

 Hindernisse.

 Marty schaute wieder aus dem Fenster. Es war unmöglich, jetzt den Cahuenga-Pass zu passieren. Er würde einen anderen Weg finden müssen, um über die Hügel und ins Tal zu gelangen.

 Der Grund, warum er den Cahuenga-Pass ausgewählt hatte, abgesehen von der Tatsache, dass es die kürzeste Route war, war der, dass er eine breite Fläche weitgehend flachen Geländes darstellte, die sich durch die Hügel zog, es gab keine gefährlichen Klippen, über die er sich Sorgen machen müsste, und er konnte sich von instabilen Hängen fernhalten, die bei einem Nachbeben über ihm einstürzen könnten. Außerdem gab es drei Routen über den Pass, zwischen denen er wählen konnte: die Highland Avenue, den Cahuenga Boulevard und den Hollywood Freeway.

 Es gab mehrere Schluchten, die sich durch die Hügel ins Tal schlängelten, doch die boten nicht die gleichen Vorteile wie der Cahuenga-Pass. Sie waren alle eng, gewunden und vollgestopft mit Häusern, die sich bedenklich an die Seiten der Schlucht klammerten. Lange Straßenabschnitte waren in die Hügel hineingeschnitten worden, sodass steile Abhänge auf der anderen Seite entstanden waren. Ein Erdrutsch, ein abgeschmiertes Stück Straße, und er müsste umkehren.

 Im Nordwesten hingen immense Staubwolken über dem Laurel Canyon, ein Zeichen dafür, dass Erdrutsche diese Route wahrscheinlich schon blockiert hatten oder es zumindest äußerst riskant war, den Canyon zu durchqueren. Und Marty konnte den Widerschein der Feuer sehen, die in den Hügeln über Sherman Oaks wüteten und die unheilvolle Wahrscheinlichkeit steigerten, dass, selbst wenn die anderen Schluchten noch frei waren, die Flammen möglicherweise bald die Zugänge versperren würden.

 Es gab noch zwei andere Wege ins Tal. Er konnte entweder dem San Diego Freeway und dem Sepulveda Boulevard bis über den Sepulveda-Pass folgen, oder, als letzten Ausweg, den Pacific Coast Highway nach Norden nehmen und dann durch den Topanga Canyon oder den Malibu Canyon kreuzen.

 Doch eine frustrierende Tatsache stand fest: Egal, für welche Route Marty sich am Ende auch entscheiden würde, er würde es heute Abend nicht mehr bis Calabasas schaffen.

 Es würde sicher noch einige Stunden dauern, bis das Wasser zurückging und er auch nur versuchen konnte, das Gebäude zu verlassen, ganz zu schweigen davon, sich durch den Schlamm, die Trümmer und die Leichen auf den Straßen zu kämpfen. Und selbst wenn er dazu in der Lage wäre: Wollte er das wirklich? In pechschwarzer Nacht, in einer zerstörten Metropole ohne Strom?

 Ein schrecklicher Gedanke kam ihm in den Sinn. Mit dem Tageslicht würden Hunderte von Leichen auftauchen. Verstümmelt. Aufgedunsen. Überall verstreut, angeschwemmt von der Flut. Marty glaubte, nicht genug Winkel in seinem Hirn zu haben, um all die Toten wegzusperren, die er zu sehen bekommen würde. Er bezweifelte, dass irgendjemand das ertragen konnte.

 Verrückt nach Hause zurückzukehren, würde Beth wenig helfen, oder?

 Nein, sagte er sich, würde es sicher nicht.

 Vielleicht wäre es also für alle Betroffenen einfach das Beste, wenn er einen bequemen Sessel finden und darauf warten würde, dass die Dinge da draußen unter Kontrolle kämen. Wenigstens bis die Nationalgarde endlich auftauchte und damit begann, die Leichen zuzudecken.

 Und Marty war müde, so entsetzlich müde. Jede Sehne und jede Faser in seinem Körper schmerzte. Er konnte das Brennen und den Schmerz jedes einzelnen Kratzers, jedes Blutergusses, jeder Schnitt- und Schusswunde spüren. Seine Füße waren geschwollen und übersät mit Blasen. Und er stank nach Pisse, Blut, Kokosnussöl, Schweiß und trocknendem Schlamm.

 Wäre er denn wirklich von irgendeinem Nutzen für Beth, wenn er in diesem Zustand nach Hause käme?

 Er konnte nicht weiter, nicht heute Nacht.

 Vielleicht nicht einmal morgen.

 Was er brauchte, war eine Verschnaufpause. Eine lange. Marty begann, sich nach einem Platz umzuschauen, wo er sich hinsetzen konnte.

 Der Ledersessel im Büro war nicht schlecht, eines dieser großen, bis zum Platzen gepolsterten Chefmodelle. Er bot Status, Klasse und absolut keine Stütze im Lendenbereich, aber er war perfekt für das, was Marty vorhatte. Er wollte ihn gerade ausprobieren, als er das Pfeifen hörte.

 Es war kein richtiges Lied, eher eine Art ziellose, semimusikalische Improvisation, die Art Geräusche, die Menschen machen, wenn der Körper arbeitet und der Verstand in der Warteschleife dümpelt.

 Marty folgte dem Pfeifen den Gang hinunter und einen zweiten entlang. Als er sich dem Geräusch näherte, begann er auch Rauch zu riechen.

 Der Korridor machte einen Bogen und führte ihn in einen riesigen holzvertäfelten Konferenzraum. Der lange Tisch war unter Aktenstapeln und Datenträgern begraben, die ein kahl werdender Mann, immer noch in seinem Versace-Anzug, nach und nach in ein Feuer warf, das er in der metallenen Mülltonne eines Hausmeisters am Laufen hielt.

 »Wenn Sie gekommen sind, um eine Forderung geltend zu machen: Wir haben geschlossen.« Der Mann sprach ohne aufzusehen und überraschte Marty damit, dem nicht einmal bewusst gewesen war, dass er gesehen worden war.

 »Arbeiten Sie hier?« Nicht, dass es Marty wirklich interessiert hätte, aber er würde für ein Weilchen bleiben, und er wollte wissen, mit wem er hier drin gestrandet war.

 »Ich bin Sheldon Lemp, Geschäftsführer der Quantum Insurance. Und wenn Sie eine Forderung haben, werden Sie wohl ein anderes Mal wiederkommen müssen, obwohl wir Ihnen auch dann nicht werden helfen können.«

 »Ich will hier nur für ein kleines Weilchen bleiben, wenn das in Ordnung ist. Es ist im Moment sicherer, als draußen auf der Straße zu sein.«

 »Da haben Sie recht.« Lemp ließ stapelweise Disketten in das Feuer fallen. »Dieses Gebäude ist aus solidem Stahl gebaut und verfügt über ein spezielles Federungssystem im Fundament, das es ein Beben überstehen lässt. Die meisten Wohnhäuser sind aus Holz und Beton und stürzen einfach ein, egal wie sehr sie verstärkt sind. Achtzig Prozent des Eigentums, das wir versichern, sind Wohnhäuser.«

 »Ich dachte, die meisten Versicherungsgesellschaften hätten nach Northridge aufgehört, Absicherung im Erdbebenfall anzubieten.«

 »Haben sie auch, also kamen die Leute in Scharen zu uns, mit weit geöffneten Scheckheften.« Lemp hob mit seinen Händen einen ganzen Stapel Akten hoch und ließ sie ins Feuer fallen. Funken stoben heraus und zwangen ihn, einen Schritt zurückzutreten.

 »Hey, immer langsam«, sagte Marty. »Diese Funken könnten das ganze Gebäude in Brand setzen.«

 »Das ist in Ordnung, wir sind versichert.« Lemp lachte mit einem Vergnügen, das an Hysterie grenzte. Marty beobachtete ihn wachsam und versuchte einzuschätzen, ob der Mann eine Gefahr für ihn darstellte.

 Als Lemps Lachen endlich verebbte, gleichzeitig mit den Flammen, versenkte er noch mehr Akten im Feuer. »Dieses Beben sollte eigentlich erst in zwanzig oder dreißig Jahren kommen. Das haben jedenfalls die ganzen Experten gesagt. Wussten Sie das?«

 »Nein, wusste ich nicht.«

 »Seit 1994 haben wir 17 000 Erdbebenpolicen für Wohnhäuser in Südkalifornien ausgestellt, mit einer durchschnittlichen Jahresprämie von 1400 Dollar. Das hat eine Riesenmenge Cash generiert, die ich investiert habe, um unsere Reserven zu Kapital zu machen und die Profite zu maximieren. Da mir versichert worden war, dass es für die nächsten Jahrzehnte kein Erdbeben geben würde, fühlte ich mich mit dem größeren Risiko um einiges wohler als unser Vorstand, also habe ich originelle Wege gefunden, wie ich dessen Aufsicht umgehen konnte.«

 »Verstehe«, Marty blickte noch einmal auf die Berge von Akten und Disketten, die den langen Tisch bedeckten. »Sie haben einige schlechte Investitionen getätigt, und jetzt haben Sie nicht das Geld, um die Forderungen zu begleichen.«

 »Es wird einige Rechtsfragen geben, mit denen wir fertig werden müssen.« Lemp schleuderte Disketten ins Feuer, eine nach der anderen, wie kleine Frisbee-Scheiben. »Tausende von Zivilklagen, mit Sicherheit, außerdem eine strafrechtliche Verfolgung unter Staats- und Bundesanklage.«

 »Sie beseitigen also das Beweismaterial.«

 Lemp lachte wieder, ein angespanntes Piepsen. »Oh, davon gibt es viel zu viel. Ich kann nur hoffen, einen unwesentlichen Aspekt meiner finanziellen Aktivitäten zu vertuschen, einige bescheidene Darlehen, die ich mir selbst gewährt habe, als symbolische Kompensation für die wertvollen zusätzlichen Dienste, die ich der Firma erwiesen habe.«

 »Macht die Tatsache, dass Sie mir alles darüber erzählen, nicht den Sinn dessen zunichte, das Vergehen zu vertuschen?«

 »Nicht wirklich.« Lemp lächelte Marty an. »Wenn ich damit fertig bin, all das zu verbrennen, werde ich mich umbringen.«

 Marty fragte sich, wie lange man mit jemandem reden musste, bevor dessen Tod irgendeine emotionale Wirkung auf einen hatte, oder ob es ausreichte, jemanden nur zu sehen, bevor er starb.

 Er prüfte seine Armbanduhr. Seine Augen waren so müde, dass es ihm schwerfiel, das Ziffernblatt unter dem gesprungenen Kristall scharf zu sehen. Es war fast acht Uhr abends.

 »Hören Sie, Sheldon, ich werde mir eine Couch suchen und mich hinlegen«, sagte Marty. »Könnten Sie mir einen Gefallen tun? Versuchen Sie, die Bude nicht in Brand zu stecken, bevor Sie sich unter die Erde bringen.«

 »Schöne Träume.« Lemp pfefferte eine Festplatte ins Feuer und begann wieder zu pfeifen.

 Marty verließ den Konferenzraum und ging zurück zur Eingangslobby, in der er sich von drei hübschen Sofas eins aussuchen konnte. Lemp mochte zwar das Geld des Unternehmens verschleudert haben, aber wenigstens hatte er einige gute, bequeme Möbelstücke gekauft, bevor es unterging.

 Er streifte seinen Rucksack ab und ließ seine nasse, verkrustete Jacke gleich mit ihm von den Schultern gleiten, dann schleuderte er seine Schuhe von den Füßen, an denen die Socken klebten wie eine zweite Haut. Marty pellte sie, auf der Kante der Couch balancierend, vorsichtig ab und legte sie zum Trocknen auf den Kaffeetisch. Schließlich lehnte er sich zurück und ließ seinen Körper in die weichen Kissen sinken.

 Marty schlief bereits, bevor er die Augen geschlossen hatte.

 


 KAPITEL NEUN

 Der Morgen danach

 Das Gebäude stand in Flammen und sie saßen im obersten Stockwerk fest, von den Flammen unter ihnen in die Enge getrieben.

 »Was sollen wir tun?«, fragte ihn Fred Astaire.

 Marty gab ihm ein Seil. »Binde dich an dem Pfeiler fest, wir werden die Wassertanks auf dem Dach in die Luft jagen.«

 »Wir könnten alle ertrinken.«

 »Hast du schon mal davon gehört, dass jemand in einem Bürogebäude ertrunken ist?« Marty gab ihm einen beruhigenden Klaps auf die Schulter. »Vertrau mir, ich hole uns hier raus.«

 Marty machte einen kurzen Rundgang durch den Raum, überprüfte alle und stellte sicher, dass sie gut an ihren Plätzen festgebunden waren. Als er sich davon überzeugt hatte, dass alle bereit waren, befestigte er sich selbst an einem Pfeiler neben Paul Newman.

 »Du bist der tapferste Hurensohn, den ich je getroffen habe«, sagte Paul.

 »Ich bin nur ein ganz gewöhnlicher Mann in einer außergewöhnlichen Situation.«

 »Es gibt ein Wort dafür«, Paul schaute ihm direkt in die Augen und verwandelte sich in Buck. »Wir nennen sie Helden.«

 »Sobald das hier vorbei ist, will ich diese Serviettensammlung sehen.« Marty holte die Fernbedienung heraus und drückte auf den Knopf, der das Sprengmaterial zündete.

 Das gesamte Gebäude erzitterte und das Dach stürzte ein. 50 000 Gallonen Wasser ergossen sich in den Raum; die Sturzflut schwemmte Tische und Stühle und Menschen einfach aus den Fenstern. Er hielt sich fest, der Sturzbach arbeitete sich wütend an ihm ab. Auf einmal rutschte Martys Seil vom Pfeiler und er spürte, wie er quer durch die Etage auf die Skyline von San Francisco und einen 90 Stockwerke tiefen Fall zusteuerte.

 »Nein!«, schrie er, und das Wasser trug ihn hinaus in den Nachthimmel. Purzelbäume schlagend stürzte er in die Tiefe.

 Plötzlich spannten sich die Pisslaken um ihn herum, und er baumelte bei Tageslicht nur ein paar Fuß über der dem Untergang geweihten 747, die Stewardess Karen Black starrte durch den klaffenden, gezackten Riss im Cockpit zu ihm hoch. Ihre Augen sagten Marty alles, erzählten ihm von ihrer Verzweiflung, ihrer Angst, erzählten ihm, dass sie ihn brauchte. Ohne ihn hatten sie alle keine Hoffnung mehr.

 Marty schaute nach oben, sein Blick folgte dem Strang aus Pisslaken bis zu dem Militärhubschrauber, der ihn in Richtung des führerlosen Flugzeugs manövrierte. Er machte ihnen ein Zeichen, ihn noch näher heranzubringen, bis Karen ihn am Gürtel zu packen bekam und ihn ins Flugzeug hineinzog.

 Sobald seine Füße den Boden des Cockpits berührten, griff er nach dem Pilotensitz, um sich zu stabilisieren, und machte seine uringetränkte Rettungsleine los. Der Helikopter drehte augenblicklich ab, um das Drama aus sicherer Entfernung zu verfolgen.

 »Gott sei Dank, dass Sie hier sind.« Karen klammerte sich an ihn wie an einen längst verloren geglaubten Liebhaber, was er, wie ihm klar wurde, wahrscheinlich auch war. »Es gibt niemanden, der die Maschine steuert.«

 »Jetzt schon.« Marty entzog sich sanft ihrer Umarmung, während sich ihre Uniform in einen einteiligen Badeanzug verwandelte. Die alte Dame roch nach Kokosnussöl und hielt ihm eine Rolle Toilettenpapier entgegen.

 »Keine Sorge«, sagte er. »Ich bringe das Baby sicher wieder runter.« Marty richtete sich im Pilotensitz ein, nur dass er jetzt zum Fahrersitz eines Pick-ups geworden war. Souverän legte er die Hände um das Steuerrad, riss es heftig nach links herum und schrammte knapp an dem Feuerball vorbei, der aus der Teergrube von La Brea emporgeschossen kam.

 Der Pick-up schlitterte über den Wilshire Boulevard, eine weitere Feuerkugel sprengte den Asphalt vor ihm weg. Wieder riss er das Steuer herum und der Wagen überschlug sich fast, als er gekonnt einem Beinahekontakt mit dem feuerflüssigen Todesball auswich.

 »Halt’ dich fest«, rief Marty Anne Heche zu, der schönen, eigensinnigen und im Moment heterosexuellen Geologin neben ihm. Er brachte das Auto schlitternd zum Stehen. »Aussteigen!«

 Sie sprangen kopfüber aus dem Wagen, gerade noch rechtzeitig, bevor eine Feuerkugel hineinkrachte und ihn in seine Einzelteile zerlegte.

 »Lauf!« Marty nahm Annes Hand, und gemeinsam rannten sie durch den Feuerregen, der aus dem Lava-Geysir, der über dem L. A. County Museum emporragte, hervorgeschossen kam.

 Endlich waren sie außer Reichweite der Feuergischt, sicher abgeschirmt durch ein hohes Gebäude. Er drückte ihre Hand und drehte sich zu ihr um. »Wir haben es geschafft.«

 Nur – Anne war verschwunden. Er hielt ihren abgetrennten Arm in der Hand.

 Marty ließ ihn schreiend fallen und blickte in die Richtung, aus der er gekommen war. Und dann sah er Molly, gefangen in ihrem Volvo, wie sie langsam von dem Höllenfeuer verzehrt wurde, ihre Augen flehten ihn an …

 Der Knall eines Schusses ließ das Bild wie Glas zerplatzen, und Marty saß kerzengerade und mit weit aufgerissenen Augen auf der Couch, völlig desorientiert, zu Tode erschrocken, sein Herz hämmerte.

 Marty befand sich im Eingangsbereich eines Büros. Eine Brise wehte und Pfeile aus Sonnenlicht fielen durch die fehlenden Fenster auf der östlichen Seite der Etage herein.

 Dann fiel ihm alles wieder ein.

 Wo er war. Was passiert war.

 Vereinzelte Erinnerungen aus dem Albtraum, sowohl dem echten vom Tag zuvor als auch dem im Schlaf geträumten, schwirrten durch sein Bewusstsein.

 Marty schaute auf die Uhr. Es war 6:50 Uhr, Mittwochmorgen. Sein Mund war trocken, seine Lippen aufgesprungen. Seine Haut juckte unter den Klamotten, die steif wie Pappe waren. In seinem Knöchel hämmerte es an genau der Stelle, wo er in der zweiten Klasse einmal gebrochen gewesen war. Trotz allem fühlte Marty sich viel besser als noch letzte Nacht.

 Er griff nach unten, um den Reißverschluss seiner Tasche zu öffnen, und zuckte vor Schmerz zurück. Es fühlte sich an, als würde er seine Muskeln zerreißen statt sie zu dehnen, als wäre er von den Toten erwacht, um festzustellen, dass sein Körper in Leichenstarre erkaltet war. Er fand eine Flasche Evian, öffnete sie und trank gierig, dabei vergoss er absichtlich etwas Wasser über seine Lippen und Wangen. Er kippte den Kopf nach hinten, um den letzten köstlichen Tropfen Wasser herauszuholen, als sein Blick auf den Stuhl ihm gegenüber fiel.

 Marty rang nach Luft, verschluckte sich am Wasser, er hustete und würgte und starrte dabei entsetzt und ungläubig auf das, was dort saß.

 Buck hing zusammengesackt im Sessel, sein steifer Körper war schlammverkrustet und mit Glassplittern gesprenkelt. Der Kopfgeldjäger hatte sich seinen Weg aus dem Grab freigekämpft, um ihn heimzusuchen.

 Das war nicht möglich. Es musste ein Trugbild sein.

 Marty hob die leere Evian-Flasche auf und warf sie nach Buck. Die Flasche prallte von Bucks Stirn ab und rollte über den Boden.

 Bucks Augen öffneten sich funkelnd, und wieder jaulte Marty entsetzt auf.

 »Was zum Teufel ist nur los mit dir?«, krächzte Buck mit rauer Stimme und richtete sich im Sessel auf.

 Marty starrte ihn an. »Bist du echt?«

 »Hast du gerade eine verdammte Flasche nach mir geworfen?«

 »Sie war leer«, stammelte Marty.

 »So weckst du also normalerweise Leute auf? Du könntest ein verdammtes bisschen Rücksicht an den Tag legen, besonders nach allem, was ich durchgemacht habe.«

 Marty begutachtete Buck genau. Es war unglaublich. Unmöglich. Niemand hätte diese Flut überleben und ihn finden können.

 »Du bist tatsächlich hier, lebendig«, sagte Marty, mehr als Frage denn als Feststellung.

 »Hast du ein Problem damit, Marv?«

 »Ich heiße Marty. Wie oft muss ich dir das noch sagen?«

 »Meinetwegen. Gib mir mal so ein Froschwasser. Ich fühle mich, als hätte mir jemand in den Hals geschissen.«

 Marty warf ihm eine Flasche Wasser zu.

 Buck fing sie auf, drehte den Deckel ab und nahm einen großen Schluck, gurgelte damit und spuckte auf den Boden aus. Er spuckte noch ein paar Mal, dann trank er den Rest der Flasche aus.

 Buck versteifte sich, seine Augen traten aus den Höhlen. »Oh, Scheiße.«

 Er beugte sich abrupt nach vorne und würgte eine Menge Erbrochenes hoch, die Linda Blair stolz machen würde. Marty brachte sich und seine Tasche krabbelnd aus der Schusslinie. Buck würgte weiter, sein gesamter Körper zuckte krampfartig bei jeder der anfallartigen Entladungen.

 Als es endlich aufhörte, krümmte Buck sich vornüber. Erschöpft ließ er seine Ellbogen auf den Knien ruhen und seinen Kopf schlaff zwischen seinen Beinen herunterhängen.

 »Jesus«, murmelte Buck. »Ich muss wohl das ganze verdammte Treppenhaus verschluckt haben.«

 »Du warst im Treppenhaus?«, fragte Marty.

 »Wie zur Hölle, denkst du, bin ich denn sonst hierhergekommen?«

 »Ich hab keine Ahnung.« Marty saß auf der Armlehne des Sofas und schaute ihn an. »Es macht für mich keinen Sinn. Ich habe dich weggehen sehen. Du warst nicht in meiner Nähe, geschweige denn in der Nähe dieses Gebäudes.«

 »Ich habe kehrtgemacht und bin dir gefolgt.«

 »Warum?«

 »Weil du so verdammt hilflos bist. Ich wollte nur sichergehen, dass du es zumindest lebend zum Cahuenga schaffst.« Buck hob den Kopf. »Ich hätte nie gedacht, dass am Ende du meinen Arsch retten würdest.«

 »Ich habe nichts getan«, sagte Marty. »Ich hab dich nicht einmal gesehen.«

 »Ich stand einfach da herum und starrte diese verdammte Welle an, als du direkt an mir vorbeigeschossen kamst. Hast mich damit aus meiner verdammten Trance gerissen. Ich bin dir hinterher in das Gebäude gerannt, aber das Wasser erwischte mich, gerade als ich ins Treppenhaus kam. Ich hab überhaupt nichts mehr gesehen, verdammt, ich konnte mich kaum bewegen. Es war wie durch nassen Zement zu schwimmen. Als ich mich gerade damit abgefunden hatte, dass ich ertrinken würde, knallte ich gegen ein Geländer, packte es und begann, mich durch die Scheiße hochzuziehen, und ich meine wirklich: Scheiße. Ich kam raus, kroch ein paar Stufen hoch und sank dahin wie eine Elfe. Wachte zwei Stunden später neben der verdammten Frau aus ›Der weiße Hai‹ wieder auf.«

 Marty wollte nicht wieder an die Frau aus dem Treppenhaus denken. »Klingt für mich, als hättest du dich selbst gerettet.«

 »Ich bin dir gefolgt«, sagte Buck. »Du hast mich in das Treppenhaus geführt, darum hast du mir das Leben gerettet. Lässt es mich fast bereuen, auf dich geschossen zu haben.«

 »Es sei dir verziehen.«

 »Ja, du mich auch. Ich sagte fast, Arschloch. Du kannst von Glück reden, dass ich meine Knarre nicht bei mir habe, sonst wäre ich versucht, schon wieder auf dich zu schießen.«

 »Hast du sie im Wasser verloren?«

 Bucks Kopf ruckte Richtung Flur. »Ich hab sie dem Schwachkopf geliehen.«

 Marty erinnerte sich schlagartig an den Schuss, der ihn aufgeweckt hatte, und alles passte zusammen. »Jesus Maria, Buck! Der Typ war selbstmordgefährdet.«

 »Weiß ich.«

 »Das wusstest du?«

 »Wozu, zum Teufel, glaubst du, habe ich ihm die Knarre wohl geliehen?«

 Marty ließ seinen Rucksack auf die Couch fallen, schlüpfte barfuß in seine verkrusteten Tennisschuhe, und ohne sich die Mühe zu machen, sie zuzuschnüren, rannte er den Korridor hinunter zum Konferenzraum.

 Buck seufzte, stand auf und stapfte langsam hinter ihm her.

 Der Konferenzraum war leer. Das Einzige, was noch übrig war, waren ein sauberer Tisch und eine leere Mülltonne mit angesengtem Rand, aus deren Innerem immer noch Rauch aufstieg.

 Marty trat aus dem Konferenzraum und stieß beinahe mit Buck zusammen. Er ging durch den Flur und spähte in jedes Büro.

 »Wie konntest du ihm nur deine Waffe geben?«, fragte Marty.

 »Er stand vor einem der Fenster und hatte nicht die Eier zu springen. Der Loser hat mich gebeten, ihn zu schubsen. Auf gar keinen verdammten Fall hätte ich das getan, also gab ich ihm meine Knarre.«

 »Welches Büro?«

 »Das große in der Ecke.«

 Marty eilte den Gang hinunter. Buck zockelte ihm hinterher.

 Sie fanden Sheldon Lemp in dem großen Chefsessel mit der lausigen Lendenstütze, sein Hinterkopf fehlte. Die schlammverkrustete Waffe noch immer in seiner Hand, hing sein Arm von der gepolsterten Armlehne herab.

 »Du hättest einfach weggehen können, Buck«, sagte Marty. »Er würde vielleicht immer noch an diesem Fenster stehen, wenn du das getan hättest.«

 »Oder auch nicht.« Buck ging zu Lemp hinüber und untersuchte die Rückseite des Sessels. »Willst du mal was Lustiges hören? Rate mal, welches Unternehmen meine Wohnung versichert hat?«

 Auf einen Schlag wurden Marty die unschönen Zusammenhänge klar. Es wurde mit jeder Sekunde schlimmer. »Im Grunde erzählst du mir, dass du den Mann ermordet hast.«

 »Nein, ich erzähle dir, warum es mich im Grunde einen Scheiß interessiert, dass er im Grunde tot ist.« Buck nahm Lemp seine Pistole aus der Hand.

 »Die Polizei wird das eventuell anders interpretieren.«

 »Wirst du es ihnen sagen?«

 Marty blickte Buck in die Augen. Sie wussten beide, dass Marty das nicht tun würde.

 »Diese Firma hat deine Wohnung versichert. Der Typ hier hat deren gesamte Kohle verbraten. Und er wurde mit deiner Knarre erschossen«, sagte Marty mitfühlend. »Ich schätze, die sind in der Lage, von ganz alleine auf ein ziemlich überzeugendes Mordmotiv zu kommen.«

 »Nicht ohne die Waffe, Columbo«, Buck steckte sie ins Holster, »und nicht ohne die Kugel, die mit dem Großteil seines Gehirns durch das verdammte Fenster geflogen ist.«

 »Was ist mit Sachbeweisen? Haare, Fasern, Fingerabdrücke?«

 »Ach was. Hast du dich an diesem verdammten Ort mal umgesehen?« Buck schnaubte und ging an ihm vorbei in den Flur. »Gibt’s hier irgendwo eine Küche?«

 Marty warf noch einen Blick auf Lemp. Buck hatte recht, es würde niemanden interessieren, nicht nach den Tausenden, die beim Erdbeben umgekommen waren, und sicher nicht, nachdem sie herausgefunden haben werden, was Lemp getan hatte.

 Und die Wahrheit war, auch Marty interessierte es nicht wirklich. Er war es nur einfach nicht gewohnt, dass Leute starben. Doch das änderte sich gerade.

 Sie stopften sich mit einem Frühstück aus Kartoffelchips, Müsliriegeln, Oreo-Keksen, Pop Tarts und warmem Snapple-Eistee in fünf verschiedenen Geschmacksrichtungen voll.

 Es war die beste Mahlzeit, die Marty je zu sich genommen hatte.

 Danach sammelte Marty ein paar Flaschen Wasser zusammen, dazu noch ein paar Müsliriegel, steckte alles in seine Sporttasche und ging anschließend auf die Suche nach einer Hautcreme für sein sonnenverbranntes Gesicht und den Nacken. Er durchstöberte die Schreibtische und die zurückgelassenen Handtaschen der Sekretärinnen. Frauen hatten immer Hautcreme dabei. Sein Glaube an das Wesen der Frauen wurde belohnt; er fand etwas Neutrogena und nahm sie mit zu den Toiletten.

 Dort sah es aus, als hätte jemand mit einer Uzi um sich geschossen. Der Boden war übersät mit Glasscherben und Fliesenstücken, die unter seinen Schritten knirschten. Er trat vorsichtig auf, sich die Szene aus »Stirb Langsam« ins Gedächtnis rufend, in der Bruce Willis sich selbst die Glasstücke aus den blutenden, nackten Füßen ziehen muss. Marty trug zwar Tennisschuhe, aber er wollte es trotzdem nicht darauf ankommen lassen.

 Marty warf einen kurzen Blick in die Toilettenkabinen und wünschte sich, er würde das Bedürfnis verspüren zu scheißen. Er wusste nicht, wann er das nächste Mal an einer Toilette mit abschließbarer Tür vorbeikommen würde. Obwohl es kein fließendes Wasser gab, pisste Marty in das Urinal, denn dafür war es vorgesehen, auch wenn es nicht funktionierte.

 Buck verspürte keine derartige Verpflichtung. Direkt nach dem Frühstück hatte er aus dem Fenster gepisst und Marty erzählt, wie großartig es sich anfühlte.

 Marty machte seinen Reißverschluss zu und ging zum Waschbecken, um seine Hautcreme aufzutragen. Als er sich in dem gesprungenen Spiegel anschaute, überraschte ihn das Gesicht, das ihm entgegenstarrte. Die Jungenhaftigkeit, die sein Gesicht immer charakterisiert hatte, die er schon so lange zu seinem Vorteil zu nutzen wusste, war komplett verschwunden. Es lag nicht an der klaffenden Wunde auf seiner Stirn, nicht an dem getrockneten Blut und dem Dreck in seinen Haaren, nicht am Sonnenbrand und auch nicht an den Bartstoppeln.

 Er hatte immer ein Leuchten in den Augen gehabt, auch wenn er wütend war, und sein Gesicht strahlte eine entspannte, ungezwungene Anmut aus, die den Anflug eines Grinsens zu verbergen schien. Doch jetzt waren seine Augen stumpf, als wären sie eine Schattierung dunkler geworden, und es lag eine seltsame Spannung auf seiner Haut, wie Lehm, wenn er hart wird. Es machte ihm Angst.

 Er sah nicht mehr wie die Führungsperson eines TV-Senders oder wie ein Autor aus. Diese Zartheit und Sterilität, die daher rührten, inmitten von kühler, klimatisierter Luft unter künstlichem Licht frisch gehalten zu werden, waren verschwunden. Er war nicht gekämmt, er war schmutzig und ein bisschen verzweifelt, wie ein Obdachloser, nur ohne die nötige Aura von Niederlage und Ziellosigkeit. Da war noch etwas anderes, etwas Neues und doch Vertrautes.

 Marty betrachtete sich genauer, sein Gesicht passte nicht so recht zusammen, war von den Rissen im Spiegel in Puzzleteile zerlegt. Jetzt sah er es: Es war das Gesicht eines dieser schwitzenden Besatzungsmitglieder eines U-Boots in einem Kriegsfilm, das nur darauf wartete, die nächste Unterwasserbombe zu zünden. Ein Seemann fühlt so viele Dinge gleichzeitig: Klaustrophobie. Resignation. Angst. Mut. Unsicherheit.

 Oder war es etwas anderes? Was sollte ihm diese Miene sagen? Dieser Ausdruck in seinen Augen? Wer war er jetzt?

 Ach, hör schon auf! Mit deinem Gesicht ist alles in Ordnung, schimpfte er mit sich selbst. Wie kannst du dich in einem kaputten Spiegel beurteilen wollen? In diesem schummrigen Licht, diesem zerbrochenen Glas würde jeder seltsam aussehen. Es sind nur die Erschöpfung und der Sonnenbrand, nichts, was ein bisschen Schlaf und etwas Creme nicht kurieren könnten. Denk nicht weiter darüber nach. Du bist derselbe Mann, der du immer warst.

 Doch als Marty sein Gesicht mit der Lotion einrieb, wusste er, dass das nicht stimmte. Etwas war anders.

 Marty und Buck trafen sich ein paar Minuten später in der Eingangshalle, als Marty gerade seine steif getrockneten Socken überzog.

 »Gute Neuigkeiten«, sagte Buck. »Es gibt einen Feuerwehrschlauch auf diesem Stockwerk. Ich wette, jedes Stockwerk hat einen.«

 »Und?«

 »Wir werden ihn brauchen, um hier rauszukommen.«

 »Ich kann dir nicht folgen.«

 »Weil du nicht halb so schlau bist wie ich. Frag dich doch mal, wie wir hier rauskommen.«

 »Auf dem gleichen Weg, wie wir reingekommen sind«, antwortete Marty, auch wenn ihm vor der Aussicht graute.

 »Das Treppenhaus und die Lobby werden mit Autos, Bäumen, Häusern und wer weiß, was zur Hölle noch so alles, vollgestopft sein. Selbst wenn wir da durchklettern könnten, wird dieser ganze Scheiß wohl ziemlich wackelig sein. Wir müssen also runter auf die erste Etage, einen Feuerwehrschlauch an etwas Stabilem befestigen und uns nach draußen abseilen. Comprendo

 Marty nickte, während er seine Schuhe zuband. »Ja, ja, comprendo

 »Also, wohin gehen wir danach?«

 »Wir?«

 »Bist du verdammt noch mal hirntot oder einfach nur ein Arschloch?« Buck durchbohrte ihn mit seinem Blick.

 Offensichtlich hatte Buck keinen Ort, an den er gehen konnte, und niemanden, der auf ihn wartete, und er war ein zu stolzer Mann, als dass er zugegeben hätte, dass er einsam war oder Angst hatte. Marty wusste das, doch sein Mitgefühl schien nicht auszureichen, um seine intuitive Abneigung gegen den Mann zu überwinden. Warum konnte Marty sich nicht eingestehen, dass er von Herzen froh darüber war, dass Buck am Leben war? Dass er dankbar dafür war, den Weg nicht alleine gehen zu müssen?

 »Ein Arschloch«, gab Marty zu.

 Buck grunzte nur, von Martys Eingeständnis kein bisschen milder gestimmt.

 »Hier ist mein Plan«, sagte Marty. »Wir gehen nach Süden, bis wir die schlimmsten Auswirkungen der Flut hinter uns haben, dann arbeiten wir uns in nordwestlicher Richtung wieder zurück und nehmen den Sepulveda-Pass ins Tal.«

 Buck starrte ihn immer noch wütend an. »Was, wenn du Hilfe brauchst, um deine Frau aus den Trümmern deines Hauses zu befreien, hast du darüber mal nachgedacht?«

 »Nein, habe ich nicht.«

 »Was so viel bedeutet wie: Du bist hirntot und ein Arschloch.« Buck ging davon in Richtung Treppenhaus.

 Marty schätzte, er habe es wohl nicht anders verdient. Er streifte die ledernen Arbeitshandschuhe über, die er aus dem Kamera-Truck am Set hatte mitgehen lassen, rückte die Staubmaske über Mund und Nase zurecht, warf sich die prall gefüllte Sporttasche über die Schulter und folgte Buck ins Treppenhaus.

 8:04 Uhr. Mittwoch.

 Im Treppenhaus war der widerwärtige Gestank der Fäulnis unerträglich, doch es war ein Rosengarten im Vergleich zur Straße, die sie bereits riechen konnten, als sie den Feuerwehrschlauch aus dem ersten Stockwerk nach unten ließen.

 Überall lagen Leichen und Leichenteile verstreut. Und zwar nicht nur Männer, Frauen und Kinder, sondern auch Hunde, Katzen, Pferde, sogar Vögel. Die Leichen hatten sich in gewaltigen, sich zersetzenden Ansammlungen aus verrottendem Essen, elektrischen Leitungen, Betonbrocken, Kleidern, Motorrädern und ganzen Sitzreihen aus Bussen verheddert, um nur einige der großen und kleinen Dinge zu nennen, die eine Stadt ausmachen.

 Marty und Buck mussten durch all das durchwaten, klettern und kriechen, während sie sich aus der natürlichen Angst heraus, der Tod könnte ansteckend sein, Mühe gaben, nichts davon zu sehen, einzuatmen oder zu berühren.

 Die beiden Männer waren nicht die Einzigen auf der Straße. Es gab Überlebende, die in den Trümmerhaufen herumstocherten und verzweifelt nach ihren verloren gegangenen Liebsten suchten, und Rettungskräfte, die ihnen halfen, all den Schutt zu durchwühlen, und die ihre sinnlose Hoffnung auf ein Wunder teilten.

 Doch Marty beachtete diese Menschen nicht. Er konzentrierte sich nur darauf, vorwärtszukommen, und lenkte sich von dem überwältigenden Geruch und dem grotesken Mosaik des gewaltsamen Todes ab, indem er an Beth dachte, an das Leben, zu dem er zurückkehren würde, das Leben, das sie gehabt hatten, bevor ihre Welt auf den Kopf gestellt wurde.

 Ich weiß, dass es keinen Sinn hat. Wir sind beide verheiratet, und wir lieben unsere Partner beide. Aber du kannst nicht bestreiten, dass da etwas Großes mit uns passiert.« Beth stand vor ihm und kam einen Schritt näher, sie begab sich damit in diesen nur wenige Zentimeter umfassenden Raum zwischen zwei Menschen, der Liebenden vorbehalten ist.

 »Doch, kann ich.« Marty las die Worte aus dem Drehbuch vor, er versuchte erst gar nicht, sie zu spielen. Er hätte nicht gewusst, wie. Das war einer der vielen Gründe, warum er sich unbeholfen fühlte, wenn er Beth beim Einstudieren half.

 »Schwachsinn«, sagte Beth. »Schau mir in die Augen und sag mir, dass du mich nicht küssen willst.«

 »Ich will dich nicht küssen.«

 Sie kam noch einen Schritt näher, ihre Körper berührten sich fast. »Was willst du dann?«

 Marty blickte auf die Seiten in seiner Hand, es war ihm peinlich, dass sie zitterte, und las laut: »Logan packt sie plötzlich am Hemd und zerreißt es, Knöpfe fliegen davon, und in einer von Lust befeuerten Raserei vergräbt er sein Gesicht gierig zwischen ihren Brüsten.«

 »Tu’s«, sagte sie mit heiserer Stimme, immer noch in der Rolle.

 »Was?«

 »Tu es.«

 Er ließ das Drehbuch auf den Boden fallen, schnappte die Vorderseite ihrer Bluse und versuchte, sie aufzureißen, doch die verdammten Knöpfe gingen einfach nicht ab. Er riss noch einmal daran. Und noch einmal. Beth musste lachen, und Marty auch.

 »Was hast du gemacht«, fragte Marty grinsend, »die Knöpfe angeschweißt?«

 »Schwächling«, neckte sie ihn.

 »Okay, Wonder Woman, versuch du es mal.«

 Beth schob seine Hände beiseite und versuchte ihrerseits, ihre Bluse aufzureißen. Die Knöpfe wollten auch bei ihr nicht abgehen, was die ganze Sache nur noch lustiger machte. Keiner von beiden konnte aufhören zu lachen.

 »Vielleicht, wenn ich ein paar Knöpfe aufmache.« Sie zog ihre Bluse aus dem Bund und öffnete von oben ein paar Knöpfe, sodass ein Hauch von Dekolleté zu sehen war. »Versuch’s noch einmal.«

 Marty ließ seine Finger zwischen die Knöpfe gleiten, achtete darauf, den Stoff gut festzuhalten, und zog, so kräftig er nur konnte. Ein armseliger Knopf platzte ab, die anderen waren wie festgetackert. Beide brachen erneut in Lachen aus, gegeneinandergelehnt wie in einer unbeholfenen Umarmung.

 »Ich wette, Lorenzo Lamas hätte keine Probleme damit«, sagte sie.

 »Ach, fick den doch«, antwortete Marty.

 »Werd’ ich«, lächelte Beth spitzbübisch.

 »Ach ja?« Marty packte sie an der Vorderseite ihrer Bluse und riss daran, riss sie weit auf. Sie zog sein Gesicht zu ihren Brüsten und küsste ihn auf den Kopf, während sie mit den Fingern sein Haar durchwühlte.

 »Du bist genau wie ein Schauspieler, Marty. Alles, was du brauchst, ist die richtige Motivation.«

 


 KAPITEL ZEHN

 Kennenlernen

 10:20 Uhr. Mittwoch.

 Martys Füße brachten ihn um. Er war den ganzen Morgen auf Blasen gelaufen, und es wurde immer schlimmer. Es war schwierig genug, sich seinen Weg durch die Trümmer zu bahnen, doch als er sich jetzt durch den Unrat kämpfte, fühlte sich jeder Schritt an, als würde er seine Füße aus einem Eimer voll feuchtem Kaugummi ziehen.

 Marty und Buck hatten sich über die Vine Street nach Süden bis zur Melrose Avenue durchgeschlagen, wo die Sturzflut den Großteil ihrer zerstörerischen Kraft verloren zu haben schien, und nahmen jetzt die Straße nach Westen Richtung Beverly Hills. Die Melrose Avenue war eine regelrechte Trennlinie zwischen Armut und Reichtum, zwischen dem Siff von Hollywood und der Gunst von Hancock Park. Die nördliche Seite der Melrose war gesäumt von heruntergekommenen Wohnhäusern, Autoreparaturwerkstätten, Pfandhäusern und einem Ralph’s Supermarkt, der von einem weißen, schmiedeeisernen Zaun umgeben war und von bewaffnetem Sicherheitspersonal bewacht wurde. Auf der anderen Straßenseite grenzten private Anwesen und elegante Wohnanlagen an die Spitze des Golfplatzes des exklusiven Wilshire Country Club und verbargen das perfekte Grün vor den vorbeifahrenden Autos.

 Diese Klassenunterschiede waren jetzt irrelevant. Beide Seiten der Straße lagen hier in Trümmern, die Reichen wie die Armen, beide gleichermaßen von Blut und Verzweiflung gezeichnet, saßen dicht gedrängt zusammen auf den Straßen, in den Vorgärten und auf den Parkplätzen, wo sie ihre Wunden versorgten und darauf warteten, dass die Erde aufhörte zu beben.

 Während der letzten Stunde hatten mehrere kleine Nachbeben den Boden unter ihnen erschüttert und Marty und alle anderen daran erinnert, dass die Erde noch nicht fertig war mit ihnen; sie hatten Risse noch weiter aufklaffen lassen, schiefe Häuser und bereits beschädigte Gebäude zum Einsturz gebracht und auch das letzte bisschen noch intakte Glas bersten lassen.

 Das Große Beben war noch keine vierundzwanzig Stunden her, und Marty hatte nicht das Gefühl, dass er in dieser Zeit eine besonders große Strecke hinter sich gebracht hatte, doch gleichzeitig wusste er, dass er einen weiten Weg gegangen war von da, wo er vorher gewesen war. Nicht nur sein Spiegelbild in dem zersplitterten Spiegel brachte ihn auf diesen Gedanken.

 Einerseits war Marty bewusst geworden, dass er ein stärkerer, leistungsfähigerer Mann war, als er je gedacht hätte. Er hatte ein Kind gerettet, eine Flut überlebt und war durch eine entsetzliche Landschaft des Todes gewatet. Er hätte nie zu träumen gewagt, dass er auch nur zu einem dieser Dinge fähig wäre, geschweige denn zu allen dreien. Doch zugleich schämte Marty sich dafür, Abgründe der Schwäche und Feigheit in sich entdeckt zu haben, von deren Existenz er keine Ahnung gehabt hatte. Er hatte nichts für Molly getan, sie zum Sterben zurückgelassen, und für Franklin hätte er dasselbe getan, hätte Buck ihn nicht dazu gezwungen, diese Rettungsaktion durchzuziehen. Auf gewisse Weise aber war seine Feigheit bei Weitem nicht so unerwartet wie sein Heldentum und Durchhaltevermögen.

 So groß Martys Ablehnung gegen Buck auch war, er konnte nicht abstreiten, dass dieser eindimensionale Fernsehcharakter, dieser Höhlenmensch im Polyesteranzug irgendwie das Beste aus ihm herausholte, auch wenn er ihn dabei umzubringen versuchte. Dennoch war alles, was Marty über Buck wusste, dass er ein Kopfgeldjäger war, einen Mercury Montego fuhr, alleine mit einem Pitbull namens Thor lebte, sein Badezimmer mit Cocktailservietten dekorierte und Frauen mit schielenden Brüsten nicht mochte.

 »Erzähl mir mal was, Buck. Wer bist du?«

 Die Frage brachte Buck keineswegs aus der Ruhe; er antwortete sofort, ohne Zögern: »Zweihundertzwanzig Pfund exquisiter Männlichkeit, von Frauen geliebt und verehrt, von Männern gefürchtet und respektiert, und in der gleichen Liga wie mein überragender Intellekt spielt nur noch mein gigantischer Schwanz. Ein Blick genügt, um all das zu erkennen.«

 »Und was entdeckt man, wenn man tiefer gräbt?«

 »Dann wirst du es selbst erleben, was allerdings für Frauen anders ist als für Männer.« Buck hatte sich darüber offensichtlich einige Gedanken gemacht. Vielleicht würde Marty nun wirklich etwas erfahren.

 »Für eine Frau bedeutet das keine Spielchen«, erklärte Buck. »Ich gebe ihnen genau das, was sie wollen, das, wofür ein Mann ihnen zu geben geboren ist: gutes Essen, einen soliden Fick und Schutz vor Unheil. Bis es mir langweilig wird und ich mir eine andere Frau suche. Aber ich spiele keine Spielchen. Wenn ich mit einer Frau durch bin, dann weiß sie das, und ich gehe meiner Wege. Sie respektieren das, auch wenn es wehtut, darum würde jede Frau, die ich verlassen habe, wieder mit mir ins Bett gehen. Darum, und weil ich einen riesigen Schwanz habe.

 Für einen Mann wiederum hängt es davon ab, ob du Freund oder Feind bist. Für einen Freund bin ich ein Kampfgefährte, einer, von dem du weißt, dass er bis in den Tod an deiner Seite kämpfen wird. Ein Blutsbruder, durch dick und dünn. Was mir gehört, gehört auch dir, und das schließt meine Frau mit ein. Für einen Feind bin ich das pure Urgrauen. Ich bin der große, finstere, gnadenlose Hurensohn aus der Hölle, der dich kriegen wird, dich aufschlitzen und sich an deinen dampfenden Eingeweiden gütlich tun wird.«

 »Dampfende Eingeweide.« Marty schüttelte den Kopf.

 »Genau das habe ich gesagt.«

 »Das ist keine Beschreibung einer realen Person, das ist eine Comicfigur.«

 »Hier stehe ich, oder?«

 »Das bist du aber nicht. Was du mir gerade erzählt hast, ist die idiotische Glücksritter-Fantasie von Heerscharen ungebildeter Hinterwäldler an der Lohnuntergrenze, die es bereuen, zu spät geboren zu sein, um in Vietnam zu kämpfen, und die Chuck Norris für einen großartigen Schauspieler halten. Das bist nicht du.«

 »Was zum Teufel weißt du schon? Du bist irgend so ein Profi-Schwachsinnskünstler, der seine Tage damit verbringt, dabei zuzusehen, wie andere Schwachsinnskünstler so tun, als seien sie andere Scheißleute, die das Scheißleben anderer leben, und du denkst, du kannst ihnen sagen, wie sie es besser machen können, weil du so gottverdammt gut darin bist, ein Scheinleben zu leben.«

 »So siehst du mich?«

 »Siehst du dich selbst nicht so?«

 Um genau zu sein, tat er das. »Nein«, antwortete Marty.

 Buck zuckte mit den Schultern. »Okay, wer zum Teufel bist du dann?«

 »Ich bin einfach ein ganz normaler Durchschnittstyp.«

 »Das ist alles?«

 »Ich habe den Teil mit dem Riesenschwanz und den dampfenden Eingeweiden meiner Feinde, die ich mir einverleibe, ausgelassen, aber sonst, ja, das ist alles.«

 »Woher willst du wissen, ob du ein Durchschnittstyp bist? Was zur Hölle soll das sein? Das ist nichtssagender Schwachsinn. Na los, wer zum Henker bist du?«

 »Ich bin Autor. Ich bin Ehemann. Ich bin ein anständiger Kerl.«

 »Aha.« Buck war für einen Moment still, grübelte während des Gehens über etwas nach. »Und, was hast du geschrieben?«

 Marty schaute weg, fühlte sich plötzlich unbehaglich. »Ein paar Drehbücher, ein paar Romane.«

 »Irgendwelche davon produziert oder veröffentlicht?«

 »Noch nicht.«

 »Dann bist du auch kein Scheißautor«, sagte Buck. »Und, wie läuft deine Ehe?«

 »Wie meinst du das?«

 »Ich meine, liebt dich deine Frau? Ist sie glücklich? Bekommt sie vom Leben das, was sie will, indem sie mit dir zusammen ist? Erfüllst du alle Anforderungen an dich als Mann?«

 Marty dachte an seine Unterhaltung mit Beth in der Küche gestern Morgen. Er dachte an seine Unfruchtbarkeit. Er dachte an die Peinlichkeit, den unterschwelligen Groll und den Schmerz. »So einfach ist das nicht. Man kann jemanden lieben, und trotzdem gibt es Zeiten, in denenv…«

 »Du bist ein lausiger Ehemann«, unterbrach ihn Buck. »Lass uns über den Teil mit der Anständigkeit reden. Was war dein erster Impuls, als dieser schwarze Junge auf der Überführung Hilfe brauchte?«

 Marty antwortete nicht.

 »Du bist also kein Autor, kein Ehemann und auch kein anständiger Kerl«, sagte Buck. »Wir sind wieder da, wo wir angefangen haben, stimmt’s, Marty? Wer zur Hölle bist du? Du bist offensichtlich nicht der Typ, der du zu sein glaubst. Also, sag du mir, wer von uns beiden hier nur Scheiße labert.«

 Buck hatte recht. Wenn Marty eine ehrliche Antwort von Buck erwartete, musste er selbst auch ehrlich antworten.

 »In Ordnung, Buck. Na schön. Ich fange noch einmal an. Ich bin insofern ein Durchschnittstyp, als dass ich unerfüllte Träume habe, eine unperfekte Ehe führe und ich oftmals für mich selbst eine größere Enttäuschung bin als für andere. Ich bin nicht hundertprozentig loyal oder ehrlich, und ich tue nicht so, als sei ich der perfekte Freund oder Liebhaber. Ich kann egoistisch sein, manipulativ und grausam, genau wie jeder andere auch. Aber wie die meisten Typen versuche ich, über meine Unzulänglichkeiten hinauszuwachsen oder mir zumindest einzureden, dass ich das tue, sodass ich mich an den meisten Tagen für einen anständigen Kerl halten kann.«

 »Heilige Scheiße«, sagte Buck. »Das ist gut.«

 Marty nickte ihm zu. »Du bist dran.«

 Buck atmete tief durch, dachte kurz nach und sagte dann: »Vielleicht bin ich deshalb Kopfgeldjäger und verbringe meine ganze Zeit damit, Leute zu jagen, weil ich selbst auf der Flucht bin. Angst vor Verpflichtungen, vor Liebe, eigentlich lasse ich mich auf nichts wirklich ein. Das ist wohl der Grund, warum ich so großspurig und gemein rüberkomme, auf die Art schlage ich die Leute in die Flucht und muss mich in keinster Weise emotional mit ihnen auseinandersetzen. Unterm Strich hab ich einfach Panik vor Intimität.«

 Marty schaute Buck an, ehrlich überrascht. Irgendwo in Buck drin war also doch ein menschliches Wesen versteckt, und noch dazu ein überraschend scharfsinniges.

 »Gefällt dir das?«, fragte Buck.

 »Ich dürfte dich wohl falsch eingeschätzt haben, Buck.«

 »Und jetzt wirken all die Dinge, die ich getan habe und über die du sauer warst, nicht mehr so schlimm, vielleicht sogar rehabilitationsfähig.«

 Rehabilitationsfähig? Seit wann benutzte Buck solche Wörter?

 »Du siehst eine Seite an mir, die aufmerksam ist, sensibel, du würdest es vielleicht sympathisch nennen«, sagte Buck. »Hab ich recht?«

 Marty blieb stehen. Rehabilitationsfähig? Sympathisch? Buck sprach nicht über sich selbst. Er sprach über eine Rollenfigur.

 »Alles, was du gerade über dich selbst gesagt hast, war völliger Quatsch, stimmt’s?«, sagte Marty. »Du glaubst davon kein Wort.«

 »Warum soll ich diesen weinerlichen, selbstsüchtigen Kinderkram glauben, wenn du es mir abkaufst und es für die Figur funktioniert?«

 »Welche Figur?«

 »Meine Figur, du Arschloch. Der Held der verschissenen Serie. Du hattest übrigens recht, du hast tatsächlich verdammt gute Anmerkungen auf Lager.«

 »Wovon redest du?«

 »Die Rede, die du gerade gehalten hast, dieses ›Ich bin der Durchschnittstyp‹-Zeug, verdammt genial. Wie du Anmerkungen über dich selbst gemacht hast, das war verdammtinspirierend. Genau da habe ich erkannt, wonach du gesucht hast, also habe ich alles noch mal überarbeitet.«

 »Was überarbeitet?«

 »Die Rolle, die ganze verdammte Serie. Ich habe sie gehaltvoller gemacht, einfach so aus dem Stegreif.«

 Das ist surreal, dachte Marty. Der haushohe Gewinner des schlimmsten Albtraums von einem Serienkonzept aller Zeiten. »Warum dreht sich jede Unterhaltung zwischen uns letztendlich immer um dich und deine Fernsehserie? Ich bin nicht daran interessiert, eine Serie über dich zu machen. War ich nie und werde ich auch nie sein. Hast du das? Comprendo? Können wir jetzt verdammt noch mal weiter?«

 »Du hast mich gefragt, weißt du noch? Du bist doch derjenige, der mit diesem Scheißthema angefangen hat.«

 »Ich habe dich nicht darum gebeten, mir eine Serie über dich selbst vorzustellen.«

 »Wonach hattest du dann gefragt?«

 »Nach dir, Buck. Ich wollte etwas über dich wissen.«

 »Warum zur Hölle solltest du das wollen?«

 »Du hast recht«, antwortete Marty. »Mein Fehler.«

 Marty wollte gerade wieder losgehen, als er einen Mann in einer weißen Kochschürze sah, der Glasscherben und Stuckreste aus einem mit Efeu bewachsenen Restaurant kehrte, die Ranken waren das Einzige, was den Laden noch zusammenhielt.

 »Oh, Scheiße«, flüsterte Marty.

 Buck folgte seinem Blick. »Was?«

 »Das ist Jean-Marc Lofficier, der berühmte Koch. Ihm gehört das La Guerre, das Restaurant da drüben. Ich kann kaum glauben, dass ich fast daran vorbeigelaufen wäre.«

 »Hast du schon Hunger?«

 »Nein. Er darf mich nicht so sehen. Lass uns einen Block in südlicher Richtung gehen, wir können später auf die Melrose zurückkommen.«

 Buck starrte Marty ungläubig an. »Du hast Angst vor einem Koch? Was wird er tun, deinen verdammten Cheeseburger anbrennen lassen?«

 »Du verstehst das nicht. Das ist eins der Top-Fünf-Superrestaurants in dieser Stadt. Hier gehen die ganzen Paramount-Leute zum Mittagessen. Wenn Jean-Marc mich so sieht, werde ich vielleicht nie wieder einen Tisch dort bekommen.«

 »Dann scheiß doch auf den, geh woanders essen. Schau, da drüben auf der anderen Straßenseite ist ein Spaghetti-Restaurant.«

 »Eines Tages, Buck, wird dieses ganze Chaos hier beseitigt sein, und wir werden alle wieder zur Arbeit gehen müssen. So bescheuert das auch klingen mag, in meiner Branche ist es wichtig, wo du isst und wo du sitzt beim Essen. Wenn Jean-Marc mich so sieht, als hätte ich mir in die Hosen gepisst und in einer Jauchegrube ein paar Bahnen gezogen, wird er immer nur das vor Augen haben, wenn er meinen Namen hört. Ich kriege nie wieder eine Tischreservierung. Und wenn ich keinen Tisch im La Guerre kriege, kann ich meinen Job nicht machen.«

 Buck blickte zurück zu Lofficier, der sich vornüberbeugte, um seine Kehrschaufel festzuhalten, während er den Schmutz hineinfegte.

 »Kein Problem«, sagte Buck. »Ich werde dafür sorgen, dass sein Gesicht ein paar Mal Bekanntschaft mit meinem Knie macht, und schon können wir weiter.«

 Marty bekam Buck gerade noch zu fassen, bevor der Kopfgeldjäger auf den Koch zusteuern konnte. »Ich weiß dein Angebot zu schätzen, aber ich denke nicht, dass Prügel notwendig sind.«

 »Wenn der Typ am Boden liegt und sich an seinen Zähnen verschluckt, wird er es nicht bemerken, wenn du vorbeigehst. Und selbst wenn er dich sieht, was soll’s? Er wird genauso übel aussehen wie du, vielleicht schlimmer.«

 »Lass uns einfach eine Straße weiter runter gehen.«

 Buck folgte Marty widerwillig in die schicke Wohngegend südlich der Melrose.

 »Philosophisch betrachtet«, sagte Buck, »habe ich ein verdammt großes Problem damit, vor irgendjemandem davonzulaufen.«

 »Das tust du nicht, ich tue es. Und davonlaufen stimmt nicht so ganz. Es ist eher eine Art Umgehen.«

 »Ich habe ein verdammt großes Problem damit, irgendjemanden zu umgehen.«

 Sie gingen an den Häusern für Neuankömmlinge im begüterten Hancock Park vorbei, als Marty sich zu fragen begann, ob das wirklich so ein weiser Schachzug war. Die Häuser an der baumbestandenen Straße mit viel Grün waren Miniaturausgaben der grandiosen Anwesen einige Blocks weiter südlich. Es waren die Häuser für die Beinahe-Millionäre, die mit den zahnenden Kindern, den geleasten deutschen Autos und den Albträumen übers Vierzig-Werden. Hier lebten viele aus den Führungsetagen der Fernsehsender sowie Produzenten und Regisseure.

 Was, wenn einer von denen ihn sah? Jedes Mal, wenn er ihnen eine Anmerkung zukommen lassen würde, würden sie sich daran erinnern, wie er heute roch, und hämisch kichern.

 Also hielt Marty seinen Blick auf den Boden gerichtet, für den Fall, dass unter den Leuten, die in ihren Range Rovers Zuflucht suchten oder sich mit ihren obligatorischen Golden Retrievern auf ihren perfekt manikürten Rasenflächen versammelten und zu Mittag ihre belegten Brote aus Laura-Ashley-Picknickkörben aßen, die sie eigentlich für Konzertabende in der Hollywood Bowl gekauft hatten, jemand war, den er kannte.

 Beim Gedanken an die Bowl erinnerte Marty sich daran, dass er tatsächlich jemanden kannte, der hier wohnte, einen Freund, um genau zu sein. Er schaute gerade rechtzeitig auf um festzustellen, dass er, wie das Schicksal manchmal so spielt, nur ein paar Türen vom Haus des Autors und Producers Josh Redden entfernt war.

 Josh lebte in der McCadden in einem dieser kleinen spanischen Häuser mit rotem Ziegeldach und weiß verputzten Wänden. Marty war vor zwei Jahren auf einer Party anlässlich der Premiere der zweiten Staffel von Manchine dort gewesen. Kurze Zeit danach waren Marty und Beth in die Hollywood Bowl eingeladen, wo Josh und seine Frau eine Loge hatten. Sie saßen ein paar Stunden klassischer Musik ab, aßen Tiefkühlpizza von Wolfgang Puck zu Abend und tranken Flugzeugwein.

 Marty könnte sich umdrehen und vor Josh weglaufen, aber dann müsste er wieder hoch zur Melrose und es mit Jean-Marc darauf ankommen lassen.

 Und da war noch was. Wollte er Buck wirklich sagen, dass sie vor jemand anderem flüchten mussten?

 Zur Hölle, nein.

 Marty wog also das Für und Wider ab, während er vorgab, seine Schnürsenkel neu zu binden.

 So wie er die Lage einschätzte, hatte er eine gewisse Macht über Josh, aber keine über Jean-Marc. Es gab wenig, was Josh tun konnte, um Marty zu schaden, obwohl er, anders als Jean-Marc, im Fernsehbusiness war. Jean-Marc jedoch konnte mit einer ungünstigen Platzierung oder gar einer abgelehnten Tischreservierung Martys Status und Einfluss viel mehr Schaden zufügen als alles, wozu Josh jemals im Stande wäre.

 Es war also entschieden. Er würde es riskieren, Josh in die Arme zu laufen.

 Besser noch: Statt Gefahr zu laufen, gesehen zu werden, entdeckt zu werden, würde er die Dinge selbst in die Hand nehmen und Josh ausfindig machen. So würde er, indem er selbst die Aufmerksamkeit auf sich lenkte, die Situation und die Art, wie er wahrgenommen wurde, kontrollieren.

 Ja, beschloss Marty, das war perfekt. Indem er sich nicht versteckte, sondern Josh konfrontierte, konnte er den Moment nutzen und ihn sowie seine Bedeutung selbst gestalten.

 Überdies war Josh ungefähr genauso groß wie Marty, vielleicht konnte ihm der Producer ein paar frische Klamotten leihen, damit er nicht länger roch und aussah wie eine Latrine. Marty würde immer noch dreckig in Calabasas ankommen, aber bei Weitem nicht so schlimm wie jetzt, wo er unter anderem nach abgestandener Pisse, verrottendem Essen und Hawaiian Tropic stank.

 »Versuchst du, deinen Schuh zuzubinden«, fragte Buck, »oder ihn zu ficken? Na los.«

 »Ich will auf einen Sprung bei einem Freund vorbeischauen. Er lebt hier in der Gegend.« Marty richtete sich auf, erfreut über sich selbst und seinen folgerichtigen Gedankengang. »Hast du dir schon mal ›Manchine‹ angeschaut?«

 »Diese Sendung über den Typen, der halb Mensch, halb Maschine war?«

 »Ja. Mein Freund Josh hat sie geschrieben und produziert.«

 »Ich erinnere mich daran«, sagte Buck. »Der Typ hat immer seinen Finger in Computer, Mixer, Telefone und allen möglichen Scheiß gesteckt, um die Sachen ans Laufen zu bekommen.«

 »Das waren seine Superkräfte. Er konnte mental mit jeder Maschine verschmelzen, die er berührte, und sie mit seinen Gedanken kontrollieren.«

 »Verdammt großes Kino. Ich mach das Gleiche, indem ich einfach nur den An-Aus-Schalter benutze.«

 Marty ignorierte den Seitenhieb und begutachtete prüfend die Häuser, während sie um die Ecke bogen und die McCadden entlanggingen. Die meisten Häuser in der Straße waren in den späten Zwanzigern erbaut worden und repräsentierten einen eklektischen Mix aus kontrastierenden Stilen, von den Türmchen und Balkonen der französisch-normannischen Architektur bis zu der Förmlichkeit, den Säulen und Ziegelsteinen des amerikanisch-georgischen Geldadels.

 Statt von der Pracht des Viertels abzulenken, betonte diese Mischung sie auf unerklärliche Weise nur noch. Solch krass im Widerspruch stehende Stile wären da, wo Marty wohnte, nie erlaubt. Architektonische Homogenität wurde strengstens durchgesetzt, um Eleganz und Grundstückswerte zu bewahren. Doch sogar jetzt, wo die Häuserreihen sich gelichtet hatten oder stark beschädigt worden waren, schaffte es die Gegend irgendwie, ihre Eleganz und den Hauch der Exklusivität aufrechtzuerhalten. Vielleicht lag es auch vielmehr an den tadellos getrimmten Hecken, den unglaublich grünen Rasenflächen und den glänzenden europäischen Autos.

 Das Erste, was Marty an Joshs Haus auffiel, war das »Zu Verkaufen«-Schild im Vorgarten. Das Schild stand aufrecht und unbeschädigt, das Haus selbst allerdings nicht. Es neigte sich zu einer Seite und ließ sein rotes Ziegeldach sowie mehrere Wände auf den BMW in der Einfahrt tröpfeln.

 Josh und Nora lagen auf Liegestühlen neben einem kleinen Zelt und einer Feuerstelle, die sie in ihren frisch gemähten Rasen gegraben hatten. Alle persönlichen Besitztümer, die sie geborgen hatten, lagen um sie herum verstreut in Umzugskartons und ausgebeulten Koffern.

 Noras linker Arm hing in einer blutbefleckten, behelfsmäßigen Schlinge, und ihr Gesicht wirkte kränklich und blass. Marty konnte sich nicht mehr erinnern, ob sie Lehrerin war oder in einer Kunstgalerie arbeitete.

 Joshs Kopf war mit blutigen Mullbinden umwickelt und sein rechtes Auge zugeschwollen. Es sah auch so aus, als könnte seine Nase gebrochen sein. Etwas musste ihm während des Bebens auf den Kopf gefallen sein, doch Josh wirkte wachsam, auch wenn er noch nicht bemerkt hatte, dass Marty und Buck vor ihm standen.

 »Ich bin so erleichtert zu sehen, dass ihr beide okay seid«, sagte Marty, während er näher kam. Josh und Nora blickten zu ihm auf, es war eindeutig, dass sie ihn nicht erkannten. »Ich bin’s, Martin Slack.«

 Sie starrten ihn immer noch an. Sie wirkten verwirrt.

 »Muss euch nicht leid tun, wenn ihr Schwierigkeiten habt, mich zu erkennen, ich kenne mich selbst kaum noch.« Marty lachte verlegen, die Heiterkeit war komplett erzwungen. »Das ist mein Freund Buck.«

 Sie schauten durch Buck hindurch, als sei er gar nicht da, und lenkten ihre Aufmerksamkeit wieder zurück auf Marty, sie hatten offensichtlich akzeptiert, wer er war und dass er tatsächlich hier stand.

 »Was machst du hier, Marty?«, fragte Josh.

 Der Producer schien nicht halb so begeistert, wie Marty erwartet hatte, und das brachte ihn aus dem Konzept.

 »Ich habe mir Sorgen um euch gemacht«, antwortete Marty.

 Josh wechselte einen Blick mit seiner Frau, dann wandte er sich wieder Marty zu. »Wann genau hast du angefangen, dir Sorgen zu machen?«

 »Ich bin gerade hier vorbeigekommen und habe mich erinnert, dass ihr hier wohnt, und da dachte ich, ich sollte mal nachsehen, um sicher zu gehen, dass es euch gut geht.«

 »Du bist also besorgt«, sagte Nora spitz. »Wie nett.«

 »Uns geht’s gut, Marty«, seufzte Josh. »Danke fürs Vorbeischauen. Bestelle Beth schöne Grüße von uns.«

 »Ich hatte gehofft, du könntest mir einen kleinen Gefallen tun. Ich war in der Innenstadt, als das Beben losging, und muss jetzt zu Fuß nach Hause gehen. Nach Calabasas. Wie ihr sehen könnt, habe ich schon einiges hinter mir.«

 »Willst du das Auto ausleihen?«, Nora machte eine Kopfbewegung Richtung Einfahrt. »Tu dir keinen Zwang an.«

 »Eigentlich brauche ich nur ein frisches Hemd und ein Paar saubere Hosen.« Marty hätte auch nach Schuhen gefragt, aber er hatte schon gesehen, dass Joshs Füße kleiner waren als seine.

 Josh kratzte einen getrockneten Blutfleck von seiner Wange. »Im Grunde sagst du also, du willst mein letztes Hemd.«

 »Einfach irgendein Hemd wäre völlig okay«, Marty zwang sich zu einem Lächeln, in der Annahme, Josh mache einen Witz. Oder zumindest hoffte er das. »Ich will nur nicht so nach Hause gehen. Ich rieche, als hätte mich jemand vollgepisst.«

 »Gut«, Josh beugte sich nach vorne, sein Gesicht wurde rot vor Zorn. »Dann weißt du ja jetzt, wie ich mich die letzten zwei Jahre jeden Tag gefühlt habe, du Hurensohn.«

 Das überrumpelte Marty völlig, und Buck war begeistert, er hatte ein dickes Grinsen im Gesicht.

 »Was habe ich dir denn jemals getan?«, fragte Marty Josh.

 »Nichts, Marty. Absolut gar nichts.«

 »Ich dachte, wir seien Freunde.«

 »Blödsinn. Ich dachte, wir seien Freunde. Aber ich habe mich getäuscht. Kaum war ›Manchine‹ gecancelt, habe ich nie wieder von dir gehört.«

 »Du weißt doch, wie das ist«, sagte Marty, »man hat einfach zu viel zu tun. Ich habe gerade eine Menge Sendungen in der Produktionsphase.«

 »Und hast du mal deinen Freund Josh für eine davon empfohlen? Hast du jemals deinen Freund Josh eingeladen, um einen Piloten zu pitchen? Hast du deinen Freund Josh auch nur ein einziges Mal zurückgerufen?«

 Marty wusste nicht, was er sagen sollte, denn die Antworten auf Joshs Fragen lagen auf der Hand. Es war, als wolle man die Existenz der Schwerkraft in Frage stellen. Josh stellte die Naturgesetze der Fernsehbranche in Frage.

 Es war nicht persönlich gemeint. Aber sobald eine Sendung abgesetzt wird, sind die Beteiligten mit dem Makel des Scheiterns behaftet, zumindest für eine gewisse Zeit. Marty würde sich lächerlich machen, wenn er behaupten würde, der Producer einer Show, die im letzten Jahr gefloppt war, sei die perfekte Wahl für eine neue Sendung in dieser Saison. Wer würde sich darüber so aufregen? Was Rückrufe und gemeinsame Mittagspausen angeht, so hatte Marty den Typen gegenüber Verpflichtungen, die aktuell gerade auf Sendung waren. Das bedeutet, dass Leute, die gerade keine Sendung laufen hatten, bis auf Weiteres abgewimmelt wurden. Freundschaft spielte dabei keine Rolle.

 Aber es war lange her, dass Josh eine unfreiwillige Auszeit genommen hatte. Vielleicht hatte er vergessen, wie das war.

 »Du weißt doch, wie das ist«, sagte Marty so teilnahmsvoll er nur konnte. »Du hattest gerade ein paar Jahre in einer mäßig bewerteten Sendung hinter dir. Wir brauchten eine Verschnaufpause. Ich bin mir sicher, du auch. Aber du hast nie aufgehört, mein Freund zu sein.«

 »Zwei Jahre, Marty. So lange habe ich nicht gearbeitet. Warum, glaubst du, verkaufe ich mein Haus? Noch einen Monat, und ich hätte so oder so in diesem Zelt gelebt. Dank dir. Und jetzt willst du auch noch mein letztes Hemd?«

 »Nicht ich bin es, auf den du sauer bist«, sagte Marty, »es ist das Business.«

 »Wir haben früher jeden Tag telefoniert. Wir aßen zusammen zu Mittag. Du warst bei mir zu Hause. Wir sind zusammen auf Konzerte gegangen. Und kaum ist meine Show abgesetzt, willst du nichts mehr von mir wissen. Das ist nicht das Business, Marty. Das bist du.«

 »Buuhuuu, zum Henker«, schnaubte Buck. »Was bist du denn für eine Pussy? Deine Show war scheiße, also bist du scheiße. Basta.« Buck rammte Marty den Ellbogen in die Rippen. »Können wir jetzt verdammt noch mal gehen?«

 »Ja«, sagte Marty, dann wandte er sich zu Josh. »Es tut mir leid, dass die Dinge für dich nicht gut gelaufen sind.«

 »Nein, tut es nicht«, Josh lehnte sich in seinem Liegestuhl zurück. »Denn jeder Autor, der scheitert, tröstet dich darüber hinweg, dass du selbst ein Versager bist.«

 Es waren genau diese moralisierenden Mitten-in-die-Fresse-Dialoge, die Joshs Art zu schreiben so flach machten. Jetzt fühlte Marty sich darin bestätigt, seine Anrufe nicht erwidert zu haben. Das und die Tatsache, dass das, was Josh gesagt hatte, absolut zutraf.

 »Wir sehen uns.« Marty ging davon.

 Sie hatten schon den halben Block hinter sich und waren fast wieder auf der Melrose, als Buck den Mund aufmachte.

 »Dieser Versager war also einer deiner Scheißfreunde.«

 »Jep«, antwortete Marty.

 »Und wie zur Hölle sind deine Feinde so drauf?«

 Marty begann sich zu fragen, ob es da eigentlich einen Unterschied gab.

 


 KAPITEL ELF

 Ärzte und Schwestern

 11:12 Uhr. Mittwoch.

 Westlich von La Brea wurde die Melrose zum betont flippigen Modezentrum von Los Angeles, bevor sie sich rund um die Kreuzung mit dem San Vicente Boulevard genauso selbstbewusst in eine Einkaufsmeile für High-End-Einrichtungsgegenstände verwandelte.

 Marty und Buck befanden sich im Herzen des hippen Teils, wo Geschäfte mit Namen wie Brachland, Armageddon, No Problem, Verwüstung und Erlösung in Martys Kopf um den Titel des Shop-Namens mit der tragischsten Symbolwirkung wetteiferten.

 Aber die größte Leistung dieser Modeverkäufer war nicht ihre Voraussicht bei der Wahl ihrer Geschäftsbezeichnungen, sondern ihr gekonntes Aufmotzen von gebrauchten Kleidungsstücken aus Second-Hand-Läden und Garagenflohmärkten. Sie hatten herausgefunden, dass man auf ein gammeliges T-Shirt, einen rostigen Kühlschrank, einen verbeulten Pontiac oder eine alte Lesebrille nur das Wort Vintage klatschen musste, und schon war es kein altmodisches, ausgeleiertes und kaputtes Stück Müll mehr: Es war stylish. Es war heiß. Es war der letzte Schrei. Man fand hier Vintage-Klamotten, Vintage-Möbel, Vintage-Platten, Vintage-Schmuck, Vintage-Autos, sogar Vintage-Lebensmittel in Gestalt einer Burgerbude im Fünfziger-Jahre-Look.

 Aber Vintage-Kram war nicht das Einzige, was heiß war auf der Melrose. Marty war überrascht zu sehen, dass ein hochpreisiges Pornogeschäft mit dem Verkauf von Salben, Videos, Vibratoren, Ketten, Kondomen, Handschellen, aufblasbaren Frauen und einfach allem, was sich im Schlafzimmer als nützlich erweisen könnte, ein reges Geschäft machte.

 Offensichtlich wäre ein Erdbeben-Notfallkoffer ohne ein paar Dildos nicht vollständig.

 Buck hielt an, um sich zwei Schaufensterpuppen anzuschauen, die immer noch im geborstenen Schaufenster eines Bekleidungsgeschäfts standen, das »Grufti-Girl-Outfits« und »Schwuchtelklamotten« feilbot. Die weibliche Schaufensterpuppe war in ein edwardianisches Kleid mit einem Korsett aus Sicherheitsgurten gehüllt. Die männliche Puppe trug ein zerknautschtes Piratenshirt aus Samt und ein Tuxedo-Jäckchen mit Leopardenmuster.

 »Welcher verdammte Freak trägt so einen Scheiß?«, fragte Buck.

 Doch Marty interessierte sich mehr für das Geschäft nebenan, das alte Jeans, alte Hemden und neue Doc Martens verkaufte – schwere, gut verarbeitete Schuhe, die sich perfekt für einen Post-Erdbeben-Marsch über verformten Asphalt eigneten. Und ein sauberes Hemd, egal wie viele Leute es vor ihm getragen hatten, würde sich im Moment auch ziemlich gut machen.

 Marty trat durch das zerbrochene Fenster in den Laden und watete durch Stapel von auf dem Boden liegenden Klamotten.

 »Was suchst du?«, fragte Buck.

 »Ein paar saubere Klamotten und ein neues Paar Schuhe. Schau mal, ob du irgendwo welche in Größe zwölf findest.«

 Buck zog seine Knarre. »Den Teufel werd’ ich.«

 Marty schaute ihn müde an. »Was hast du vor, willst du mich schon wieder erschießen?«

 »So läuft das eben mit Plünderern.«

 »Ich habe nicht vor, etwas zu stehlen. Ich bezahle dafür.« Marty drehte Buck den Rücken zu und sah ein paar Hemden durch, auf der Suche nach einem in Größe L. Das war jetzt schon das dritte Mal, dass Buck die Knarre auf ihn gerichtet hatte, und die Wirkung hatte sich abgenutzt. »Ich lasse das Geld an der Kasse liegen, zusammen mit den Preisschildchen von den Dingen, die ich mitnehme.«

 »Du machst eine Pause, um shoppen zu gehen? Was zum Teufel ist nur los mit dir? Ich dachte, du hast es so eilig, nach Hause zu kommen.«

 »Hab ich auch, aber meine Füße sind voller Blasen und meine Schuhe nur noch Fetzen. Ich brauche neue Schuhe, wenn ich es schaffen will. Und schau mich doch mal an. Was, glaubst du, wird meine Frau sagen, wenn sie mich so sieht?«

 »Es wird ihr scheißegal sein, wie du aussiehst, sie wird froh sein, dass du am Leben bist – und wenn nicht, kann sich die Schlampe selber ficken und wir beenden diesen langen Marsch genau jetzt.«

 »Okay, vergiss die Klamotten. Aber ich brauche die Schuhe«, Marty entdeckte etwas am Boden. »Und Socken.«

 Marty schnappte sich die Socken, rückte einen umgefallenen Stuhl zurecht und setzte sich, um seine Schuhe auszuziehen. Er musste Buck nicht einmal anschauen, um seinen Zorn zu spüren. »Es geht nicht um Bequemlichkeit, Buck. Es geht um Notwendigkeit.«

 »Ja, klar.«

 Martys Socken schälten sich von seinen Füßen wie eine Schicht toter Haut. Die Füße waren rot und geschwollen und übersät mit bereits aufgeplatzten sowie neuen, eiternden Blasen.

 Buck hob ein Paar Doc Martens auf und warf sie gegen Martys Füße. »Hundert Scheine, in bar.«

 »Ich hab das Geld.« Vorsichtig zog Marty das frische Paar Socken an, doch als er den Stoff über seine wunde Haut zog, brannte es trotzdem. Er schlüpfte in die Schuhe und schnürte sie zu.

 Marty stand auf und ging ein paar Schritte. Seine Füße waren zwar wund, aber es war eine Verbesserung. Die Schuhe waren steif, auf eine gute Art und Weise. Es fühlte sich an, als seien seine Füße in Beton gegossen. Damit würde er auf alles drauftreten können.

 »Du solltest auch welche anprobieren, Buck.«

 Er drehte sich zu Buck um, und in diesem Moment registrierte er die Spiegelung in dem gesprungenen Spiegel hinter dem Kopfgeldjäger, die Spiegelung eines Typen mit orangefarbenen Haaren, der gerade aus dem Hinterzimmer trat, eine abgesägte Schrotflinte in seiner Hand.

 Marty wirbelte herum und stellte fest, dass es durchaus noch eine Wirkung auf ihn hatte, wenn statt einem gleich zwei Gewehrläufe auf ihn gerichtet waren – besonders wenn sie von den zittrigen Händen eines nervösen Typen gehalten wurden, dessen Gesicht vorsätzlich von einem Dutzend Bohreraufsätze durchlöchert war.

 »Hi«, sagte Marty, und seine Stimme überschlug sich dabei. »Netten Laden haben Sie hier. Das ist Ihr Laden, richtig?«

 Doch der Typ beachtete ihn überhaupt nicht, er starrte an Martys Schulter vorbei. Da wusste Marty, ohne sich umzudrehen, dass Buck ebenfalls seine Knarre gezückt hatte und dass er nun von beiden Seiten in die Mangel genommen wurde.

 Es war eine Szene wie aus einem Hongkong-Film, nachgestellt in Tausenden von billigen amerikanischen Hommagen, Remakes und Plagiaten. Das Patt. Zwei Männer, die sich Auge in Auge gegenüberstehen, Gewehrlauf gegen Gewehrlauf, der ultimative und unvermeidliche Showdown. Nur dass da eigentlich kein unbewaffneter Mann zwischen ihnen stehen sollte. Vielleicht eine Frau, vorzugsweise die vollbusige Angebetete des Helden, aber bestimmt nicht ein verängstigter Programmverantwortlicher eines Fernsehsenders, der in seinen neuen Doc Martens vor Angst schlotterte.

 Es war eine heikle Situation, und was auch immer Marty als Nächstes sagte, konnte für sie alle drei Leben oder Tod bedeuten. Und Marty wollte nicht wegen eines Paars Schuhe sterben, er würde seine Worte also sorgfältig wählen müssen.

 Dummerweise sagte Buck zuerst etwas.

 »Hey Hackfresse, wenn ich so sehe, wie du auf Bodypiercing stehst, hättest du wahrscheinlich sogar Spaß daran, ein paar Kugeln ins Gesicht geballert zu kriegen. Wenn du also nicht innerhalb von drei Sekunden deine Flinte fallen lässt, tu ich dir den Gefallen und schieße.«

 »Warte«, sagte Marty. »Keine Schießerei. In Ordnung? Alle entspannen sich. Das ist einfach nur ein Missverständnis.«

 »Du trägst meine Ware, du Made, das ist mein Verständnis«, lispelte der Typ mit der Schrotflinte. Es war nicht so einfach, mit Bohreraufsätzen in Zunge und Lippen deutlich zu sprechen, und er gab sich auch keine besondere Mühe.

 »Ich hatte vor, sie zu bezahlen«, Marty wies mit dem Kinn zu Buck. »Frag ihn.«

 »Eins«, sagte Buck.

 »Vergiss, wie er aussieht, er ist deiner Meinung«, schrie Marty, der jetzt mehr Angst vor Buck hatte als vor dem Kerl mit der Schrotflinte, dessen Arme sogar noch stärker zitterten. »Er bewacht nur, was ihm gehört.«

 »Zwei …«

 »Buck, nein!«

 »Drei.« Buck wollte gerade schießen, als die Stimme einer Frau ihn ablenkte.

 »Wenn ihr Blut vergießen wollt, schön für euch«, sagte sie bestimmt. »Nur vergeudet es bitte nicht hier drin.«

 Sie stand in der Eingangstür zur Straße, ihre Windjacke und die Baseballkappe trugen das Logo des Roten Kreuzes, ihr langes, blondes Haar war zum Pferdeschwanz gebunden und ihre Augen waren hinter einer Pilotensonnenbrille verborgen. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt, und ihre Haltung strahlte Missbilligung und Abscheu für sie alle drei aus.

 »Ich habe ein paar Hundert Leute, die Blut brauchen, und da ihr so scharf darauf seid, eures loszuwerden – warum gebt ihr es nicht mir statt den Fliegen? Wir verteilen übrigens Saft und Kekse – dass ihr Erfrischungen anbietet, kann ich allerdings nicht erkennen.«

 Marty wartete nicht darauf, bis die beiden Männer sich entschieden hatten. Er trat unverzüglich zur Seite, hinaus aus der schmalen Schusslinie.

 »Klingt gut«, Marty suchte in seiner Tasche nach seinem Geldbeutel. »Lassen Sie mich nur noch eben meine Rechnung begleichen.«

 Er legte Geld auf den Tresen und drehte sich dann zu der Frau um. »Gehen Sie voraus.«

 Sie ging hinaus und Marty folgte, er wartete nicht einmal ab, um zu sehen, wie oder ob Buck und Bohrerfresse ihre Pattsituation auflösten.

 Mittag. Mittwoch.

 Ein paar Blocks weiter westlich war das Gelände der Fairfax High School zu einem Feldlazarett umfunktioniert worden, Hunderte von Patienten waren auf Tragen gebettet, lagen ausgestreckt im Gras oder saßen auf dem Asphalt, wo sie entweder darauf warteten, bemerkt zu werden, oder still ihre Schmerzen ertrugen. Unter diesen Umständen wurden momentan nur die am schlimmsten Verletzten behandelt, und die waren im Inneren der riesigen Zelte. Beständig landeten und starteten Helikopter, luden frische Opfer ab und gingen wieder auf die Suche nach weiteren. Es war kein Krieg, und dies war kein Militärlager, doch Marty wurde die Titelmelodie von M*A*S*H trotzdem nicht mehr los.

 Marty lag auf einer Pritsche und beobachtete, wie das Blut aus dem Schlauch in der weichen Mulde seines Ellbogens in den Plastikbeutel floss. Es waren noch andere Spender in der Nähe – die Bohrerfresse aus dem Laden, ein chassidischer Jude, der leise murmelnd Selbstgespräche auf Hebräisch führte, und eine massige, fette Frau, die all ihren guten Schmuck trug, zwei Ringe an jedem Finger, zwanzig Halsketten um den Hals. Marty vermutete, dass Buck auch irgendwo da draußen war und einen knappen halben Liter abgab.

 Die Frau vom Roten Kreuz, Angie, hatte Marty viele Fragen zu seiner Krankengeschichte gestellt, doch sie musste seinen Antworten letztlich einfach vertrauen, bevor sie ihm die Nadel in den Arm stach. Angesichts mehrerer zerstörter Krankenhäuser, leerer Blutbanken und Tausender Verletzter bestand dringender Bedarf an Blutkonserven, wie Angie ihm erzählte, und es blieb keine Zeit, es auf irgendetwas zu testen, was über die Blutgruppe hinausging. Und sie näherten sich dem Punkt, ab dem selbst dafür keine Zeit mehr sein würde.

 Angie war gezwungen, hinauszugehen und nach jedem Ausschau zu halten, der gesund genug war, um ein Glas voll Blut entbehren zu können. Sie schaffte es, Dutzende von Spendern zu rekrutieren, aber es waren bei Weitem nicht genug, um den wachsenden Bedarf zu decken. Sobald Marty und die anderen Spender um ihn herum damit fertig waren, ihre Portion abzugeben, würde sie wieder losziehen, auf der Jagd nach noch mehr Blut.

 Sie kam jetzt herüber zu Marty und beugte sich vor, um seinen Blutbeutel zu prüfen. »Wie geht es Ihnen?«

 »Gut.«

 Angie trug keinen BH, und er schämte sich dafür, dass er es überhaupt bemerkt hatte. Er war auf dem Weg nach Hause zu seiner Frau, mitten in den Nachwehen der schlimmsten Naturkatastrophe in der Geschichte. Beth könnte tot sein oder lebensgefährlich verletzt. Was für ein Kerl würde in einem solchen Moment die Brüste einer Frau anglotzen?

 Jeder Kerl.

 Marty verlagerte seinen Blick auf ihr Gesicht, in der Hoffnung, dass sie nicht bemerkt hatte, worauf er vorher geruht hatte. »Ich hatte gar keine Gelegenheit, mich bei Ihnen zu bedanken.«

 »Wofür?«, lächelte sie.

 Er beugte sich vor. »Dafür, dass Sie mir das Leben gerettet haben. Ich hätte da drin erschossen werden können.«

 »Weil du es verdient hast«, lispelte die Bohrerfresse. »Mistkerl.«

 Marty drehte sich zu ihm rüber. »Ich habe die verdammten Schuhe bezahlt, und ich hätte die so oder so bezahlt, ob du nun mit Schrotflinte oder ohne aufgetaucht wärst.« Er schaute wieder zu Angie und senkte seine Stimme. »Sie glauben mir, oder?«

 »Nein«, sagte sie. »Und es ist mir auch egal, so oder so.«

 »Solange Sie mein Blut kriegen.«

 »Genau.«

 »Na ja, ich bin Ihnen trotzdem dankbar.«

 »Dann sind wir quitt.« Sanft strich sie ihm das Haar aus der Schnittwunde auf seiner Stirn und schaute sie sich dann genauer an. »Das ist ein ziemlich scheußlicher Schnitt. Waren Sie vorübergehend bewusstlos?«

 »Ich glaube, ja. Schwer zu sagen.« Besonders mit ihren Brüsten vor der Nase. Er versuchte, woanders hinzuschauen, doch seine Augäpfel waren von dem Traktorstrahl, der aus ihrem Ausschnitt schoss, wie festgenagelt.

 »Aha, hm«, sie griff in ein Medizinkästchen, tränkte einen Wattebausch mit etwas und tupfte seine Wunde damit ab. Das brach den Traktorstrahl abrupt.

 »Autsch!«, Marty krümmte sich vor Schmerzen. »Haben Sie das in Alkohol oder in Bleichmittel getunkt?«

 »Bleiben Sie sitzen. Haben Sie unscharf gesehen oder hatten Sie sonstige Beeinträchtigungen der Sehkraft?«

 »Ja-aa«, er zuckte vor Schmerz.

 »Weichei«, sagte Buck. »Ein echter Mann würde ein Pferdehaar in die Wunde legen, den süßen Schmerz der Entzündung liebevoll befeuern und die Narbe mit Stolz tragen.«

 Marty öffnete die Augen und sah Buck neben sich stehen, eine Handvoll Oreo-Kekse mampfend.

 »Ich bin froh, dass ich kein echter Mann bin«, antwortete Marty. »Ich lebe länger.«

 Angie betupfte erneut seine Wunde. »Ist es das, was Sie da hinten versucht haben zu beweisen? Dass Sie ein echter Mann sind?«

 »Ich wollte nur ein Paar neue Schuhe kaufen.« Marty spähte nach hinten zur Bohrerfresse, die ihn höhnisch angrinste.

 »Und was sollte das mit den Gewehren?«, fragte sie.

 Marty blickte zu Buck. »Das war nicht meine Idee.«

 Sie lehnte sich zurück und schaute ihn besorgt an. »Litten Sie unter Schwindelgefühlen, Gleichgewichtsstörungen oder Übelkeit?«

 »Nicht während der letzten paar Minuten, aber sonst, ja, das tat ich.«

 »Diese Schnittwunde hier gefällt mir gar nicht, besonders die Hautblutung und die Schwellung. Ich wünschte, ich hätte sie mir vorhin genauer angesehen, dann hätte ich Ihnen kein Blut abgenommen.«

 »Es sieht schlimmer aus, als es ist«, sagte Marty. »Es hat kaum geblutet.«

 Marty erwähnte nicht die Schusswunde. Seine Jacke war so zerrissen und dreckig, dass sie den blutigen Riss an der Schulter wohl nicht bemerkt hatte. Wenn er sie darauf hinwies, würde sie wahrscheinlich dem nächsten Polizeibeamten Bescheid sagen, und dann würde er für Stunden hier festhängen.

 Und außerdem, es ist ja nur eine Fleischwunde, oder?

 »Ich werde den Schnitt säubern, zusammennähen und Ihnen dann eine Tetanusspritze geben. Danach sollten Sie sich für ein Weilchen nicht vom Fleck rühren.«

 »Und meine Kekse essen und den Saft trinken, ich weiß.«

 »Ich meinte, bis sich ein Arzt um Sie kümmern kann.«

 »Ich dachte, das tut ein Arzt gerade.«

 »Ich bin Krankenschwester mit ärztlicher Zusatzausbildung.«

 Buck schnaubte. »Ein echter Mann würde in einer Erdhöhle Unterschlupf suchen und einen Umschlag aus Kuhdung, dem Fett von gebratenem Speck und zerstampften Blättern draufpacken. Scheiß doch auf diese Wattebäuschchen-Nummer.«

 »Ignorieren Sie ihn einfach«, bat Marty Angie.

 »Ich schätze, Sie könnten eine Gehirnerschütterung haben«, sie schaute ihn ernst an. Verglichen mit anderen ernsten Blicken, war der hier ziemlich gut, aber Marty war immer noch nicht beunruhigt. Er hatte keine Ahnung von Medizin, aber er war ein erfahrener Fernsehzuschauer.

 »Mannix hatte Tausende davon. Alles, was er gemacht hat, war, sich den Nacken zu reiben und in sein Cabrio zu springen. Wird schon nicht so schlimm sein.«

 »Nichts, was fünf Advil und ein Bier nicht kurieren könnten«, meinte Buck.

 Sie seufzte. Es war nicht irgendein Seufzer, sondern einer, der ihrer tiefen Missbilligung, Frustration und Bitterkeit Ausdruck verlieh. Frauen konnten diesen Seufzer besonders gut. Marty stellte sich vor, es müsse genetisch bedingt sein, er dachte, Neandertaler-Frauen seufzten bestimmt genauso, wenn ihre Kameraden in die Höhle zurückkehrten.

 »Sie sollten wirklich besser auf einen Arzt warten«, sagte Angie.

 »Ich kann nicht. Ich muss nach Hause.«

 »Wo ist das?«

 »Calabasas.«

 »Das ist zu weit. Sie sollten nicht zu Fuß gehen, nicht solange man Sie nicht neurologisch untersucht hat.«

 »Und wie viele Tage dauert es, bis das geschieht?«

 Angie sagte nichts, und das sagte ihm alles, was er wissen musste. Sie stieß ein Seufzen aus, dieses Mal ein ganz anderes Seufzen als das zuvor. Dieses hier signalisierte ihr widerwilliges Einverständnis. Marty zeigte auf den Helikopter, der im Leerlauf auf dem Gelände stand.

 »Wenn Sie so um meine Gesundheit besorgt sind, wie wäre es denn, wenn einer dieser Hubschrauber mich beim nächsten Flug übers Tal zu Hause absetzen würde?«

 »Leider ist das kein Taxidienst. Ich wünschte, es wäre so.«

 »Wohin würden Sie sich bringen lassen?«

 »Meine Mutter lebt in Marina Del Rey. Eine Wohnanlage zwei Blocks vom Strand entfernt. Ich habe gehört, der Boden unter allem hat sich in Treibsand verwandelt.«

 »Das tut mir leid.«

 Angie zuckte mit den Schultern. »Ich bin mir sicher, dass sie lebt. Ich würde es spüren, wenn es nicht so wäre, wissen Sie, was ich meine?«

 Marty nickte, er würde gerne glauben, dass das stimmte, nicht nur für sie, sondern auch für sich selbst.

 Angie entfernte die Nadel aus seinem Arm, klebte einen Wattebausch auf die Einstichstelle und teilte ihm mit, dass sie in ein paar Minuten wiederkommen würde, um sich um seine Stirn zu kümmern. Sie ließ Marty mit einer Packung Oreo-Kekse und einem kleinen Tetrapak Orangensaft zurück.

 Buck sah ihr hinterher. »Hast du bemerkt, wie sie versucht hat, mich nicht anzuschauen?«

 »Sie hat dich ignoriert. Das ist ein Unterschied.« Marty war im Moment nicht in Buck-Stimmung.

 »Sie will auch ein Stück vom großen Kuchen.«

 »Vom was?«

 »Sie braucht den unglaublichen Buck-Fuck.«

 Marty konnte Bucks mangelnde Sensibilität kaum fassen, obwohl er selbst nicht eben Michael Bolton höchstpersönlich war. »Sie hasst dich, darum hat sie dich ignoriert.«

 »Du hast doch keine Ahnung von der Liebe«, Buck zog seine Hose hoch, fuhr sich mit dem Finger über die Zähne und wischte ihn dann an seinem Hemd ab. »Du bleibst hier, ich will nicht, dass du mir die Tour vermasselst.«

 Während Buck loszog, um Angie zu beleidigen, lehnte Marty sich auf seiner Pritsche zurück und nippte an seinem Orangensaft.

 Der Schnitt auf seiner Stirn brannte. Er würde genäht werden müssen. Die Narbe würde ihm Charakter verleihen. Und wie er so darüber nachdachte, wurde Marty klar, dass Buck recht hatte. Er hatte nicht viel Ahnung von der Liebe, was nicht bedeuten sollte, dass der »unglaubliche Buck-Fuck« Buck in dieser Hinsicht besonders qualifiziert hätte.

 Vor fünf Jahren war Marty noch unverheiratet gewesen und verdiente seinen Lebensunterhalt als freiberuflicher Lektor, jede Woche brachte er einen Stapel Drehbücher mit nach Hause, um Synopsen und Bewertungen für verschiedene Sender zu schreiben. Eines Tages saß er in seiner Wohnung und las das Drehbuch zu einem Buddy-und-Cop-Film – an dem er in seinem Bericht kein gutes Haar lassen und das dann zwei Jahre später zu einem der kommerziell erfolgreichsten Filme aller Zeiten werden würde –, als sein Telefon klingelte.

 Es war die Notaufnahme der Universitätsklinik von Los Angeles. Beth war in Westwood von einem Auto angefahren worden und hatte seinen Namen als Kontakt für den Notfall angegeben. Er sollte sofort vorbeikommen.

 Urplötzlich erlebte er eine ganze Reihe von Klischees: Sein Herz setzte einen Schlag aus, seine Knie zitterten und er hatte Probleme zu atmen. Diese Gefühle hatte er erwartet. Was ihn überraschte, war die Angst. Die Vorstellung, dass er sie fast verloren hätte, dass sie in diesem Moment gerade leiden könnte, gab ihm das Gefühl, laut schreien zu wollen.

 Marty verlangte Einzelheiten, welche Verletzungen sie hatte, wie schlimm sie verletzt war. Doch die Krankenschwester wollte seine Fragen nicht beantworten; sie sagte nur, er solle so schnell wie möglich kommen.

 Er schaffte die Strecke von seiner Wohnung in West Los Angeles bis nach Westwood in ungefähr fünfzehn Minuten, er überfuhr zwei rote Ampeln und hätte um ein Haar selbst einen Motorradfahrer angefahren. Marty schaffte es kaum, durch seine Tränen hindurch etwas zu sehen oder über seine Angst hinauszudenken.

 Er war ihr Notfallkontakt? Das hatte er nicht gewusst. Wann ist das passiert? Wann hat sie entschieden, ihm diese Verantwortung für sie zu übertragen? Wann war er für sie wichtiger geworden als ihre Familie?

 Marty parkte, wischte sich mit dem Ärmel über die Augen und ermahnte sich, stark zu sein. Für sie. Er war ihr Notfallkontakt.

 Im Wartebereich der Notaufnahme lief gerade Familienduell im Fernsehen, als Marty hereingestürmt kam. Keiner der besorgt wirkenden Wartenden, die auf steifen Plastikstühlen saßen, schaute zu. Er wusste, sein Gesicht sah genauso aus wie ihre.

 Marty ging direkt zum Empfang, sagte ihnen, er sei Beths Notfallkontakt, und sie führten ihn in einen der großen Räume. Drei mobile Betten waren durch Vorhänge voneinander abgetrennt. Ein kleiner Junge weinte und klammerte sich an seine Eltern, während ein Arzt einen Nagel aus seinem Fuß entfernte. In einem Bett lag eine Frau in den Zwanzigern mit Nesselausschlag am ganzen Körper und las das People Magazine. Und im nächsten Bett lag Beth, mit geschlossenen Augen und einer großen, offenen Wunde quer über ihrem Kinn.

 Ihre Bluse war voller Blut. Auf ihren Armen, Beinen und Wangen prangten Kratzer. Er schluckte einen Aufschrei hinunter und stürzte zu ihr, wagte es aber nicht, sie zu berühren.

 »Beth?«

 Sie öffnete die Augen, lächelte und griff nach seiner Hand. »Oh, Marty, es tut mir so leid.«

 »Wofür entschuldigst du dich denn?«

 »Dafür, dir so eine Angst eingejagt zu haben. Es geht mir gut.«

 »Alles in Ordnung«, sagte er. »Gott, mach dir keine Sorgen.«

 »Ich habe ihnen gesagt, dass sie dich nicht anrufen sollen, aber sie haben darauf bestanden«, sie erwischte ihn dabei, wie er auf das ganze Blut auf ihrer Kleidung starrte. »Das ist nicht der Rede wert, Marty, wirklich. Das ist von dem Schnitt an meinem Kinn. Es ist nichts gebrochen, nur ein Haufen Schrammen und Prellungen.«

 Marty war so erleichtert, dass er befürchtete, wieder weinen zu müssen. Er zwang sich, es nicht zu tun. Notfallkontakte weinen nicht. Sie sorgen für Kraft und Beruhigung.

 »Was ist passiert?«

 »Ich bin über die Straße gegangen, und da kam dieser Wagen um die Ecke geschossen. Du hättest es toll gefunden, ich bin ihm aus dem Weg gehechtet wie T. J. Hooker«, sie lächelte erneut, wodurch die Wunde an ihrem Kinn aufklaffte wie ein zweiter Mund. »Mit dem Unterschied, dass T. J. das Nummernschild des Typen erkannt hätte.«

 Der Schnitt am Kinn war so tief, dass man den Knochen sehen konnte, und er blutete immer noch. Ihm tat vom bloßen Zuschauen das eigene Kinn weh. Ihm tat alles weh, was auch ihr wehtat, und er wünschte, das würde ausreichen, um ihr den Schmerz zu nehmen und ihn auf ihn zu übertragen. Wenn er das tun könnte, würde er es tun.

 »Was sagen die Ärzte?«, fragte Marty.

 »Die wollen ein paar Röntgenaufnahmen machen, nur zur Sicherheit, und sie wollen mein Kinn nähen. Ich bin mir nicht sicher, ob die mir wirklich zuhören, also versprich mir bitte, dass sie nicht irgendeinen Praktikanten da ranlassen. Besorg’ mir einen Schönheitschirurgen.«

 »In Ordnung.«

 »Vergewissere dich bitte, dass es ein plastischer Chirurg ist. Eine Narbe könnte mir meine Schauspielkarriere versauen.«

 Wenn sie sich darüber Sorgen machte, dann ging es ihr wirklich gut. »Eine kleine Narbe hat auch Harrison Ford nicht geschadet.«

 »Er ist ein Mann«, sagte sie, »das ist etwas ganz anderes.«

 Marty lächelte und drückte ihre Hand. Er wollte sie umarmen, sie wissen lassen, wie voll der Liebe und Erleichterung er im Moment war.

 »Warum lächelst du?«, fragte sie und unterdrückte selbst ein Lächeln.

 »Nur so.«

 »Hey, ich habe Schmerzen.« Sie erwiderte den Druck seiner Hand.

 »Ich weiß.«

 »Du lächelst immer noch.«

 »Heirate mich.«

 Die Worte kamen ohne Vorwarnung, ohne Überlegung. Doch als Marty sich diesen Satz sagen hörte, wollte er ihn auch nicht wieder zurücknehmen oder einen Scherz daraus machen. Er wusste, dass es richtig war und dass er es ernst meinte.

 »Was hast du gerade gesagt?« Sie starrte ihn an.

 »Ich sagte, heirate mich.«

 »Ich werde nicht sterben«, sagte sie, und ihre Lippen bebten. »Du musst das nicht tun.«

 »Doch, muss ich. Mir wird gerade klar, dass ich das schon vor langer Zeit hätte tun sollen. Ich habe dich und das, was du in mein Leben einbringst, für selbstverständlich gehalten. Das werde ich nie wieder tun.«

 Tränen kullerten über ihr Gesicht, aber nicht vor Schmerz oder aus Angst. Sie lächelte. »Ich schätze, wenn die Ehe nicht funktionieren sollte, kann ich mich immer noch darauf berufen, dass ich genötigt wurde und unter Einfluss von Drogen stand, als du mich gefragt hast.«

 »Ist das ein Ja?«

 Sie nickte. Er beugte sich hinunter und küsste sie so sanft es ihm nur möglich war.

 Ein plastischer Chirurg nähte Beths Wunde (und Jahre später war die Narbe kaum noch zu erkennen), und während sie geröntgt wurde, machte sich eine Krankenschwester Martys Sorge um Beth zunutze und brachte ihn dazu, Blut für Unfallopfer zu spenden, die nicht so viel Glück hatten wie seine Frau. Auf merkwürdige Weise führte das Blutspenden dazu, dass er sich besser fühlte, genau wie jetzt auch.

 Er lag auf der Pritsche auf dem Fußballfeld der Fairfax High School, eine ganze Landschaft der Zerstörung zwischen sich und Beth, und er hatte fast das Gefühl, als könnte er sie berühren.

 


 KAPITEL ZWÖLF

 Swimming Pools, Filmstars

 12:32 Uhr. Mittwoch.

 Marty wollte schleunigst weiter, und er hatte nicht vor zu warten, bis man seine Wunde nähte. Er hatte seinen Teil zur Katastrophenhilfe beigetragen und wollte weiterziehen, bevor sie versuchten ihn dazu zu bringen, noch mehr zu tun. Immer noch lagen die Santa Monica Mountains und ein im Smog erstickendes Tal zwischen ihm und Beth.

 Er stand auf und sah sich nach Buck um, was bedeutete, dass er mit offenen Augen und erhobenem Kopf zwischen den Verletzten herumlaufen musste und ihre Gesichter zum ersten Mal tatsächlich wahrnahm. Sie sahen alle gleich aus. Ganz egal, ob sie verletzt waren oder nicht oder wie schwer sie verletzt waren. Sie hatten alle die gleiche Körpersprache, den gleichen Ausdruck. Es war nicht Angst, Sorge oder Schmerz, auch wenn es davon ebenfalls mehr als genug gab. Sie sahen alle verloren aus. Alles, was ihnen etwas bedeutet hatte, war verschwunden. Ihre Häuser, ihre Jobs, ihre Familien, ihre eigenen Körper, der Boden unter ihren Füßen, alles zunichte.

 Marty erinnerte sich daran, wie er von der eingestürzten Überführung weggegangen war, nachdem er Franklin gerettet hatte. Das Erste, was er bemerkt hatte, war Bob Baker’s Marionettentheater, und er hatte sich nicht vorstellen können, warum es existierte und wie es überlebte. Damals hatte er die Bedeutung eines Puppentheaters in einer modernen Welt nicht verstanden. Jetzt schon.

 Sie alle waren Puppen, mit Leben erfüllt durch die Grundstücke, Verpflichtungen und Beziehungen, an die sie gebunden waren, und die jetzt alle abhanden gekommen waren. Das Erdbeben hatte all diese Fäden durchtrennt.

 Marty wusste, dass es ihm kein bisschen anders erging. Er klammerte sich an diesen einen Faden, der ihm übrig geblieben war, den einen, der ihn wieder zu Beth führen sollte.

 Und Buck, der hielt sich an dem einen dünnen Faden fest, der ihn am Leben hielt: seine Harter-Kerl-und-Kopfgeldjäger-Rolle. Er brauchte es, ein Held zu sein, ständig zu beweisen, dass er Eier hatte, und in einer Situation auf Leben und Tod die eine, alles entscheidende Bewegung zu machen – wahrscheinlich war das der Grund, warum er keine Mühen scheute, um solche Situationen zu provozieren, wenn das Schicksal gerade keine Lust dazu hatte.

 Zumindest war das Martys spontane, küchenpsychologische Sicht der Dinge. Wahrscheinlich war es eine verkürzte Sicht und zu einfach gedacht, aber es war die beste Erklärung, die er für Bucks undurchschaubaren, wenngleich eindimensionalen Charakter bisher hatte finden können.

 Er fand Buck auf einer Krankentrage, wo er gerade Blut spendete und Oreos aß. Es machte Marty wütend. Buck war der letzte Mensch, von dem er erwartet hätte, dass er irgendwo herumlag, wo sie doch schon längst wieder unterwegs sein sollten.

 »Was tust du hier? Du hast schon Blut gespendet.«

 »Um ehrlich zu sein, hab ich nicht. Ich hab nur die Kekse gegessen.«

 Marty blickte auf seine Uhr. Es war fast ein Uhr, und er hatte noch einen weiten Weg vor sich. »Verdammt, Buck. Warum konntest du das nicht erledigen, während ich gespendet habe? Jetzt wird es doppelt so lange dauern, bis wir hier rauskommen, und ich will endlich los.«

 »Dann geh.«

 Das war kein arglistiger Konterversuch. Buck sagte es ganz beiläufig, ohne Heimtücke oder Bitterkeit, und überraschte Marty damit völlig. Marty wusste nicht, was er davon halten sollte.

 »Meinst du das ernst?«

 »Die brauchen mich hier. Blut spenden. Die Massen im Griff behalten. Die Kekse bewachen. Was auch immer. Ich will meinen Teil beitragen. Vielleicht kriege ich sogar eine von diesen Profi-Windjacken.«

 Buck versuchte, etwas zu sehen, aber Marty stand ihm im Weg. Marty folgte Bucks Blick und sah Angie, die sich gerade über eine Kiste mit Vorräten beugte und ihnen den Rücken zukehrte. Sie hatte einen hübschen Rücken.

 »Glaubst du wirklich, du hast Chancen bei ihr?«

 »Falsche Frage, mein Freund«, grinste Buck. »Die eigentliche Frage lautet: Wie lange kann sie ihre natürlichen Triebe in Schach halten?«

 Marty konnte sich nicht erinnern, dass Angie irgendetwas gesagt oder getan hätte, das Bucks Hoffnungen gerechtfertigt hätte. Vielleicht war es aber auch egal. Vielleicht war gar nicht sie der Grund, warum Buck bleiben wollte. Es lief wieder auf die Fäden hinaus. Vielleicht hatte er seinen genau hier gefunden.

 Buck war ständig auf der Suche nach einer Gelegenheit, um sein Heldentum und seinen Mut zu beweisen, und das hier war eine Steilvorlage. Und das Allerbeste: Es gab hier eine Frau, die er damit beeindrucken konnte. Und wenn Buck wirklich Glück hatte, würde er vielleicht sogar dazu kommen, jemanden zu erschießen.

 »Aber wenn du mich brauchst«, sagte Buck, »dann reiße ich mir jetzt sofort diese verdammte Nadel aus dem Arm, und wir sehen zu, dass wir Land gewinnen.«

 Marty lächelte. Alles, was Buck gerade gesagt hatte, schien Martys Schlussfolgerungen über ihn nur zu bestätigen. Zum ersten Mal hatte er das Gefühl, tatsächlich zu verstehen, wer Buck war.

 »Ich denke, ich komme schon klar. Die brauchen hier jede Hilfe, die sie kriegen können, und im Gegensatz zu dir bin ich zu egoistisch, um zu bleiben.«

 »Du hast familiäre Verpflichtungen, Marty, das ist nicht egoistisch. Das ist es doch, was es bedeutet, ein verdammter Mann zu sein. Ich komme später nach, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung ist.«

 »Jederzeit, Buck.« Zu seiner großen Überraschung stellte Marty fest, dass er das tatsächlich so meinte. »Du weißt, wo ich wohne. Ich werde deinen Namen beim Wachmann am Tor hinterlassen, vorausgesetzt, es gibt noch einen Wachmann und ein Tor.«

 Buck streckte Marty seine Hand entgegen. »Wir haben einige Schlachten gemeinsam geschlagen. Das ist ein Band, das niemals wieder zertrennt werden kann.«

 Marty schüttelte sie, und dieses Mal legte er echte Gefühle in den Händedruck. Irgendwo auf dem Weg hinter ihnen war Buck sein Freund geworden, und jetzt erkannten sie es beide an.

 »Das ist jetzt das dritte Mal, dass wir uns voneinander verabschieden«, sagte Marty. »Ich glaube, wir werden immer besser.«

 »Versuch einfach, mir dieses Mal nicht eine verdammte Riesenwelle auf den Leib zu schicken.«

 Marty lächelte und ging davon, während er sich noch wunderte, wie seltsam sein Leben geworden war. Er hatte gerade den Typen, der auf ihn geschossen hatte, eingeladen, jederzeit bei ihm zu Hause vorbeizuschauen.

 Warte nur, bis das Beth zu Ohren kommt, dachte er.

 Und da musste er zum ersten Mal seit dem Erdbeben laut und herzhaft lachen.

 13:00 Uhr. Mittwoch.

 Los Angeles war eigentlich keine richtige Stadt, sondern vielmehr der unbestimmte Raum, der viele kleine Städte umfasste, die zu eng zusammengewachsen waren. Wenn es nicht gerade einen offensichtlichen kulturellen Orientierungspunkt wie das Chinesische Theater oder den Rodeo Drive gab, war es nicht immer einfach zu wissen, wo genau man eigentlich gerade war.

 Marty wusste nicht, wann genau er Hollywood verließ und nach West Hollywood kam. Wäre er ein paar Blocks weiter nördlich unterwegs gewesen, wäre es offensichtlich gewesen.

 Im Osten begann West Hollywood ungefähr da, wo früher das Pussycat-Theater gestanden hatte. Das Theater gab es noch, doch ungefähr zu der Zeit, als West Hollywood eine Stadt wurde, wurde es zum Tomcat-Theater, das Stücke wie »Ich liebe Vorhaut« zeigte, um der schwulen Gemeinde besser gerecht zu werden.

 Im Westen bildete der Doheny Drive eine klare Trennlinie, wo große Schilder auf Grasnarben zu beiden Seiten der Kreuzung Reisende darüber informierten, dass sie gerade die Grenze zum schicken Beverly Hills oder dem schwulen West Hollywood überquerten. Das Einzige, was noch fehlte, waren Stacheldraht und ein Minenfeld.

 Doch Marty ging immer noch auf der Melrose Richtung Westen, und es gab keine sonderlich klaren Wegweiser. Er nahm nur deswegen an, in West Hollywood zu sein, weil er wünschte, schon so viel näher an seinem Zuhause zu sein.

 Er konnte immer noch nicht ganz begreifen, was ihm passiert war, seit er gestern morgen aufgestanden war. An jenem Morgen waren das Wichtigste, was er im Sinn hatte, die nicht zu bändigenden Brustwarzen von Sally Sorenson gewesen, und die Frage, was er in der Besprechung mit der Rechtsabteilung am Nachmittag über sie sagen würde. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass er, statt über »exzessives Zurschaustellen von Brustwarzen« zu sprechen, die Gower Street hinunterrennen würde, auf der Flucht vor 15 Millionen Tonnen sich aufbäumenden Wassers.

 Nichts im Leben, vielleicht mit Ausnahme von Katastrophenfilmen, hatte ihn darauf vorbereitet, und in vielerlei Hinsicht weigerte sich die Wirklichkeit hartnäckig, sich an die durchaus vernünftigen Regeln eines Irwin Allen zu halten.

 Sollte der Tag nicht eigentlich damit beginnen, dass er mit einigen schrulligen Charakterskizzen in die ethnisch und moralisch sehr vielseitige Gruppe von Überlebenden eingeführt wurde, die er am Hals haben würde?

 Wo waren die todgeweihten Liebenden, der hinterhältige Feigling, das rührende ältere Ehepaar, der idealistische Dummkopf und das sich aufopfernde Unschuldslamm?

 Und sollte seine sexy Angebetete nicht eigentlich an seiner Seite statt eine Randfigur im Off sein?

 Er blieb stehen, um das riesige Pacific Design Center zu betrachten, einen elfstöckigen Klotz aus kobaltblauem Glas, der sich über einen ganzen Häuserblock erstreckte und von den meisten Los Angelenos nur »Der Blaue Wal« genannt wurde. Dahinter stand als noch größeres Gegenstück ein Monolith neueren Datums in Hellgrün, der den meisten Los Angelenos als »Das Hässliche Grüne Ding Hinter Dem Blauen Wal« bekannt war. Für Marty sahen sie aus wie übergroße Aufbewahrungsdosen aus Hartplastik.

 Öffnen Sie einfach den Deckel und lagern Sie Menschen darin, um sie länger frisch zu halten!

 Jetzt sahen beide Gebäude aus, als seien sie von einem Geschwader Architekturkritiker im Sturzflug bombardiert worden.

 Während Marty nachdenklich den Trümmerhaufen betrachtete, dieses erneute Mahnmal der immensen Ausmaße der Katastrophe, die er durchlebt hatte, fragte er sich, wie sein Leben hiernach wohl weitergehen würde, in welcher Weise es ihn verändern würde oder ob es ihn bereits verändert hatte. Es war einfach noch zu früh, als dass er hätte wissen können, wie groß der Schaden war und ob es ihm am Ende wirklich schaden würde.

 Marty setzte sich wieder in Bewegung und spürte unvermittelt, wie der ganze Orangensaft in seinem Magen hin und her schwappte. Also blieb er neben einem Haufen Unrat stehen, blickte sich flüchtig um, öffnete seinen Hosenschlitz und pisste.

 Er fragte sich, warum ihn das nicht so beschämte, wie in der Öffentlichkeit zu kacken, und warum Männer es immer für nötig befanden, gegen irgendetwas zu pinkeln, als eine wütende Stimme seine belanglosen Gedankengänge störte.

 »Schnitt!«

 Zuerst dachte Marty, er hätte es sich eingebildet, als wäre der Geist eines sehr verärgerten Irwin Allen heraufbeschworen worden. Du machst alles falsch! Wo ist das Abbild der Gesellschaft? Wo sind all die Shelley Winters und Red Buttons?

 Doch dann ertönte die Stimme wieder, dieses Mal lauter und ärgerlicher. »Schnitt, gottverdammt noch mal, SCHNITT!«

 Marty war fertig, machte seine Hose zu und drehte sich um. Auf dem Gehweg auf der anderen Straßenseite entdeckte er eine kleine Filmcrew, bestehend aus drei Leuten.

 Der fettleibige Kameramann ließ seine 35-mm-Arriflex sinken und spuckte einen Klumpen Kautabak aus, wobei er um ein Haar seinen schlaksigen Assistenten getroffen hätte, der die Kameraausrüstung schleppte und ansonsten völlig in einer Benommenheit gefangen war, die wahrscheinlich einen Tag zuvor mit dem ersten Grollen des Bebens begonnen hatte. Sie wirkten auf Marty wie die postapokalyptischen Skipper und Gilligan.

 Ein Typ marschierte über die Straße auf Marty zu, und er erkannte sofort den Regisseur in ihm, denn das Einzige, was er trug, waren die entsprechende Haltung und eine Zigarette zwischen seinen Lippen. Das wäre dann wohl der postapokalyptische Thurston Howell, nur in einer etwas abgespeckten und, dem neuen Jahrtausend angemessen, cooleren Ausgabe.

 »Wirklich, du warst fabelhaft. Sehr ungewöhnlich. Meinst du, du könntest genau das gleiche noch einmal machen, nur dieses Mal ohne zu pissen?«

 »Was hab ich denn gemacht?«

 »Du warst Mensch im Bild.« Der Regisseur hielt seine Hände vor sein Gesicht und formte mit Daumen und Zeigefinger die unteren Ecken einer Kameraeinstellung. »Ich habe vom Gebäude heruntergeschwenkt und auf deinen Rücken fokussiert, das gibt der Zerstörung eine menschliche Dimension, aber dann kamst du auf die Idee, deinen Pimmel zu zücken und zu pissen.«

 »Dann hast du jetzt eine menschliche Dimension und Ironie. Das findet man in Archivmaterial selten. Du solltest dich bei mir bedanken.«

 Nach allem, was Marty hier an Ausrüstung und Thematik sah, musste es sich um einen Dreh fürs Archiv handeln. Es war das älteste kleine Geheimnis Hollywoods. In so ziemlich jedem Film und jeder Fernsehsendung, die je gemacht wurden, wurden nicht im Abspann genannte Archivbilder benutzt, die von anderen gedreht worden waren und die man schon viele Male gesehen hatte. Aber es war genau diese Neutralität der Aufnahmen, die es ermöglichte, damit durchzukommen, ohne dass die meisten Zuschauer es jemals bemerkten.

 Marty wollte weitergehen, als der Regisseur sich ihm plötzlich in den Weg stellte.

 »Warte einen Moment«, der Regisseur schnippte seine Zigarettenkippe weg und zeigte auf Martys Tasche. »Du arbeitest bei einem Sender, stimmt’s?«

 »Nein.«

 »Woher wusstest du, dass ich Archivbilder drehe?«

 Marty konnte der Versuchung nicht widerstehen, ein bisschen anzugeben. »Eine Nachrichtencrew hätte eine Videokamera benutzt. Du drehst auf 35 Millimeter, ohne Tonausrüstung, ohne Licht, ohne vollständiges Team, und du filmst ein Gebäude und meinen Rücken. Es war eine wohlbegründete Vermutung.«

 Er versuchte, an ihm vorbeizugehen, doch der Regisseur stellte sich ihm erneut in den Weg und zückte eine Visitenkarte.

 »Ich bin Kent Beadine, der König der Archivaufnahmen.«

 Was auch die Visitenkarte vermeldete, zusammen mit der Zeichnung einer Krone, die keck auf einer Filmrolle mit Grinsegesicht saß.

 »Kennst du das Gebäude in L. A. Law? Das war von mir«, sagte Kent. »Oder hast du schon mal diese Vollmondeinstellung gesehen, mit dieser dünnen Wolke, die im Vordergrund vorbeizieht? Meine. Spielberg, Coppola, Scorsese, die haben sie alle benutzt.«

 »Das ist schön.« Marty drängte sich an ihm vorbei.

 Kent machte seinem Team ein Zeichen, sich nicht vom Fleck zu rühren, und schloss zu Marty auf. »Heute ist dein Glückstag.«

 »Fühlt sich für mich nicht so an.«

 »Ich weiß, was du meinst. Heute wurden wir Zeugen einer fürchterlichen Tragödie und mussten das Leid unserer Mitmenschen miterleben.«

 Kent verlangsamte seine Schritte, gebremst von all dem Leid. Traurig senkte er seinen Kopf, um darüber nachzusinnen.

 Auch Marty wurde gegen seinen Willen langsamer und blickte zu Kent. In diesem Moment hob der Regisseur seinen Blick, sein Gesicht leuchtete vor Begeisterung, und zeigte auf Marty. »Aber morgen schon wird das ein Film sein, das wissen wir beide. Die Frage ist nur: Wer macht ihn zuerst?«

 Marty stöhnte und ging weiter.

 Kent beeilte sich, wieder an seine Seite zu kommen. »Und wer auch immer es tun wird, wird all das wieder erschaffen müssen.«

 »Die Tragödie und das menschliche Leid.«

 »Das ist einfach, was schwierig wird, ist diese massive Zerstörung. Aber du bist im Vorteil.«

 »Ich wüsste nicht, in welcher Hinsicht.«

 »Niemand hatte jemals gute Erdbebenbilder zur Verfügung. Das ist alles auf Video gedreht. Sieht scheiße aus und passt nie zum Rest des Films. Die Zuschauer sehen sofort, dass es Fake ist, also muss man ein Vermögen in Modellbau und CGI investieren. Jetzt nicht mehr. Ich drehe das hier auf 35-mm-Film. Das werden die ersten Archivbilder eines katastrophalen Erdbebens in Filmqualität sein. Das wird der Renner. Diese Aufnahmen wird man noch in dreißig Jahren in Filmen und Fernsehsendungen sehen. Aber du, Marty, du kannst der Erste sein, der sie benutzt.«

 Marty blieb stehen. »Woher weißt du meinen Namen?«

 »Er steht auf deiner Visitenkarte«, Kent tippte auf die laminierte Erkennungskarte am Riemen von Martys Tasche. »Sieht aus wie eingraviert. Sehr beeindruckend. Ich habe auch darüber nachgedacht, es so machen zu lassen.«

 Marty hatte plötzlich eine Idee, aber es würde einiger Recherche bedürfen, um herauszufinden, ob es funktionieren könnte. »Was für Aufnahmen hast du?«

 »Den überschwemmten Hollywood Boulevard, wo die Spitzen des Chinesischen Theaters noch aus dem Schlamm hervorragen. Feuer-Geysire, die aus dem Farmer’s Markt herausschießen. Die Teergruben von La Brea, die den Wilshire Boulevard verschlingen. Und das ist nur der Anfang.«

 Marty ahnte, dass dies am Ende vielleicht doch noch sein Glückstag sein könnte, aber nicht aus den gleichen Gründen, die Kent im Sinn hatte. »Und diese ganzen Aufnahmen hast du zu Fuß an nur einem Tag gemacht?«

 »Himmel, nein.« Kent wies mit dem Kopf zu seiner Kameracrew. »Wir haben Motorräder benutzt.«

 Marty folgte seinem Blick. Drei Motorräder waren auf dem Gehweg geparkt, gerade außerhalb des Spuckradius’ des Tabak kauenden Kameramanns.

 Ja, tatsächlich, es war Martys Glückstag. »Wo geht ihr als Nächstes hin?«

 »Ich habe gehört, die Türme von Century City sind eingestürzt. Tausende von Menschen tot. Das muss spektakulär aussehen.«

 »Ihr solltet ins Tal runter.«

 »Ja, klar, als ob das irgendjemanden interessieren würde. Hast du ein platt gewalztes Wohnhaus gesehen, hast du alle gesehen.« Kent holte ein Päckchen Zigaretten hervor, schüttelte eine heraus und bot sie Marty an, der ablehnte.

 Der Regisseur steckte sich die Zigarette in den Mund und zündete sie an. »Ich versuche, Wahrzeichen zu kriegen, oder zumindest das, was davon übrig ist. Das ist es, was die Leute zerstört sehen wollen. Das hat eine emotionale Wirkung und, was wichtiger ist, einen Wiederverkaufswert. Was glaubst du denn, warum in Filmen die Asteroiden immer das Chrysler-Gebäude oder den Eiffelturm treffen?«

 Kent nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch zu der Marty abgewandten Seite aus.

 »Du hast natürlich recht«, sagte Marty. »Aber ich habe ganz spezielle Bedürfnisse. Der Film, über den ich nachdenke, spielt sich im Tal und in der Stadt ab.«

 »Du denkst über einen Film nach?«

 »Es geht um einen Typen, der zu Fuß nach Hause geht, aus der Innenstadt von L. A. bis zu seiner Familie ins Tal. Der Film zeigt abwechselnd, wie seine Frau und Kinder versuchen, in der zerstörten Wohngegend durchzukommen, und den heldenhaften Überlebenskampf des Typen auf seinem Marsch nach Hause.«

 Kent dachte einen Moment darüber nach. »›Stirb Langsam‹ gepaart mit ›Unterwegs nach Cold Mountain‹

 »Eher ›Die Abenteuer des Odysseus‹ und ›Survivor‹ – Das Grauen aus dem Ewigen Eis. Ich denke an Tim Daly oder Kevin Sorbo in der Hauptrolle.«

 »Gefällt mir. Das ist neu und originell. So was habe ich noch nie gesehen.«

 »Wenn du genau das drehen würdest, was ich brauche, wäre es kein Archivmaterial mehr, es wäre ein Second-Unit-Beitrag. Du würdest im Abspann erwähnt werden, vielleicht würdest du sogar eine Karte als Co-Produzent bekommen.«

 »Aber ich hätte immer noch alle Rechte an dem Material, auf ewig.«

 »Absolut.«

 Kent lächelte und legte den Arm um Marty. »Dann lass uns mal ein paar Drehorte auskundschaften.«

 13:30 Uhr. Mittwoch.

 Beverly Hills war keine Stadt, es war ein Erlebnispark. Und heute hatten all die Attraktionen, Geschenkläden und Imbissstände des Fantasialands der Reichen und Schönen geschlossen.

 Marty teilte sich ein Motorrad mit Kent und hielt sich flüchtig an dem Regisseur fest, während sie sich an Millionen von Dollars in Form geleaster deutscher Autos vorbeischlängelten, die auf dem aufgesprungenen Asphalt des Santa Monica Boulevard zurückgelassen worden waren. Skipper und Gilligan, die die Ausrüstung transportierten, fuhren direkt hinter ihnen auf den anderen beiden Motorrädern.

 Sie passierten ernst dreinblickende, bewaffnete Polizisten, die an ihre glänzenden, schwarz-weißen SUVs gelehnt die Straßensperren bemannten, die Beverly, Rodeo und Camden vor Eindringlingen abriegelten.

 Und zugleich waren auf der anderen Straßenseite, hinter dem grasbewachsenen Park entlang des Santa Monica Boulevards, Hunderte von Bewohnern von Beverly Hills unter ihren Riesengaragen für fünf Autos gefangen, wo sie auf Hilfe warteten, die, wie Marty wusste, niemals kommen würde. Die Polizisten waren zu sehr damit beschäftigt, Polohemden zu retten und Cartier-Uhren aus den eingeebneten Geschäften in Sicherheit zu bringen.

 Diese Straßen und ihre Geschäfte waren das Smithsonian von Beverly Hills, wo antike Geschichte an den Zeitintervallen der Parkuhren abgelesen wurde; wo eine Prada-Tasche und ein Hermes-Schal Artefakte von unschätzbarem kulturellen, künstlerischen und wissenschaftlichen Wert darstellten, zumindest bis die neue Herbstkollektion herauskam; wo die Original-Kineskop-Kopie des Piloten zu »I Love Lucy«, die stündlich im Fernseh- und Radiomuseum abgespielt wurde, mindestens so gut bewacht wurde wie die Mona Lisa.

 Kent machte eine Kehrtwende und steuerte das Motorrad auf das Parkstück auf der anderen Seite des Rodeo Drive, wo er, sehr zu Martys Verdruss, anhielt. Sie waren noch nicht sonderlich weit gekommen, was aber natürlich Martys einziger Grund war, mit dem Archivbilderteam mitzufahren.

 »Warum halten wir an?«, fragte Marty.

 »Der Rodeo Drive ist nur noch Staub und Asche, da können wir nicht lang. Das ist ja wie der Untergang des Römischen Reiches!« Kent sprang von seinem Motorrad und machte Skipper und Gilligan Zeichen, neben ihm zu parken.

 Marty seufzte und fand sich mit dem Unvermeidlichen ab. Selbst mit gelegentlichen Stopps, um zu filmen, würde er mit Kent und seinem Motorrad immer noch schneller vom Fleck kommen als ohne ihn. Er setzte sich im Park auf den Rand eines großen Brunnens aus Beton, um zu warten, bis Kent fertig war.

 Kent schaute sich durch den Rahmen, den er mit seinen Händen bildete, aufgerissenen Asphalt und eingestürzte Geschäftsfassaden auf dem Rodeo Drive an und rief dem Skipper zu: »Mach von hier aus ein paar Weitwinkelaufnahmen.«

 Der Skipper spuckte einen Tabakklumpen in das stehende Wasser des Brunnens. »Ohne Kran wird es von hier aus nicht viel zu sehen geben, nur die Straßensperren. Wir müssen näher ran. Das sind die Einstellungen, die Kohle bringen.«

 »Besorg’ mir einfach nur die Totalen. Ich werde mich mal ein bisschen mit der örtlichen Polizei unterhalten.« Kent nahm einen tiefen Zug von dem kleinen Zigarettenstummel, der ihm geblieben war, und atmete langsam aus. »Wenn ich damit fertig bin, denen Honig um den Bart zu schmieren, werden sie uns auf dem Rodeo Drive nicht nur willkommen heißen, sie werden dir sogar helfen, die Ausrüstung zu schleppen.«

 Während Kent über die Straße schlenderte, um die Bullen zu bearbeiten, schaute Marty sich den Brunnen an, auf dem er saß. Es war ein etwa ein Fuß tiefes rundes Becken, das die gesprungene Statue einer stämmigen, nackten Nymphe umgab, die einen Armvoll sich windender Fische mit offenen Mäulern trug. Laut dem Schild am unteren Rand handelte es sich bei der Antiquität um ein Geschenk an Beverly Hills aus Cannes, der offiziellen »Schwesterstadt« in Frankreich. Die hatte wahrscheinlich 400 Jahre darauf gewartet, sie endlich auf jemanden abwälzen zu können.

 Der Skipper linste durch den Sucher seiner Kamera, dann brach er beleidigt ab und stellte sie auf den Boden. »Ich weiß ja nicht, wie ich irgendetwas drehen soll, wenn der da so rumsteht. Er ist genau mitten im Bild.«

 Marty schaute nach hinten zu Kent, der mit den Armen gestikulierte und den stoischen Polizisten lebhaft etwas zu erklären versuchte. Kent schien damit nicht sehr weit zu kommen, was wohl bedeutete, dass sie noch eine Weile hierbleiben würden.

 Dieser Gedanke veranlasste Marty, zu Kents Motorrad hinüberzusehen. Der Regisseur hatte den Schlüssel im Schloss stecken lassen.

 »Du arbeitest beim Sender?«, fragte der Skipper Marty.

 »Mhm.« Marty hatte seinen Blick nicht vom Motorrad abgewendet.

 »Ich habe ’87 bei ›The Tortellis‹ Kamera gemacht.« Der Skipper spuckte einen Klumpen Kautabak aus und sah dabei zu, wie er in hohem Bogen durch die Luft flog, bis er ins Brunnenwasser plumpste. »Manche Leute verwechseln das mit ›The Torkelsons‹, weil beides NBC-Seifenopern waren, die mit T beginnen. Aber die spielten nicht in der gleichen Liga.«

 Marty nickte, als hätte er zugehört, während er in Wirklichkeit doch nur auf das Motorrad springen und davonrasen wollte. Ein paar Dinge hielten ihn davon ab, dem Impuls nachzugeben. Zum einen war er noch nie selbst Motorrad gefahren. Zum anderen war es wahrscheinlich keine sehr schlaue Idee, jemandem vor den Augen einer Kamera und zweier Polizisten etwas zu stehlen.

 Er ließ sein Bündel von den Schultern rutschen und ins Gras fallen. Er konnte es sich genauso gut bequem machen.

 »›The Tortellis‹ war von den gleichen Typen, die auch ›Cheers‹ gemacht haben.« Der Skipper spuckte Gilligan an, nur um zu sehen, ob der aus dem Weg springen würde. Fehlanzeige. Der Klumpen rutschte an Gilligans Shirt herab, doch der benebelte Assistent schien es nicht einmal zu bemerken. »Es hätte ein zweites ›Frasier‹ werden können, wurde es aber nicht. Aber es war so sicher wie die Hölle nicht wie ›The Torkelsons‹

 Der Skipper stopfte sich noch mehr Tabak in den Mund und sah zu, wie Kent mit den Bullen stritt. Marty schaute auch zu.

 Dem genervten Gesichtsausdruck der Polizisten nach zu urteilen, würden sie Kent mit der Knarre niederstrecken, wenn er noch weiter auf seiner Meinung beharren würde. In einem Anfall von Wut schnippte Kent ihnen seine Kippe entgegen und drehte sich um.

 Die Straße explodierte.

 Marty fiel mit dem Gesicht voraus in den Brunnen, als ein infernalischer Flammensturm mit unvorstellbarer Wucht durch den rissigen Asphalt des Rodeo Drive schoss und in alle Richtungen explodierte.

 Er spürte die Höllenqualen der sengenden Liebkosung und hörte das unheimliche Getöse der Feuersbrunst, während sie über ihn hinwegrollte. Seine Schreie ertranken im Wasser.

 Und dann, nur Augenblicke nachdem sie entzündet worden war, war die Feuersbrunst vorbei, völlig ausgelöscht und von der Luft absorbiert wie feiner Nebel.

 Sofort drehte Marty sich um, seine brennende Jacke zischte im Wasser. Sein Rücken war verschmort, rot glühende Nadeln aus Schmerz stachen ihm tief ins Fleisch. Einen endlosen Schockmoment lang lag er dort, halb im Wasser schwebend, hörte dem Knacken des Feuers zu, war überrascht, am Leben zu sein, und versuchte zu rekonstruieren, was gerade passiert war. Er vermutete, dass Kents Zigarettenstummel Gas entzündet hatte, das sich wegen eines Lecks irgendwo in der Nähe unter dem Rodeo Drive angesammelt hatte. Die Druckwelle der Explosion hatte Marty umgehauen und in den Brunnen gestoßen, wo die Betonumrandung und das einen Fuß tiefe Wasser ihn gerettet hatten. Die Feuerwalze war direkt über ihn hinweggerollt und hatte sein Fleisch verbrüht.

 Es fühlte sich an, als hätte jemand versucht, sein Hemd zu bügeln, während er es noch anhatte. Doch es hätte weitaus schlimmer kommen können. Ohne seine zwei Lagen nasser Kleidung wäre ihm wahrscheinlich überhaupt keine Haut auf dem Rücken geblieben. Marty setzte sich langsam auf, verzog vor Schmerz das Gesicht und sah sich um.

 Nach all der Zerstörung, die er bereits gesehen hatte, dachte er, er sei über den Punkt hinaus, an dem ihn das epische Ausmaß der Verwüstung oder der Anblick vertrauter Dinge, die in etwas völlig anderes und Albtraumhaftes verwandelt wurden, noch überwältigen konnten.

 Er hatte sich getäuscht.

 Beverly Hills war eine brennende Wüste. Gebäude und Autos und Bäume waren vom Feuer verschlungen worden. Flammen leckten am Rand eines riesigen Kraters, wo einmal der Straßenbelag gewesen war, genährt von den letzten dünnen Fahnen eingeschlossenen Gases, das von unten entwich.

 Keine Spur von den SUVs oder den Polizeibeamten, die daran gelehnt hatten, oder von Kent Beaudine, dem zufälligen Unheilsboten der Stadt. Marty vermutete sie am Boden des Kraters, verschüttet unter unzähligen Christbaumkugeln, die das Konterfei von Filmstars trugen.

 Die luxuriösen Häuser und großen Bäume gegenüber dem Park brannten lichterloh, und die hungrigen Flammen sprangen auf die umliegenden Häuser über. Es würde nicht lange dauern, bis die ganze Nachbarschaft brannte. Er würde sich beeilen müssen, wenn er auf dem Weg nach Hause nicht eingekesselt werden wollte.

 Obwohl er sich vor Schmerzen krümmte, hievte Marty sich in eine sitzende Position am Brunnensims, schwang seine Beine über den Rand und wollte gerade aufstehen, als er erstarrte. Beinahe wäre er auf eines der rauchenden Asphaltstücke getreten, die den Park bedeckten wie Teile eines Meteoriten.

 Doch das war es nicht, was ihn dazu veranlasst hatte, mitten in der Bewegung innezuhalten.

 Vor ihm auf dem Boden lag der Skipper mit vom Feuer entblößtem Körper, seine Haut war schwarz wie Kohle. Doch er lebte, Rauch stieg kräuselnd aus seinen Nasenlöchern auf, seine Lungen waren versengt.

 »Ich will nicht sterben«, kreischte der Skipper und schaute Marty mit flehendem Blick an, während Rauch aus seinem Mund floss.

 Marty kniete neben ihm nieder, konnte sich aber nicht überwinden, den Mann zu berühren. »Das wirst du nicht.«

 Doch wenige Augenblicke später tat der Kameramann genau das.

 Marty wusste nicht einmal seinen Namen. Das Einzige, was Marty über ihn wusste, war, dass er Tabak ausspuckte und für »The Torkelsons« gearbeitet hatte.

 Das machte als Grabinschrift nicht viel her.

 Langsam richtete er sich auf, unfähig, seine Augen von dem schrecklichen Anblick des toten Mannes abzuwenden. Irgendwo tief drinnen brannte der Skipper immer noch, dünne Rauchfahnen entwichen zwischen seinen verkohlten, toten Lippen.

 Marty sah sich nach Gilligan um und entdeckte ihn stückweise. Der Kameraassistent war von einer Asphaltscholle des Rodeo Drive enthauptet worden, sein kopfloser Körper war über dem schwelenden Akkupack zusammengesackt.

 Er schaute weg, abgestoßen und in Panik. Im Krieg, dachte Marty, musste wohl irgendwann der Zeitpunkt kommen, ab dem eine Person unempfindlich wurde gegenüber Massensterben und gewaltsamem Tod, wenn das, was sie durchmachen musste, sich von etwas Ungewöhnlichem und Schockierendem in etwas Gewöhnliches verwandelte, etwas, womit man rechnete.

 Dieser Zeitpunkt war für ihn noch nicht gekommen. Er wünschte, dieser Zeitpunkt würde sich beeilen und bei ihm ankommen, andernfalls wollte er wenigstens von neuen Spielarten des Themas verschont bleiben. Marty war sich nicht sicher, wie viel er noch ertragen konnte.

 Der schlechte Zustand seiner geistigen Gesundheit war fast körperlich spürbar, wie ein Gelenk, das schon zu weit überstreckt worden war. Er wusste, er war kurz davor durchzudrehen, doch anders als bei einem gerissenen Band oder einem gebrochenen Knochen hatte er keine Ahnung, welche Konsequenzen er zu erwarten hatte, falls dieser Fall eintreten sollte.

 Vielleicht wäre es gar nicht so schlimm.

 Vielleicht wäre es wie eine angenehme Taubheit, eine glückselige Abspaltung vom direkten Kontakt mit der Wirklichkeit.

 Vielleicht aber auch nicht.

 Es könnte bedeuten, jegliche Wahrnehmung eines Selbst, jeglichen Verstand zu verlieren. Er könnte als wimmernder Idiot enden, der stumpfsinnig durch die Trümmer stolperte.

 Und dann würde er es nie bis nach Hause schaffen.

 Hör auf, so ein Weichei zu sein. Leute sterben schreckliche, groteske und schmerzhafte Tode genau vor deinen Augen. Na und? Sei froh, dass es nicht dich erwischt hat, und mach weiter.

 Seit Neuestem klang die Stimme in seinem Kopf immer mehr nach Buck, und doch schien sie ihm seltsamerweise immer mehr einzuleuchten.

 Um damit klarzukommen, beschloss er, musste er den Tod klinisch betrachten, so wie ein Gerichtsmediziner es tut. Wenn ein Gerichtsmediziner eine Leiche begutachtet – ob sie nun von einem Zug erwischt wurde, von Haien zerfetzt, von einer Axt zerstückelt, in einem Autounfall entstellt oder eine Woche lang in der Sonne verwest und von Maden befallen war –, verursacht es ihm keine Übelkeit und es entsetzt ihn auch nicht. Warum? Weil es kein menschliches Wesen mehr ist. Es ist ein Objekt, ein Abfallprodukt, ein Ding. Ein fleischiger Sack voller Organe und Knochen, das einem Lebewesen bloß ähnelt.

 Marty müsste sich nur in den entsprechenden Gemütszustand versetzen.

 Aber ihm wurde klar, dass Gerichtsmediziner einen klaren Vorteil hatten, den er nicht hatte. Sie wurden selten Zeuge des Tötens, des Moments, in dem eine Person aufhört, eine Person zu sein und zu einer Leiche wird.

 Andererseits waren Millionen von Soldaten über Zehntausende von Jahren mit diesem Moment auf dem Schlachtfeld klargekommen. Und die meisten von ihnen verloren nicht den Verstand. Wie schwer konnte es wohl sein?

 Sei ein verdammter Mann.

 Ja, dachte Marty. Das ist genau das, was ich tun werde. Ein verdammter Mann sein.

 Er drehte sich um und blickte nach Norden auf das, was vom Rodeo Drive übrig geblieben war. Die ersten paar Blocks entlang brannten Häuser auf beiden Seiten der Straße, und verkohlte Leichen lagen auf den Gehwegen verstreut.

 Sei ein verdammter Mann.

 Marty nahm einen Zipfel seiner nassen Jacke, hielt ihn wie ein Cape vor sein Gesicht und schleppte sich quer über das geschwärzte Gras in die Rauchschwaden.

 


 KAPITEL DREIZEHN

 Über die Hügel und durch die Wälder

 14:42 Uhr. Mittwoch.

 Die Statuen hatten Schamhaare.

 Es handelte sich nicht um die von irgendeinem Künstler gemeißelte Interpretation von Schamhaar, sondern um tatsächliches Haar unbekannter Herkunft, das auf die mit Hammer und Meißel geschaffene Schamgegend von rund einem Dutzend steinerner Nackter geklebt worden war. Davon abgesehen wäre die Reihe kitschiger Statuen, die den oberen Rand der Mauer um das Schloss am Sunset Boulevard säumten, nicht der Erwähnung wert.

 Als Marty Slack, frisch eingetroffen aus Nordkalifornien, um sein erstes Studienjahr an der UCLA anzutreten, diese Statuen vor zwanzig Jahren vom Vordersitz seiner überhitzten Chevette aus das erste Mal sah, wusste er mit Gewissheit, dass er in Los Angeles angekommen war.

 Die Mauer stand immer noch, nur dass sie jetzt mit neuen Rissen durchzogen war und ein leer stehendes Grundstück voll hohem, trockenem Gras umgab. Die Statuen und das Schloss waren schon lange verschwunden, doch sie lebten zweifellos in den Fotoalben von Tausenden von Touristen weiter.

 Die Hausbesitzer am Sunset wollten, dass ihre Anwesen fotografiert wurden, und zwar nicht vom Architectural Digest, sondern von Busladungen von Touristen, und sie unternahmen enorme – und teure – Anstrengungen, damit diese Schnappschüsse gemacht wurden.

 Das leidenschaftliche Wetteifern um die wohlwollenden Blicke der Touristen ließ den Sunset Boulevard oft aussehen wie eine bewohnte Version des Las Vegas Strip, nur ohne die All-you-can-eat-Buffets.

 Um zu einer Attraktion des Bürgersteigs zu werden, reichte es nicht aus, eine verschwenderische Architektur und üppige Gartenanlagen vorweisen zu können oder glänzende Limousinen und italienische Sportwagen um einen Springbrunnen herum zu parken. Extravaganz, Überfluss und das unentgeltliche Zurschaustellen von Wohlstand waren bloß der Anfang.

 Einige der Hauseigentümer machten sich nur an den Feiertagen auf die unverhohlene Jagd nach dem schnappschussbedingten Ruhm, wenn sie ihren Rasen und die Dachrinnen mit Hunderten von blinkenden Lichtern, aufwendigem Blumenschmuck und raffinierten, plastisch wirkenden Dioramen schmückten, die Walt Disney vor Neid hätten erblassen lassen.

 Andere wiederum engagierten sich längerfristig und strebten danach, ein dauerhafter Zwischenstopp auf der Hollywood-Stars-Tour zu werden, erhielten jedoch gleichzeitig den falschen Schein aufrecht, ihr eigenes Privatleben wertzuschätzen, indem sie kleine »Nicht betreten«-Schilder in ihren Vorgarten steckten.

 Einer dieser Hausbesitzer verzierte die ringförmige Zufahrt vor den weißen Mauern, die sein Grundstück abschirmten, mit unglaublich lebensechten Bronzestatuen – allerdings waren sie bekleidet und hatten vermutlich keine Schamhaare, ob nun echte oder andere. Am Anfang hatte er lediglich einen uniformierten Wachmann am Tor postiert, dann erweiterte er sein Repertoire an Statuen zügig um einen Gärtner, einen Maler, einen Jogger, spielende Kinder und, für den Fall, dass jemandem die subtile Intention hinter seinen Bemühungen entgangen war, ein Touristenpärchen, das die ganze Pracht fotografierte.

 Marty saß vor diesem Haus auf dem robusten, holzgeschnitzten »Privateigentum«-Schild und ruhte sich aus. Er wusste nicht, ob das Haus hinter den Mauern noch stand, und es interessierte ihn auch nicht, die hohen Bäume hinter der Mauer schirmten es vor Blicken ab. Doch er war froh, dass die Statuen überlebt hatten, denn für seine Begriffe verkörperte nun nichts in der Stadt das wirkliche L. A. treffender als eben diese.

 Ausgenommen vielleicht die Statuen mit Schamhaar, doch leider waren die schon längst verschüttgegangen. Er dachte sich, jemand hätte Lobbyarbeit betreiben sollen, um sie als historisches Wahrzeichen schützen zu lassen. Sie bedeuteten ihm etwas, wenn schon niemand anderem, auch wenn er sie bis jetzt nicht wirklich vermisst hatte.

 Obwohl er während der letzten zwanzig Jahre schon unzählige Male über den Sunset gefahren war, fühlte es sich dieses Mal irgendwie an, als würde er den Weg zurückverfolgen, den er genommen hatte, als er von San Francisco hierhergekommen war, als er noch voller Träume und Pläne gewesen war, die sich bis heute nicht erfüllt hatten.

 Seine Melancholie wurde durch seinen körperlichen Zustand nur noch verstärkt. Noch nie zuvor hatte er mit so vielen verschiedenartigen Beschwerden auf einen Schlag zu kämpfen gehabt.

 Sein Rücken glühte, seine Schnittwunden brannten, seine Schulter pochte und seine Haut juckte unter den verkohlten, klammen und vor Schmutz strotzenden Klamotten. Jeder Muskel in seinem Körper war wund, und seine Füße fühlten sich an, als wären sie auf das Doppelte ihrer normalen Größe angeschwollen. Ihm war heiß, er hatte Hunger und er schwitzte am ganzen Körper.

 Und dann waren da all diese toten Gesichter, die einfach nicht in seinem Kopf begraben bleiben wollten und immer wieder kurz in seinem Bewusstsein aufblitzten wie Werbespots.

 Die Erinnerungen, die Erschöpfung und der Schmerz wurden zu einem fast greifbaren Gewicht, das er am ganzen Körper spüren konnte. Das musste der Grund sein, warum so viele alte Leute gebückt gingen, dachte Marty. Siebzig Jahre lang diese Scheiße zu ertragen, musste ein ganz schön schweres Päckchen sein.

 Also hatte er angehalten, um eine Pause zu machen, um seinen Kopf klar zu kriegen, um seine Kräfte für die nächste Etappe seiner Reise über den Sepulveda-Pass in Stellung zu bringen. Er wusste, dass die Hügel in Flammen standen, selbst von hier aus konnte er den Rauch sehen. Aber er würde den Pass in jedem Fall nehmen, denn die Alternative – zwanzig oder dreißig zusätzliche Meilen weiter nach Westen zu marschieren und sich dann langsam von der Küste aus ins Tal voranzutasten – war undenkbar. Bei seiner momentanen Verfassung würde das Tage dauern, und niemand konnte voraussagen, welche Gefahren dort auf ihn warteten – Schlammlawinen, Waldbrände, verwirrte Berglöwen, Heuschreckenschwärme.

 Die Heuschrecken schienen ihm etwas weit hergeholt, doch andererseits hätte Marty sich auch niemals vorstellen können, mitten in Hollywood in eine riesige Flutwelle zu geraten.

 Er rechnete sich jedenfalls aus, dass der Sepulveda-Pass kein allzu großes Risiko darstellen sollte. Er hatte vor, mitten auf dem San Diego Freeway geradewegs hinaufzugehen. Seine zehn asphaltierten Fahrspuren plus die beiden Fahrbahnen des Sepulveda Boulevards würden einen hübschen, breiten Feuerschutz abgeben.

 Marty atmete tief durch, stand auf und nahm seinen Marsch wieder auf. Um sich von den Schmerzen abzulenken und um sich die Zeit zu vertreiben, sang er Titelmelodien aus dem Fernsehen vor sich hin, angefangen bei Sendungen aus den Fünfzigern und von da an immer weiter.

 Er fing an mit Have Gun – Will Travel und war eine halbe Stunde später schon bei Green Acres angekommen, als er sich in der Nähe der verschnörkelten Tore von Bel Air einem Typen näherte, der neben einer Reklametafel mit der Aufschrift »Reiseführer zu den Häusern der Stars (Nur fünf Dollar!)« auf einem Gartenstuhl saß. Die »fünf« war weggekratzt und durch eine hastig hingekritzelte »zwei« ersetzt worden. Der Mann blätterte durch seine Karten, breitete sie auf seinem Schoß aus und strich mit einem dicken Filzstift Häuser durch.

 »Na, laufen die Geschäfte gut?«, fragte Marty.

 »Geht so«, sagte der Mann, in seine Arbeit vertieft. »Hauptsächlich Nachrichtenteams.«

 Machte Sinn. Es war den Amerikanern herzlich egal, ob Los Angeles dem Erdboden gleichgemacht wurde, dachte Marty, aber Gott bewahre Jay Lenos Garage, Brad Pitts Dachterrasse und Meg Ryans Tennisplätze.

 »Woher wissen Sie, welche Häuser zerstört sind?«, fragte Marty.

 »Ich hab so meine Quellen«, sagte er geheimnisvoll und machte sich daran, eine andere Karte zu markieren.

 Marty zog wieder los und nahm den Faden dort auf, wo er aufgehört hatte: in den Sechzigern bei Branded. Er war mit Good Times gerade mitten in den Siebzigern, als er die nördlichen Ausläufer der UCLA passierte. Die Joggingstrecke war wie die meisten offenen Flächen, die er seit dem Beben gesehen hatte, vollgestopft mit Menschen in behelfsmäßigen Schutzhütten und Zelten. Hinter ihnen, in westlicher Richtung, lagen die Trümmer der Schlafsäle quer über die Tribüne verteilt wie eingestürzte Stapel von Legosteinen.

 Sein erstes Zuhause in L. A. war futsch. Kann von der Das-Leben-des-Marty-Slack-Tour gestrichen werden.

 Obwohl es möglicherweise Essen und Wasser auf dem Campus gab, beschloss er, hier nicht anzuhalten, aus Angst, nicht wieder wegzukommen. Er ging weiter und erreichte den San Diego Freeway zur gleichen Zeit wie die Achtziger mit Gimme a Break!.

 Der Freeway zog sich durch die Hügel hinauf einer Rauchwolke entgegen, die ein paar Meilen weiter nördlich die Sonne verdunkelte. Die zehnspurige Straße war mit Rissen, Wellen und Kratern durchzogen und mit übel zugerichteten und umgekippten Autowracks verstopft. Der einzige Verkehr wurde von einer kleinen Handvoll lebender Toter bestritten, die entweder auf dem Weg ins oder aus dem Tal heraus waren. Erstaunlicherweise blieben die Leute, die nach Süden unterwegs waren, auf den südwärts führenden Spuren auf der linken Seite, während diejenigen, die nach Norden gingen, sich an die rechte Seite hielten, als ob diese Regeln jetzt noch eine Rolle spielten.

 Marty nahm an, dass sie sich aus demselben Grund instinktiv an diese Gewohnheit hielten, wie er TV-Titelmelodien sang. Es erdete sie, erlaubte ihnen, wie Zombies einem vorherbestimmten Kurs zu folgen und zu vergessen, was sie gesehen hatten. Also machte er sich auf den Weg nach Norden in den Pass und blieb brav auf der rechten Seite, wobei er mit aller Leidenschaft, die er aufbringen konnte, The Greatest American Hero schmetterte.

 15:25 Uhr. Mittwoch.

 Nach der Ausfahrt zum Getty Center schienen die Hügel zu beiden Seiten des Freeway nur noch von den Flammen bewohnt zu sein, die über weite Flächen voller dichtem, trockenem Gestrüpp wirbelten, wobei sie dunkle Rauchschwaden in den Himmel schickten und den Tag zur Nacht machten.

 Irgendwo hatte er gelesen, dass ein Hektar Dickicht ungefähr 5000 Gallonen Benzin entsprach. Es tröstete ihn nicht sonderlich.

 Das Feuer hatte einen ganz eigenen Klang, tief und schwer, wie ein Wasserfall, nur ohne das Wasser. Orange leuchtende Funken stoben um ihn herum wie rot glühende Schneeflocken. Wasserfälle ohne Wasser. Brennende Schneeflocken. Es war surreal, über den Pass zu gehen.

 Martys Reise wurde nun immer schwieriger, nicht so sehr wegen des Wanderns, sondern weil er Probleme hatte, neue Titelmelodien zu finden, die er singen konnte. Er stellte fest, dass die Achtziger und Neunziger ziemlich magere Jahre waren, was das Schreiben von Fernsehmelodien anging. Und darüber hinaus wurde es immer schwieriger, sich auf Zerstreuung zu konzentrieren, während sich um ihn herum der orange-schwarze Vorhang von beiden Seiten immer enger zuzog.

 Er ging unten entlang, immer schön in der Mitte der Straße, und schlängelte sich durch die verlassenen Autos, wobei er versuchte, die ebenfalls zurückgelassenen Leichen und Leichenteile nicht zu sehen. Stattdessen mühte er sich damit ab, sich an den Text von Hell Town zu erinnern. Sammy Davis Jr. hatte es gesungen, doch Marty verwechselte es ständig mit der Melodie von Baretta, was leicht passierte, denn an beiden Serien waren Sammy und Robert Blake beteiligt.

 Kleine Feuerbälle rollten wie Tränen den Hügel hinunter und über den Freeway. Er wusste nicht, was er von ihnen halten sollte, bis ihm einer direkt vor die Füße rollte.

 Nur dass er nicht rollte, er rannte.

 Es war ein wilder Hase, ein brennendes Fellknäuel, das vor dem Inferno floh. Der ganze Freeway wurde von der brennenden Tierwelt überrannt. Und dort, wo diese brennenden Ratten, Eichhörnchen und Hasen am Hang verendeten, entstanden neue Feuer. Unabsichtlich vergrößerten die lodernden Kreaturen noch im Moment ihres Todes das Ausmaß und die Grausamkeit ihres Verfolgers.

 Wenigstens gab es auf dem Freeway kein trockenes Gestrüpp, das unter ihren glutroten Kadavern Funken schlug.

 Nur Benzinpfützen.

 Kaum war ihm dieser Gedanke in den Sinn gekommen, als einer der brennenden Nager mit einem lauten Zischen eine Pfütze Benzin entzündete, nur ein paar Meter entfernt.

 Sie brannte schnell aus, aber es reichte aus, um ihn zu erschrecken. Schlagartig wurden diese entflammten Tiere in Martys Vorstellung zu rollenden Handgranaten.

 Er eilte weiter und ließ seinen Blick in alle Richtungen schweifen, er versuchte, auf jedes brennende Tier, jeden Tropfen Benzin, jedes Schrottauto ein Auge zu haben, in der Hoffnung, die nächste Feuersbrunst absehen zu können.

 Das war so verdammt unfair, dachte er. Nach allem, was in jener Gasse in der Innenstadt mit Molly passiert war und was er in Beverly Hills hatte durchmachen müssen, sollte es ihm erlassen werden, sich mit weiteren Explosionen auseinandersetzen zu müssen. Da das Schicksal diesen Erlass noch nicht ausgestellt hatte, musste dies wohl irgendeine andere kosmische Abrechnung sein, etwa eine Art ausgleichender Gerechtigkeit dafür, dass er für die Actionfilme seines Senders mehr Explosionen gefordert hatte, trotz der kreativen und finanziellen Appelle der Produzenten.

 Blast irgendetwas in die Luft, hatte er immer gesagt. Irgendetwas Großes. Man kann nie genug Explosionen haben.

 Nun musste er aus erster Hand erfahren, wie falsch er gelegen hatte.

 Zu seiner Rechten explodierte ein Jetta und wirbelte auf ihn zu wie ein gigantischer Blechfußball.

 Marty rannte wie der Wide Receiver in einem Footballspiel, mit dem Unterschied, dass er schrie und dies ein Pass war, den er um keinen Preis kriegen wollte.

 Das Auto knallte nicht weit von der Stelle entfernt, wo er gestanden hatte, auf den Freeway und flog über die Dächer mehrerer Autos, bevor es auf den dünn gewordenen Asphalt der mittleren Spur krachte.

 Er starrte in ungläubigem Staunen auf das Wrack und rang nach Atem.

 Eine Ratte hat das ausgelöst, dachte er. Eine heiße Ratte.

 Eingeschüchtert wie er war, beeilte sich Marty weiterzukommen, während er so laut er nur konnte The Eyes of a Ranger zum Besten gab und auf den Hängen die Flammen mit ihm tanzten wie geisteskranke, orangerote Geister.

 Weiter vorne stand ein Reh zitternd zwischen zwei Autos und starrte Marty an. Das Tier war völlig versengt und verkohlt, seine blanke Haut qualmte. Marty ging nahe genug daran vorbei, um das Reh zu berühren, tat es aber nicht, sang I’ll Be There for You und wandte sich ab.

 Er marschierte weiter, durch Mad About You, Die Nanny und Baywatch. Als er bei »Ein Hauch von Himmel« angekommen war, schwanden die Geräusche der Explosionen hinter ihm und das Sonnenlicht brach langsam durch den Rauch vor ihm, sodass die Ruinen des Jüdischen Skirball-Kulturzentrums und die beiden Überführungen, die den Freeway an seiner höchsten Stelle kreuzten, sichtbar wurden.

 Die kleinere, näher gelegene Überführung vereinte sich mit dem Sepulveda zu einer kleinen Straße, die hoch zum Mulholland Drive auf der anderen Seite führte. Der Bogen schien intakt, doch Marty rannte trotzdem von Panikschauern begleitet darunter hindurch.

 Die größere Überführung weiter vorne war massiv und erhob sich mehrere hundert Fuß in die Höhe, um den Mulholland Drive über den San Diego Freeway zu verlängern.

 Der Bogen war an beiden Enden eingestürzt, sodass das Mittelteil, das stehen geblieben war, eine turmhohe Betoninsel bildete. Marty konnte etwa ein Dutzend Pendler erkennen, die da oben mit ihren Autos gestrandet waren, Schiffbrüchige inmitten eines städtischen Ozeans. Von ihrem einsamen Aussichtspunkt aus leckte die Zerstörung im Talkessel von L. A. und im San Fernando Valley wie Wellen an ihren Betonpfeilern.

 Die Helikopter, die ins Tal flogen, müssen sie da oben gesehen haben, was nur bedeuten konnte, dass die Schiffbrüchigen im Vergleich zu den Kalamitäten an anderer Stelle nur geringe Priorität genossen. Das muss ein schwacher Trost für sie gewesen sein, besonders als jedes neuerliche Nachbeben sie erschütterte wie Glasgeschirr auf einem wackeligen Tisch.

 Die Schiffbrüchigen blickten traurig zu ihm herunter, als er vorbeiging.

 »Hilf uns«, wimmerte eine Frau, und ihre Stimme wurde von der Fahrbahn als Echo zurückgeworfen.

 Er blickte zu ihr hinauf. Er konnte nichts tun, und das auszusprechen würde nichts ändern. Und so senkte er einfach den Blick und ging weiter.

 Wieder einmal blieb Marty nichts anderes übrig, als unter dem instabilen Bogen hindurchzugehen, vorbei an Bergen von Autos, Beton und Stahlverstrebungen, die durch das Erdbeben herabgestürzt waren. Der unversehrte Arm eines Mannes ragte senkrecht aus dem Trümmerhaufen hervor, er war mit einer dünnen Staubschicht bedeckt und die Hand hielt immer noch ein Handy umklammert. Einen Moment lang spielte Marty mit dem Gedanken, es sich zu nehmen und noch einmal zu versuchen, seine Frau anzurufen, aber er konnte sich nicht dazu überwinden.

 Buck hätte es getan, wenn er jemanden zum Anrufen gehabt hätte. Marty fragte sich, wer von ihnen beiden eigentlich der bessere Mann war.

 Marty trat unter der Überführung hervor, und vor ihm breitete sich das Tal aus. Er hatte klare Sicht bis zu den San Gabriel Mountains auf der anderen Seite. Und aus den unterteilten Betonflächen dazwischen, durch den Rauchschleier hindurch, starrte ihm das Gesicht des Großen Bebens entgegen.

 Es war ein wütendes, vorsätzlich bösartiges Gesicht, das Gesicht eines rachsüchtigen Riesen, der aus tiefem Schlaf erwacht und mit einem gigantischen Basketball durch das ganze Tal gedribbelt war, und mit jedem Aufprall hatte er mit diebischem Vergnügen ganze Häuserblocks zerschmettert.

 Jetzt hatte der Riese seine Spielsachen eingesammelt und war wieder zurück in sein Erdloch gekrochen, um dort für die nächsten hundert Jahre zu überwintern, bevor er erneut verheerende Schäden anrichten würde. Bis dahin würde das Chaos für ihn aufgeräumt und alles wieder aufgebaut werden, damit er es aufs Neue zerstören konnte.

 Marty konnte Calabasas von hier aus nicht sehen, es lag zehn Meilen weiter östlich, aber er nahm an, dass es nicht viel besser abgeschnitten hatte.

 Er brach auf, den Hügel hinunter, nach Hause.

 16:07 Uhr. Mittwoch.

 Los Angeles sollte eigentlich gar nicht existieren. Es hatte keinen natürlichen Hafen, keine zuverlässige Wasserversorgung und schlechte Luft. Alles, was es zu bieten hatte, war ganzjähriger Sonnenschein.

 Das war mehr als genug, wenn man den richtigen Dreh raushatte.

 Nichts symbolisierte das mehr als das San Fernando Valley, das einst eine ausgedörrte Staubwüste gewesen war, die in der unablässigen Hitze schmorte.

 Doch der Herausgeber der Los Angeles Times, Harrison Gray Otis, und ein paar andere wohlhabende Geschäftsleute erkannten das Potenzial unter der rissigen, trockenen Erde. Es war mieses Ackerland, aber diese Geschäftsleute waren darauf aus, eine viel widerstandsfähigere Frucht zu ernten: Geld. Doch um das zu erreichen, brauchten sie immer noch Wasser.

 Otis und seine Kumpane kauften die ganzen kleinen Bauernhöfe auf, und erst dann nutzten sie ihren beträchtlichen Einfluss, um Wasser in riesigen Aquädukten aus dem Sacramento Delta über Hunderte von Meilen nach Norden in das aride Tal umzuleiten.

 Mit der Ankunft des Wassers war das Land mit einem Schlag das Hundertfache von dem wert, was die Geschäftsleute dafür bezahlt hatten. Und das, was nicht ihnen gehörte, bekamen sie durch Angliederung an die Stadt unter ihre Kontrolle. Otis nutzte die Seiten seiner Zeitung dazu, das Tal als Paradies zu verkaufen, und bald kamen die Leute in Horden.

 Natürlich wüsste Marty all das nicht, wenn er nicht »Chinatown« gesehen hätte. Und wenn er den Film nicht gesehen und so von dem Skandal und den schmutzigen Geschäften hinter der Entstehung des Tals erfahren hätte, hätte er dort nicht leben können. Ohne den kleinsten Hauch eines Skandals in der Vergangenheit des Tals wäre es einfach zu fade und nichtssagend gewesen, um als Wohnort zu dienen.

 Die einzige natürliche Wasserquelle für das Tal war der Los Angeles River, der das halbe Jahr über knochentrocken blieb, um dann ausschließlich im Winter an einem einzigen Regentag auf das Dreitausendfache anzuschwellen.

 Sosehr Los Angeles nach Wasser lechzte, sosehr missfiel der Stadt die Unberechenbarkeit des Flusses, und sie behandelten ihn so, wie sie auch jedes andere Stück Land behandelten. Sie betonierten ihn zu.

 Jetzt war der Los Angeles River eine mit Beton verkleidete Flutrinne, die sich durchs Tal wand, mit Ausnahme eines kleinen Stücks, das als Park ausgewiesen war, dort wo der stromlinienförmige, moderne Sepulveda-Flutkontrolldamm das Wasser zurückhielt, wenn es nötig war, und der ansonsten als billiges Filmmotiv diente.

 Selbst wenn der Fluss über die Ufer trat, gab es keinen Mangel an aufregenden Filmszenen, die gedreht werden wollten. Unweigerlich fiel jemand trotz all der Zäune und der steil betonierten Uferböschungen hinein und löste eine dramatische Rettungsaktion aus, die in den meisten Fällen scheiterte. Nichtsdestoweniger gab das großartige Fernsehbilder ab.

 Das Flutbecken unterhalb des Überlaufs, das so selten mit Wasser gefüllt war, quoll nun über vor Menschen. Es bestand aus tausend Hektar offener Fläche, und das war im Moment der einzige Ort, an dem jeder sich sicher fühlte.

 Als Marty vom Sepulveda-Pass herunterkam, konnte er den Damm sehen und die Flut von Menschen, genau hinter der Stelle, an der sich der San Diego Freeway mit dem Ventura Freeway vereinte. Er wollte das Gewirr aus instabilen Überführungen umgehen, das an dieser Stelle zusammenlief, und so verließ er dort, wo sich der Freeway am Fuße des Nordhangs der Santa Monica Mountains herabsenkte, kletternd die Schnellstraße.

 Er stapfte an der Auffahrt die Böschung hinunter und folgte dann der Straße darunter bis zu den stattlichen Häusern im Ranch-Stil entlang der Woodvale Road und der Haskell Avenue, mit ihren eingestürzten Schornsteinen, dem bröckelnden Stuck und den zerbrochenen Holzverkleidungen.

 Hier saß das meiste Geld des ganzen Tals, in den zarten Vorgebirgsausläufern über dem Ventura Boulevard und den Hang hoch bis zum Mulholland Drive. Während der Hancock Park und Beverly Hills hauptsächlich von altem Geldadel geprägt waren, zumindest so alt, wie Geldadel in Los Angeles sein konnte, bauten die frischgebackenen Fernseh-, Film-, Sport- und Softwaremillionäre ihre – zumindest nach den Maßstäben des alten Geldadels – bescheidenen Anwesen hier im Tal.

 Der alte Geldadel meinte, wenn die Reichen aus dem Tal echtes Geld besitzen würden und tatsächlich etwas zu sagen hätten, würden sie in eines der Bs ziehen – Brentwood, Beverly Hills oder Bel Air. Bis dahin hatten sie das Tal verdient.

 Marty erreichte den Ventura Boulevard, und da er die Durchgangsstraße nach dem Northridge-Beben 1994 gesehen hatte, kam es ihm so vor, als würde er sich gerade eine Wiederholung anschauen. Die Gebäude auf beiden Seiten der »Hauptstraße« des Tals hatten ihr Gesicht verloren und entblößten ihre Gipssehnen und Eisenskelette. Die Bürgersteige warfen Falten, der Belag war voller Risse. Überall lagen zerbrochenes Glas und große Mörtelbrocken und flatterten lose Seiten Papier herum.

 Der Ventura Boulevard, der den gesamten südlichen Rand des Tals säumte, war eine einzige, lange und charmefreie Aneinanderreihung von Fast-Food-Filialen, Tankstellen, Lebensmittelläden, Autowaschanlagen und unzähligen, langweiligen Einkaufszentren mit ihrem austauschbaren Mix aus Friseursalons und Donut-Läden, chemischen Reinigungen und Schlüsseldiensten, Spirituosengeschäften, Copyshops und Videotheken. Kulturell und architektonisch würde niemand vermissen, was hier einmal mehr zerstört worden war.

 Die Verwüstung kam Marty hier irgendwie anders vor als das, was er auf der anderen Seite des Hügels zu sehen bekommen hatte. Es war, als sähe er alles detailgetreuer, in intensiverem Licht. Er dachte, dass vielleicht die Flachheit des Tals und der Mangel an hohen Gebäuden etwas damit zu tun hatten, da sie dem Licht erlaubten, sich in Ecken und Winkel auszubreiten, was es im Stadtzentrum oder in Hollywood nicht konnte.

 Oder vielleicht lag es auch daran, dass er dies hier, anders als den Talkessel von Los Angeles, als sein Zuhause betrachtete. Vielleicht sah er mehr, weil er die Landschaft besser kannte. Während er langsam nach Westen wanderte, fielen ihm so viele Einzelheiten auf, die ihm vorher entgangen waren: der saure Geruch von verrottendem Essen. Die kaputten Parkuhren, die auf der Straße lagen und ein Bouquet aus glänzenden Münzen hinterließen. Die Busbänke aus Beton, die von der Macht des Erdbebens in die Mitte der Straße geschleudert worden und entzweigebrochen waren. Die Staubschicht, die alles überzog wie Puderzucker. Der stetige Strom aus Alkohol, Milch, Saft und Softdrinks, der aus zerschmetterten Minimärkten herausfloss. Die Fliegen, die die Toten umschwirrten. Die umgekippten Briefkästen und Hunderte von Briefen, die wie Blätter im Wind umherschwebten. Und vor allem: die Stille.

 Alles, was in den Stunden unmittelbar nach dem Beben noch geheult hatte, Autoalarmanlagen und verletzte Menschen, hatte mittlerweile längst das Zeitliche gesegnet. Das Einzige, was er jetzt hörte, war das Summen der Fliegen, das rhythmische Flap-flap eines Helikopters in der Ferne sowie das leichte Flattern der Werbeplakate des Circus Valdez, die von schief stehenden Straßenlampen entlang des Boulevards herunterhingen.

 Nicht weit westlich der Kreuzung zwischen Reseda und Ventura veranlasste ihn etwas, unvermittelt stehen zu bleiben, doch er wusste nicht, was es war.

 Er schaute sich um. Eine Frau tackerte einen handgeschriebenen »Hund vermisst – Belohnung«-Flyer an eine umgeknickte Palme.

 Nein, das war es nicht.

 Ungefähr fünfzig Leute, manche von ihnen wegen ihrer Verletzungen kaum in der Lage, aufrecht zu stehen, bildeten eine Schlange vor einem Tobacco-For-Less-Laden, wo Zigaretten aus Pappkartons verkauft wurden.

 Die pathetische Szene rechtfertigte zwar einen Blick, nicht aber abrupten Stillstand.

 Was zur Hölle war das nur, was ihn gepackt hatte, instinktiv oder unterbewusst, und ihn zwang anzuhalten?

 Marty suchte die Straße ab. Ein Typ saß an der Bordsteinkante vor einem Reisebüro und blätterte in einer Broschüre über Hawaii. Jemand hatte ein Stück Sperrholz an seinen Falafel-Imbiss genagelt und mit Sprühfarbe darauf geschrieben: »Willkommen in Tarzana (Leicht renovierungsbedürftig)«. Ein paar Kids schleppten einen Fernseher mit großem Bildschirm aus einem verfallenen Geschäft.

 Seine Augen wanderten zurück zu dem Sperrholzschild.

 Ja, das war irgendwie clever, aber es war cleverer gewesen, als er denselben Witz nach dem Beben von 1994 gesehen hatte. Das konnte es nicht sein, was seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Was war hier noch?

 Die Leute hatten ein paar Sofas aus einem Möbelgeschäft hinausgeschoben und schliefen darauf, mitten auf der Straße. Ein Makler in helloranger Jacke fegte die Glasscherben vor seinem Büro zusammen, als erwartete er tatsächlich Kunden. Eine Frau durchwühlte den Müllhaufen vor einer chemischen Reinigung, sie sortierte die Kleidungsstücke sorgfältig und war ohne Zweifel auf der Suche nach ihren eigenen Sachen. Ein Mann ließ seine Frau und die Kinder auf der Straße für ein Foto posieren, eine Erinnerung an das Erdbeben, falls sie es vergessen sollten.

 Sein Blick kehrte zu dem Sperrholzschild zurück. Noch einmal.

 Was war nur los mit dem Schild? »Willkommen in Tarzana (Leicht renovierungsbedürftig)«.

 Ja, er war in Tarzana, dem ehemaligen Landsitz des Autors Edgar Rice Burroughs, und es war seither aufgeteilt und erneut geteilt worden. Eine Stadt, die nach einem fiktiven, an Bäumen schaukelnden und von Affen großgezogenen Helden benannt war. Kitschig, aber was soll’s? Es war nichts weiter als ein Ort, den er auf seinem Weg nach Hause passierte, eine Ausfahrt vom Freeway, er kannte hier niemanden.

 Doch, das tust du.

 Und da erinnerte er sich und wusste, warum er angehalten hatte.

 Marty griff in seine Tasche und zog das Foto heraus, das Molly versucht hatte, ihm zuzustecken. Das Foto ihrer fünfjährigen Tochter, Clara. Und er erinnerte sich daran, was sie gesagt hatte, als sie in ihrem Auto verblutete.

 »Sie ist in der Löwenzahn-Vorschule in Tarzana. Werden Sie vom Krankenhaus aus die Schule anrufen und ihnen Bescheid sagen, was passiert ist?«

 Und sie zeigte ihm das Foto. Das Foto, das sie versucht hatte ihm zu geben, als das Beben wieder losging. Das Foto, das er nicht annehmen wollte, weil er davonlief und Molly zum Sterben zurückließ. Sie rief ihm hinterher.

 »Engel!«

 Er war fast zu Hause. Die Löwenzahn-Vorschule lag nicht auf seinem Weg. Clara lag nicht in seinem Verantwortungsbereich.

 Marty blickte den Ventura Boulevard entlang. Er war jetzt so nah bei Beth. Noch fünf, vielleicht sechs Meilen, dann würde seine Tortur ein Ende haben und sie wären wieder zusammen. Und das war schließlich der Sinn der ganzen Reise, oder? Zu seiner Frau zurückzugelangen, für sie und ihre Ehe zu kämpfen, wieder einmal.

 Nein, es ging darum, nach Hause zu kommen. Es ging nicht um ihre Ehe, nicht darum, um irgendetwas zu kämpfen, jedenfalls noch nicht, als er startete.

 Doch er wusste, dass es jetzt darum ging. Irgendwo auf dem Weg hatte sich das Ziel seiner Reise verändert.

 Jetzt, wo er darüber nachdachte, konnte Marty den Zeitpunkt fast auf die Minute genau festmachen. Es passierte, als er Buck traf. Quasi von Anfang an hatte Buck infrage gestellt, wer er war, wie aufrichtig er sich selbst und seiner Frau gegenüber war, und hatte ihn praktisch dazu gezwungen zuzugeben, dass er ein mieser Ehemann war, dessen Ehe gerade den Bach runterging.

 Und jetzt wusste Marty auch, warum. Er vermutete, dass er es immer gewusst hatte, er hatte es sich nur nie eingestanden. Ihre Ehe lag im Sterben, weil er seinen Traum vom Schreiben begraben hatte, und sie ihren, Mutter zu werden. Er wusste, dass der Grund, warum er aufgehört hatte zu versuchen, ein Kind zu zeugen, der gleiche war, aus dem er auch aufgehört hatte zu schreiben. Es gab zu viele Hindernisse. Er kam mit dem Scheitern nicht klar.

 Aber in den letzten zwei Tagen hatte er Hindernisse überwunden, denen er sich vorher nicht einmal gestellt hätte. Jetzt wirkten das weiße Blatt Papier und der leere Samenbecher längst nicht mehr so furchterregend.

 Er war nicht mehr derselbe Martin Slack wie vorher, das wusste er jetzt. Und wenn er das seiner Frau beweisen wollte, musste er es sich zuerst einmal selbst beweisen.

 17:11 Uhr. Mittwoch.

 Die Seite, die Marty aus einem Telefonbuch ausgerissen hatte, besagte, dass die Löwenzahn-Vorschule in der Kittridge Street lag, was bedeutete, dass sie genau genommen gar nicht in Tarzana war; nicht, dass das jetzt eine Rolle gespielt hätte.

 Er hatte keine Karte mehr, ging aber auf der Wilbur Avenue Richtung Norden, weil er sich vage erinnerte, ein Kittridge-Street-Schild gesehen zu haben, als er auf dem Weg zu Costco gewesen war, dem Großhandelsmarkt, wo Beth gerne en gros einkaufte, nicht weil sie so viel von allem benötigten, sondern weil sie nicht widerstehen konnte. Es war so, als würde man sie bitten, sich einen Kartoffelchip aus der Schüssel zu nehmen, wenn sie doch auch genauso gut eine ganze Handvoll nehmen könnte. Sie benutzten immer noch das Kräutersalz in dem Fünf-Pfund-Behälter, den sie vor zwei Jahren dort gekauft hatten, und wahrscheinlich würde sich das die nächsten Jahre auch nicht ändern.

 Sie nahmen auf dem Weg zu Costco nicht die Wilbur Avenue, sondern die Tampa Avenue ein paar Blocks weiter westlich, aber dies war die erste Nord-Süd-Achse, an der er vorbeikam, und er wusste, wenn die Kittridge Street die Tampa Avenue kreuzte und wenn man davon ausging, dass die Schule in Tarzana lag, musste sie auch die Wilbur Street kreuzen.

 Marty hatte keine Ahnung, was er sagen oder tun würde, wenn er an der Schule ankommen würde, aber er wusste, er musste da hin. Mollys letzter Wunsch, auch wenn er vielmehr impliziert denn ausgesprochen wurde, war, dass er ihr Mädchen rettete. Wenn Clara überhaupt am Leben war. Und was, wenn sie nicht mehr in der Schule war? Was würde er dann tun? Wie lange und in welchem Radius würde er suchen, bevor er nach Hause gehen würde?

 Er hatte keine Gelegenheit mehr, diese Fragen zu beantworten, denn er wurde schlagartig von zwei Dingen abgelenkt. Zunächst war da der Los Angeles River, den er sowohl zu seiner Linken als auch zu seiner Rechten sehen konnte, was bedeutete, dass er sich über dem Fluss befand und die Straße, auf der er stand, in Wirklichkeit eine Brücke war. Er war so in seine Gedanken vertieft gewesen, dass er nicht einmal bemerkt hatte, dass er auf einer Brücke ging. Doch er dachte über die Alternative nach. Die Ufer des Flusses bestanden aus nahezu senkrechten Betonplatten. Wenn er nicht eine der Straßen nahm, die ihn überquerten, hätte er den ganzen Weg zum Balboa Park in der Nähe des Sepulveda-Damms zurückgehen, durch das trockene Flussbett klettern und dann wieder in diese Richtung zurückgehen müssen. Er hätte wahrscheinlich sowieso diese Route hier gewählt.

 Das war es, was ihm durch den Kopf ging und was er sich selbst in dem Sekundenbruchteil zwischen der ersten Erkenntnis und der zweiten weismachen wollte, die die erste umso erschreckender machte:

 das Nachbeben.

 Die Überführung brach in der Mitte auseinander, und die beiden Enden wurden zu riesigen Zementrutschen. Marty rollte, gemeinsam mit einem Dutzend anderer Leute, zwei Autos und einem Motorrad, hinunter, dem Flussbett aus Beton entgegen.

 


 KAPITEL VIERZEHN

 So grün war mein Tal

 Das Tal?« Marty konnte einfach nicht nachvollziehen, was in Beth vorging. Sie hätte genauso gut vorschlagen können, nach Fresno zu ziehen. »Warum solltest du da hinziehen wollen?«

 »Weil man da für das gleiche Geld ein doppelt so großes Haus kriegt«, antwortete Beth.

 »Genau, weil niemand dort leben will.«

 »Michael Jackson wohnt in Encino.«

 »Womit alles gesagt wäre.«

 Sie hatten ein Haus in Westwood gemietet, zwei Häuserblocks südlich des Wilshire Boulevards, für 2200 Dollar im Monat. Das Viertel war nicht mehr so prestigeträchtig wie früher, aber wenn Marty mit dem Hund Gassi ging, traf er immer noch Nebendarsteller, aufstrebende Regisseure und drittklassige Drehbuchautoren, und das war angenehm.

 »Marty, für den Kaufpreis einer alten Bruchbude mit zwei Schlafzimmern in Santa Monica kriegen wir im Tal eine neue Villa im mediterranen Stil mit vier Schlafzimmern, einem Pool und einem riesigen Garten in einer bewachten Wohnanlage«, sagte sie. »Und das Beste daran: Wir müssten unsere Kinder nicht auf eine Privatschule schicken.«

 »Wir haben keine Kinder.«

 »Werden wir aber«, sagte sie. »Und das sollten die Kriterien sein, nach denen wir aussuchen, wo wir wohnen wollen, und nicht die Frage, ob es ein angesagtes Viertel ist.«

 »Das Tal hat keinen Charakter. Es besteht nur aus Einkaufszentren, Schnellstraßen und Reihenhäusern. Es wird sich anfühlen, als wohnten wir auf einer dieser Raststätten an der Autobahn«, argumentierte Marty. »Was gefällt dir nicht an den Hollywood Hills oder einem der Canyons, in der Nähe von Coldwater zum Beispiel? Oder wie wäre es mit Palisades, Hancock Park oder Brentwood?«

 »Vergiss die Hügel und die Canyons. Ich will nicht am Rande einer Klippe leben, wenn das nächste Erdbeben kommt. Übrigens haben die Häuser dort überhaupt keine Gärten und die Straßen sind eng und steil. Hancock Park, Palisades und Brentwood sind zu teuer und haben ein schlechtes Preis-Leistungs-Verhältnis, und wir müssten unsere Kinder immer noch für 12 000 Dollar pro Jahr und Kind auf eine Privatschule schicken«, sagte Beth. »Und außerdem will ich, dass unsere Kinder im Vorgarten spielen können und dort sicher sind, und in einer bewachten Wohnanlage hat man schon ein gewisses Maß an Sicherheit.«

 »Mit anderen Worten: Du willst also in einem Country-Club-Gefängnis irgendwo in der Provinz leben«, erwiderte Marty. »Wenn wir schon ein paar Jahre absitzen müssen, dann lass uns wenigstens vorher noch versuchen, ein bisschen Geld zu veruntreuen oder eine Bank auszurauben, damit wir die Strafe auch verdient haben.«

 »Ich will nur das Beste aus unserem Geld machen, und ich will für unsere Familie die sicherste Umgebung, die ich kriegen kann«, sagte Beth bestimmt. »Du willst eine Wohngegend, mit der du beim Mittagessen im Le Guerre herumprahlen kannst, und wenn Agenten dir übers Wochenende Drehbücher nach Hause liefern lassen, sollen sie von der Postleitzahl beeindruckt sein. Jesus, Marty, was sind deine Prioritäten?«

 Er blickte Beth ins Gesicht. Ihre Augen funkelten vor Wut und unbeugsamer Entschlossenheit. Sie war jetzt schon eine Bärenmutter, die ihre Jungen verteidigte, und sie hatte noch nicht mal welche.

 Welche Argumente hatte Marty schon gegen ihre – besseres Preis-Leistungs-Verhältnis, die besten Schulen für ihre Kinder und Sicherheit für seine Familie? Keine. Sie wusste es und er auch. Er war in einer äußerst vertrackten Position.

 Wen interessierte es schon, dass das Tal lähmend langweilig war, am Smog erstickte und nur einen Evolutionsschritt weiter war als ein riesiger Trailerpark? Egal, was er zu seiner Verteidigung sagen würde, er würde dastehen wie ein Arschloch.

 Beth machte das ständig mit ihm, dass sie ein Argument so auf den Punkt formulierte, dass er jedes Mal in die Falle tappte. Entweder war es das, oder sie war ein echtes Arschloch, und diese Möglichkeit gefiel ihm nicht.

 Okay, na gut, es war ihm nicht egal, was die Leute über seine Postleitzahl dachten. Was war daran so schlimm? Schließlich gehörte zum Ehemann- und Vater-Sein auch, ein guter Versorger zu sein, und die falsche Adresse, der falsche Wagen, die falschen Klamotten oder der falsche Tisch im Restaurant konnten sich sehr negativ auf seine Glaubwürdigkeit in der Branche und letzten Endes auch auf seine Aufstiegschancen und sein Gehalt auswirken. Und in letzter Konsequenz damit auch auf den Lebensstil, den er seinen Liebsten bieten konnte.

 Image war das Einzige, was in seiner Branche zählte, und ja, verdammt, was andere Leute darüber dachten, wo er wohnte, war sehr wohl wichtig. Doch das konnte er jetzt nicht zugeben, nicht während sie finanzielle und elterliche Verantwortung ins Feld führte.

 Also gab er klein bei.

 Es war nur ein Haus, und er war sowieso die meiste Zeit des Tages im Sender, was ja auch der Grund war, warum sie es sich überhaupt leisten konnten, ein Haus zu kaufen. Er würde freitags einfach nur länger bleiben müssen, das war alles, und sich dagegen verwehren, dass ihm Lesestoff nach Hause geliefert wurde. Er würde sagen, sein Haus sei heilig. Die Idee gefiel im plötzlich. Eine solche Regel würde ihn sogar noch mächtiger wirken lassen.

 Yeah, ich bin ein Arschloch, und ein verdammt erfolgreiches dazu.

 Marty seufzte schwer und lächelte auf diese liebenswerte Art und Weise, die sie so mochte, wie er wusste. »Heißt das, ich muss meinen Lexus gegen einen Volvo Kombi eintauschen?«

 Sie erwiderte sein Lächeln. »Noch nicht.«

 Er legte die Arme um sie und zog sie zu sich heran. »Hast du mal ›Chinatown‹ gesehen?«

 »Das Einzige, woran ich mich erinnere, ist, dass Jack Nicholson die Nase aufgeschlitzt wird und dass er Faye Dunaway so lange schlägt, bis sie zugibt, dass sie seine Mutter und seine Schwester ist, oder so was in der Art.«

 »Dann sollten wir besser los und ihn uns ausleihen«, er drehte sie um und führte sie zur Eingangstür. »Wenn wir im Tal wohnen werden, solltest du besser seine Geheimnisse kennen.«

 17:13 Uhr. Mittwoch.

 Immerhin führte der Los Angeles River Wasser, und es war warm.

 Dies war die erste Empfindung, die Marty bewusst wahrnahm. Als Nächstes folgte ein intensiver Schmerz, der von seiner rechten Seite ausstrahlte. Mit jedem Atemzug durchzuckte ihn ein stechender Schmerz. Er vermutete gebrochene Rippen, denn er wusste, wie sich das anfühlte; er war mit achtzehn einmal mit einer Geländemaschine gestürzt, doch das hatte nicht so sehr weh getan wie jetzt. Damals waren nur zwei Rippen gebrochen, vielleicht waren es dieses Mal alle seine Rippen. Seinen verbrannten Rücken spürte er kaum noch. Er hatte die Verbrennungen gegen neue Qualen eingetauscht, die so höllisch waren, dass sie seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen und die Beschwerden wegen seiner anderen Verletzungen überlagerten.

 Der intuitiv arbeitende Teil seines Gehirns unterzog seinen Körper einem Schnelltest, die Synapsen feuerten aus allen Ecken des Systems Rückmeldungen, und die Protokolle wurden in sein Bewusstsein durchgeleitet. Er versuchte, mit den Zehen zu wackeln und seine Finger zu beugen, und war erleichtert, dass er dazu in der Lage war, ohne neue Schmerzen zu verspüren. Wenigstens war er nicht gelähmt. Nun war eine Sichtprüfung vonnöten, und er hatte Angst vor dem, was er zu sehen bekommen würde.

 Marty öffnete die Augen und sah blauen Himmel und die Hälfte der Wilbur-Überführung, die sich zu ihm herunterneigte, sodass kleine Asphaltkiesel herunterrollten und auf ihn herabregneten.

 Er hob langsam den Kopf, damit er seinen Körper sehen konnte, im vollen Bewusstsein, dass das ein Fehler sein könnte, dass er damit den Haarriss in seinem Nacken vergrößern könnte und für den Rest seines Lebens gelähmt wäre, doch er konnte es sich nicht verkneifen. Marty musste wissen, was seine Schmerzen verursachte.

 Sein Genick brach nicht, doch was er sah, ließ ihn vor Schreck nach Luft ringen. Knapp zehn Zentimeter eines blutigen Eisenstabes ragten aus seiner rechten Seite heraus. Die warme Nässe, die er spürte, war nicht Wasser, sondern Blut. Er war auf einem Stück Stahl aufgespießt, das aus dem eingeknickten Stützpfeiler herausstand.

 Wenn das stimmte, warum spürte er dann nicht die harte, schartige Struktur des Mörtels unter seinem Rücken? Er lag auf irgendetwas Weichem und Nachgiebigem.

 Marty blickte über seine rechte Schulter. Das Blut, in dem er badete, war nur zum Teil sein eigenes. Er steckte auf dem oberen Ende eines Schaschlikspießes, die Eisenstange hatte Marty gepfählt, und unter ihm mehrere andere Menschen, die seinen Sturz abgefedert hatten. Es tat ihm leid, dass sie tot waren, doch gleichzeitig wusste er, wären sie nicht gestorben, wäre jeder Knochen in seinem Leib gebrochen. Er durfte jetzt nicht an sie denken oder daran, dass es ihre Eingeweide waren, die an seinem Rücken klebten.

 Er blickte nach links und entdeckte einen zerbeulten Buick Regal, nur wenige Zentimeter von ihm entfernt. Ihm wurde klar, dass es noch viel, viel schlimmer hätte kommen können. Er hätte auch unter diesem Auto landen können.

 »Hilfe!«, schrie er, und im selben Moment brach eine grelle Welle aus Schmerz über ihn herein, ging durch Mark und Bein und ließ ihn beinahe das Bewusstsein verlieren.

 Niemand wird kommen, um dir zu helfen. Da draußen sind Familien unter Häusern begraben. Ganze Viertel in Flammen. Wer schert sich schon um irgend so einen Typen, der aufgespießt im L. A. River hängt?

 Er schaute sich wieder zu beiden Seiten um, und dann horchte er. Das einzige Stöhnen, das er hörte, war sein eigenes. Er war alleine. Sein Marsch war vorbei, und sein Leben wahrscheinlich auch.

 Marty schloss die Augen. Das war fast schon lächerlich. Er hatte so vieles überlebt, nur um dann wenige kurze Meilen von zu Hause entfernt dran glauben zu müssen. Und alles nur, weil er von seiner Route abgewichen war, um ein kleines Mädchen zu finden, das er nicht einmal kannte.

 Und Beth würde niemals erfahren, warum er sterben musste. Sie würde sich immer wieder fragen, wie er nur aufgespießt in diesem Flussbett enden konnte, so kurz vor dem Ziel, mit einem Schnappschuss in seiner Tasche, der zwei Fremde zeigte. Wenn er doch nur einen Stift hätte, damit er alles aufschreiben und es Beth mitteilen könnte, damit sich die Geschichte aufklärte. Doch diese Geschichte würde unvollendet bleiben, genauso wie jede andere, die er jemals zu erzählen versucht hatte. Darin lag eine gewisse ironische Gerechtigkeit.

 Ein Stein fiel mit einem hellen Geräusch in das Auto direkt über seinem Kopf, was ihn so aufschreckte, dass er die Augen öffnete. War das nur noch mehr loser Schotter oder war der Rest der Brücke gerade im Begriff, über ihm zusammenzubrechen? Er starrte auf den aufgerissenen Asphalt und suggerierte ihm, sich nicht vom Fleck zu bewegen.

 Ein weiterer Stein traf das Auto, wieder in der Nähe seines Kopfs, doch er war sich sicher, dass er nicht von oben kam, denn er beobachtete, was über ihm passierte. Dieser Stein kam aus einem anderen Winkel. Jemand hatte ihn geworfen.

 »Hey Marty«, rief eine Stimme, »wach verdammt noch mal endlich auf.«

 Er drehte den Kopf, blickte nach rechts oben und sah eine Gestalt am Rande der hohen, senkrechten Uferböschung stehen.

 Das war unmöglich.

 Marty blinzelte heftig und kniff die Augen zusammen. Eine optische Täuschung.

 »Ich wusste, dass du lebst«, rief Buck erfreut. »Du bist der größte Glückspilz, dem ich je begegnet bin. Na, was ist, willst du den ganzen Tag da rumhängen und in Selbstmitleid baden, oder hast du vor aufzustehen?«

 Das war einer dieser äußerst unwahrscheinlichen, aber ebenso praktischen Zufälle, über die er sich immer so aufregte, wenn sie ihm in einem Drehbuch unterkamen, ein untrügliches Qualitätsmerkmal für eine schwache Handlung und schlampige Lohnschreiberei. Und doch stand da Buck Weaver, wie ein Westernheld, die Sonne im Rücken, und warf seinen langen Schatten quer über den betonierten Fluss.

 Marty lächelte. »Buck, was machst du denn hier?«

 »Deinen Hühnerarsch retten.«

 »Worauf wartest du noch?«, erwiderte Marty. »Schwing’ deinen Arsch hier runter und tu es.«

 »Das ist eigentlich nicht der Plan, der mir vorschwebte.«

 »Was ist dann dein Plan?«

 »Mein Plan sieht so aus, dass du deinen Arsch hochkriegst und aufstehst, wie ich es gesagt habe.«

 Für einen Moment verdrängte Martys Verärgerung seinen lähmenden Schmerz. »Ich bin auf einer verdammten Eisenstange aufgespießt. Warum kommst du nicht hier runter und hilfst mir?«

 »Weil ich nicht Scheiß-Spiderman bin. Diese Böschung ist völlig senkrecht, das fällt schon mal weg, und wenn ich versuche, an der Brücke runterzuklettern, könnte das dazu führen, dass die ganze Chose auf dich draufkracht, ganz zu schweigen von mir. Ich schätze, ich könnte den ganzen Weg bis zum Balboa Park zurückgehen und von da aus im Kanal wieder hochmarschieren, aber bis ich wieder da wäre, wärst du wahrscheinlich schon verblutet. Du kannst also ebenso gut selbst deinen Hintern in Bewegung setzen. Du bist eh am Arsch, so oder so.«

 Marty schloss die Augen und stöhnte. Er konnte spüren, wie das Blut aus seiner Wunde pulste. »Und was muss ich dafür tun?«

 »Zum Park laufen und aus dem Fluss klettern.«

 Marty musste lachen, obwohl die kleinste Bewegung seines Magens eine neue Schmerzwelle verursachte. »Ich habe eine bessere Idee. Du holst Hilfe. Ich warte hier.«

 »Es gibt keine Hilfe. Ich bin deine Hilfe. Und ich sage dir, steh auf. Sei ein verdammter Mann.«

 Sei ein verdammter Mann.

 Natürlich, dachte Marty, warum hab ich daran noch nicht selbst gedacht? »Wie hast du mich gefunden?«

 »Wir können einen verdammten Kaffeeklatsch halten, wenn du wieder auf den Beinen bist«, rief Buck ärgerlich. »Jetzt steh auf, verdammt noch mal! Mit der Angelschnur an Bord fängt man keine Fische.«

 »Was hast du da gesagt?«

 »Du hast mich verstanden. Steh auf!«

 Marty hatte keine Ahnung, wie er von dem Spieß herunterkommen sollte, und selbst wenn er es schaffte, hatte er Angst, dass die Schmerzen so schlimm wären, dass er direkt wieder zurückfallen und sich woanders noch übler aufspießen würde. Er hatte auch Angst davor, wie sehr es wehtun würde, obwohl es schwer war, sich etwas noch Schmerzhafteres vorzustellen als das hier.

 »Wie soll das gehen, Buck?«

 »Pack mit einer Hand das Auto, benutze die andere, um das Gleichgewicht zu halten. Dann beugst du die Knie, setzt die Füße auf, und dann kannst du dich mit Händen und Füßen gleichzeitig hochheben und nach oben schieben. Kinderspiel.«

 Für Marty klang das wie die komplizierteste körperliche Aktion, die ihm je zu Ohren gekommen war. In diesem Moment erschien ihm selbst olympisches Kunstturnen einfacher. Aber Buck hatte recht, Marty hatte keine Wahl, es sei denn, er wollte bleiben, wo er war, und langsam ausbluten.

 Mit seiner linken Hand bekam Marty das Auto zu fassen und versicherte sich, dass er einen festen Halt hatte. Dann legte er seine rechte Hand flach neben sich und versuchte, nicht darüber nachzudenken, aus was die schwammige Unterlage unter seiner Handfläche bestand. Jetzt zog er die Knie an, was dazu führte, dass sich seine Position leicht veränderte. Der Bolzen aus Schmerz, der aus seiner Wunde schoss, nahm ihm den Atem.

 »Ich glaube nicht, dass ich das schaffe«, flüsterte Marty sich selbst zu. Aber irgendwie hörte Buck ihn trotzdem.

 »Ich hab mal was über diesen Texas Ranger zu Wildwestzeiten gelesen, der von den Mexikanern gefangen genommen wurde. Weißt du, was sie mit dem gemacht haben? Sie zwangen ihn, einen Arm in dieses Astloch zu stecken, das einmal komplett durch einen Pekannussbaum ging. Sie gaben ihm einen großen Steinbrocken in die Hand und fesselten seine Faust eng drum herum, damit er seinen Arm nicht wieder aus dem Astloch ziehen konnte. So ließen sie ihn zurück, für die Wölfe, die Indianer oder was auch immer. Weißt du, was dieser zähe Bastard gemacht hat? Er hat sich mit einem Taschenmesser den Arm abgeschnitten und sich vierzig Meilen bis zur nächsten Siedlung geschleppt. Und du beschwerst dich über einen lausigen Splitter in deiner Speckfalte?«

 So gesehen wirkten seine Probleme tatsächlich etwas belanglos. Marty zählte bis drei und tat es einfach.

 Die Höllenqualen waren unerträglich. Er schrie, und der Spieß rutschte mit einem nassen Schmatzen aus ihm heraus. Es fühlte sich an, als flutschte auch die Hälfte seiner Eingeweide gleich mit. Unmittelbar bevor er ohnmächtig wurde und mit dem Rücken am Buick entlang zu Boden sank, stellte er sich vor, wie seine Gedärme hinter ihm her schleiften und sich um die Eisenstange wickelten.

 Einen Moment lang schwebte er, der Schmerz war weg und er war herrlich ruhig. Dann kehrte sein Bewusstsein zurück, angetrieben von einer Schmerzattacke, die durch seinen ganzen Körper hämmerte.

 Er riss ruckartig die Augen auf.

 »Siehst du, war doch gar nicht so schlecht«, sagte Buck.

 »Meine Seite bringt mich um.«

 »Du musst es auslaufen, wie einen Krampf.«

 Marty versuchte, gerade zu stehen, aber der Schmerz war so stark, dass er plötzlich Sterne vor den Augen hatte, wie Blitzlichter, die aufleuchteten. Er blinzelte heftig, seine Sicht war wieder klar, und stolperte dann um den blutigen Speer herum, wobei er versuchte, die anderen aufgespießten Körper nicht anzuschauen. Er stakste in das Flussbett, hielt sich die Seite und spürte, wie das Blut zwischen seine Fingern hervorquoll.

 »Ich verblute, Buck.«

 »Wahrscheinlich«, antwortete Buck vom Ufer aus. »Stopf’ dein Hemd in die Wunde und drück’ drauf, so fest du kannst, versuch’ die Blutung zu stoppen.«

 »Das wird wehtun.«

 »Es tut jetzt auch schon weh, viel schlimmer kann’s nicht werden.«

 »Du hast leicht reden.«

 Marty zog sein Hemd aus dem Hosenbund, knüllte die Hemdzipfel zusammen und pfropfte den Stoff in die Wunde. Es war, als steckte er sich einen weiteren Speer ins Fleisch. Er wimmerte.

 »Drück fester, Marty.«

 »Es tut weh«, schrie Marty, er weinte fast.

 »Besser als tot zu sein, verdammte Scheiße. Jetzt halte es fest an die Wunde gepresst und setz’ dich in Bewegung.«

 Marty blieb dicht an der Betonböschung zu seiner Rechten, stolperte unter dem Tunnel hindurch, der durch den Einsturz der Überführung entstanden war, und dann ging er einfach immer weiter, mit der Schulter an der Wand entlang, die ihm so als Stütze diente.

 Über ihm begleitete ihn Buck. »Wenn wir im Park sind, könntest du ein paar von den medizinischen Tipps ausprobieren, die ich dir im Feldkrankenhaus gegeben habe.«

 »Du willst, dass ich nach Pferdehaaren Ausschau halte, um sie mir in die Wunde zu legen?«

 »Pferdescheiße wäre besser, aber Schlamm tut’s auch.«

 Diese Unterhaltung über das Feldlazarett und die Behandlung seiner Wunde brachte eine naheliegende Frage aufs Tapet. Was machte Buck hier?

 »So, und jetzt erzählst du mir, wie du mich gefunden hast.«

 »Ich habe gar nicht nach dir gesucht. Ich habe Clara Hobart gesucht.«

 Marty schaute zu Buck hinauf, aber aus diesem Winkel, so nahe an der Betonwand, konnte er Bucks Gesicht nicht sehen, nur den Schatten, den er warf. »Woher weißt du von Clara?«

 »Du hast mir davon erzählt.«

 »Hab ich das?«

 »Du hast es in deinem leeren Geschwätz erwähnt, mit dem du zu erklären versucht hast, warum du für niemanden einen Finger krumm machen musst, weil du deine Heldentat schon an der Mutter dieses Kindes verübt hast«, antwortete Buck. »Aber da Molly getoastet wurde und du nichts wirklich Heldenhaftes getan hast, habe ich gesagt, es zählt nicht. Ihr Kind zu retten würde zählen.«

 »Ich erinnere mich nicht an diese Unterhaltung.«

 »Du wolltest das nicht tun, du egoistischer Bastard, und darum habe ich beschlossen, herzukommen und es für dich zu erledigen. Ich ging davon aus, dass du sie vergessen würdest. Tja, und wie du dir vorstellen kannst, habe ich mir fast in die Hose geschissen, als ich dich da unten entdeckt habe.«

 »Ich weiß, dass ich dir gegenüber nie die Löwenzahn-Vorschule erwähnt habe.«

 »Das war auch nicht nötig, ich bin amtlich zugelassener Ermittler und Kopfgeldjäger. Damit verdiene ich meinen Lebensunterhalt. Ich habe gesehen, dass das Kind auf dem Foto, das du mit dir herumträgst, ein T-Shirt mit dem Logo der Löwenzahn-Vorschule trägt, also habe ich, weil ich ja so ein erstklassiger investigativer Ermittlerprofi bin, daraus gefolgert, dass sie eventuell dort angemeldet sein könnte.«

 »Ich habe dir das Foto nie gezeigt.«

 »Ich habe es gesehen, als ich deine Taschen durchwühlt habe.«

 Marty war empört. »Du hast meine Taschen durchwühlt? Wann?«

 »Während du geschlafen hast, in dem Bürogebäude. Es war die erste Gelegenheit, die sich mir bot, und ich war neugierig.«

 »Neugierig auf was?«

 »Was weiß ich, verdammt! Ich durchsuche bei jedem die Taschen. Das ist mein Job.«

 Marty hätte den provokanten Hurensohn am liebsten erdrosselt. Und dann machte er eine verblüffende Entdeckung: In seiner Wut hatte er seine Schmerzen völlig vergessen. Buck hatte es tatsächlich geschafft, ihn davon abzulenken, was in Marty den Verdacht aufkommen ließ, dass das von Anfang an Bucks Absicht gewesen sein könnte. Andererseits konnte es auch genauso gut sein, dass er Buck mehr Raffinesse zuschrieb, als der Neandertaler jemals besitzen würde. Und jetzt, wo Marty sich die Ablenkung bewusst gemacht hatte, kam der Schmerz mit voller Kraft zurück. Wider besseren Wissens beschloss er, Buck zu ermutigen, ihn noch ein bisschen wütender zu machen.

 »Und was ist mit dortbleiben und Angie helfen?«, fragte Marty.

 »Sie ist eine Lesbe«, sagte Buck, als ob das alles erklären würde. In gewisser Weise tat es das auch, aber aus medizinischen Gründen hatte Marty nicht vor lockerzulassen.

 »Woher willst du wissen, dass sie lesbisch ist?«

 »Das ist offensichtlich.«

 »Wenn das so offensichtlich ist«, fragte Marty, »warum bist du dann überhaupt erst auf sie angesprungen?«

 »Nun, wenn auch nur ein Funken Hetero in ihr übrig geblieben wäre, und das war der Fall, hätte ich es an die Oberfläche holen können.«

 »Du dachtest, dein bloßer Anblick würde die wollüstige Heterosexuelle entfesseln, die in ihr gefangen war?«

 »Manchmal dauert es auch länger. Unterbewusst wollte sie mich. Das konnte sie nicht verbergen. Aber sie dazu zu bringen, das zu realisieren, hätte zu viel Zeit in Anspruch genommen. Ich hab das schon mal mitgemacht. Harte Arbeit, aber am Ende lohnt es sich. Es gibt nichts Geileres als eine befreite Lesbe. Unterm Strich heißt das, egal was sie dir erzählen, sie wollen alle einen Schwanz.«

 »Besonders deinen Schwanz.«

 Buck beugte sich über den Rand der Böschung und schickte ihm einen frostigen Blick hinunter. »Du machst dich über mich lustig.«

 Marty schaute zu ihm hinauf und lächelte. »Jawohl.«

 »Und weißt du auch, warum du dich über mich lustig machst?«

 »Weil es Spaß macht und mich von den Schmerzen ablenkt?«

 »Neid, Unzulänglichkeit und Wut.«

 »Wie bitte?«

 »Du wünschst, du wärst so männlich wie ich und so potent wie ich, und du bist wütend auf dich selbst, weil du weißt, dass du das nie sein kannst.«

 Buck versuchte offensichtlich, die Unterhaltung von seiner Niederlage wegzulenken, aber Marty war entschlossen, das nicht zuzulassen.

 »Zum Teil hast du recht«, erwiderte Marty. »Ich weiß, dass ich nie dein Ego oder deine Arroganz besitzen werde. Aber jetzt sage ich dir, wo du unrecht hast: Ich will das gar nicht. Ich will nicht jeden, der mir begegnet, einschüchtern oder beleidigen. Ich hätte gerne ein paar Freunde.«

 »Solche wie den Producer-Typen, den wir getroffen haben?«

 »Das war eine außergewöhnliche Situation«, verteidigte Marty sich, wohl wissend, dass ihm sein Argument entglitt und damit auch der Spaß, den er sich erhofft hatte. Auf einmal war nicht mehr Buck die Zielscheibe, sondern er selbst. Das musste sich schleunigst wieder ändern.

 »Der Punkt, um den es mir geht«, sagte Marty, »ist, dass du an nichts anderes denkst, als daran, andere Leute zu überwältigen, sei es verbal, physisch oder mit deiner Knarre. Es verschafft dir einen Kick, andere einzuschüchtern.«

 »Und dir etwa nicht? Du hattest Schiss, dass dieser Koch, wenn er dich in diesen verdreckten Klamotten zu sehen bekäme, dich eines Tages an einen beschissenen Tisch setzen würde, sodass du nicht mehr in der Lage wärst, andere Leute so einzuschüchtern, dass sie sich deine bescheuerten Scheiß-Anmerkungen anhören. Der Unterschied zwischen uns beiden ist, dass mir die Leute zuhören, weil ich sie dazu zwinge, und nicht, weil irgend so ein Schnitzelwender ihnen sagt, dass sie das tun sollten. Darauf bist du neidisch. Nicht einmal in deinem eigenen Scheißleben hast du was zu melden.«

 »Anderen Menschen zu erlauben, einen gewissen Einfluss auf dein Leben zu nehmen, macht das Leben doch erst aus«, sagte Marty. »Darum verbringst du deine Nächte alleine in Bars und sammelst Servietten, mit denen du dann dein Badezimmer dekorierst, während ich nach Hause gehe zu einer Frau, die mich liebt.«

 Buck schnaubte verächtlich.

 »Und das, glaubst du, ist der Unterschied zwischen uns beiden? Eine Frau? Jeder kann eine Frau kriegen. Das bedeutet einen Scheiß. In der Lage zu sein, alleine zu leben und dich mit dir selbst wohlzufühlen, ist verdammt noch mal viel schwieriger. Kannst du mir in die Augen sehen und mir sagen, dass du glücklich damit bist, wie du bist?«

 Darauf fiel Marty nicht herein. »Das kann keiner.«

 »Doch, ich schon.«

 »Dann verarschst du dich selbst. Du glaubst allen Ernstes, dass in deinem Leben nichts fehlt?«

 »Doch, ganz sicher tut es das«, sagte Buck. »Zum Beispiel ein paar tausend Cocktailservietten, unzählige Haushaltsgeräte, ein größerer Fernseher, ein makelloser Mercury Montego, ein Dutzend Schusswaffen und der beste Scheißhund, den es je gab.«

 »Wird dir das eigentlich nie langweilig?«

 »Langweilig? Was?«

 »Dein Harter-Kerl-Getue. Du bildest dir ein, dass Männer dich nur anschauen und vor Angst oder Neid zu zittern beginnen. Dass jede Frau mit dir ficken will, Nonnen, Omas, Lesben und die klinisch Toten eingeschlossen. Dass du so hart im Nehmen bist, dass du Skorpione zum Frühstück verspeist und deinen Mund mit Batteriesäure ausspülst. Der ganze Scheiß. Hab ich was vergessen?«

 »Ist dir schon mal in den Sinn gekommen, dass ich dir einfach sage, wie es ist? Es ranken sich keine verdammten Geheimnisse um meine Person. Was ich so von mir gebe und tue, ist, was es ist. Du bist doch derjenige, der nur Scheiße labert, aber ich glaube, das haben wir schon zur Genüge festgestellt.«

 »Ja, ich glaube auch.«

 Das war Martys letzter Versuch, Buck zu ärgern, zumindest bis ihm eine sicherere Variante einfiel. Bisher war es immer so gelaufen, dass die Unterhaltung sich am Ende drehte und stattdessen Marty derjenige war, dem in den Arsch getreten wurde, und das machte mit Sicherheit keinen Spaß. In der Hinsicht war Buck wie Beth. Als hätten alle beide denselben Kurs besucht: »Wie mache ich Marty Slack mundtot?«

 Schweigend gingen die beiden ein paar Minuten nebeneinander her, nur Martys gelegentliches Stöhnen und Jammern war zu hören. Dann räusperte sich Buck und sprach.

 »Tun deine Füße noch weh?«

 Marty hielt seine Eingeweide mit der Hand fest, und Buck machte sich Sorgen um seine Blasen? Doch er wusste, was es mit der Bemerkung auf sich hatte. Sie stellte quasi eine Entschuldigung dafür dar, dass er einen Mann fertigmachte, der bereits am Boden war, und sollte Marty signalisieren, dass er ihn mochte.

 »Nicht mehr so sehr«, erwiderte Marty.

 »Schätze, die neuen Schuhe helfen.«

 Marty blickte auf seine derben neuen Schuhe, die nun blutverspritzt waren. »Ich schätze schon.«

 Buck nickte. »Ein Mann braucht ein robustes Paar Schuhe.«

 


 KAPITEL FÜNFZEHN

 Das Mädchen aus dem Tal

 18:26 Uhr. Mittwoch.

 Als Martin Slack am grasbewachsenen Ufer in Balboa Park saß und eine Mischung aus Schlamm und Blättern auf seine Wunde legte, stellte er fest, dass die Verletzung nicht so schlimm war, wie er sich vorgestellt hatte.

 Marty hatte befürchtet, seine nässenden Gedärme in ein klaffendes, blutiges Loch in seinem Bauch zurückstopfen zu müssen. Stattdessen sah es so aus, als hätte die Eisenstange einen sauberen Durchstich von circa einem halben Zoll Durchmesser hinterlassen, rot und geschwollen und genau durch sein Hüftgold hindurch. Er würde zumindest keine perforierten Nieren oder irgendwelche anderen inneren Organe wieder an ihren Platz legen müssen. Andererseits, soweit er das beurteilen konnte, stritten sich gerade die Vögel im Flussbett um die fleischigen Stücke seines Blinddarms.

 Die kühle Erde tat seinem Wundschmerz gut und sie stillte die Blutung, aber er kam nicht umhin sich zu fragen, ob sie nicht gleichzeitig eine Entzündung begünstigte. Es war Dreck. Sollte man so etwas nicht aus offenen Wunden heraushalten? Andererseits war eine Entzündung nun nicht gerade seine dringendste Sorge. Das Einzige, was er jetzt wollte, war die Blutung zu stoppen und den Schmerz einzudämmen, damit er nach Hause gehen konnte. Bisher gab es an beiden Fronten bemerkenswerte Verbesserungen zu vermelden.

 Buck untersuchte den Umschlag und nickte wohlwollend. »Das wird für eine erstklassig männliche Narbe sorgen.«

 »Soll ja auch zu der Schusswunde passen«, sagte Marty.

 »Jetzt, wo du ein paar Spuren eines harten Lebens in deinem teigigen Fleisch hast, wirst du auch nicht mehr wie ein Weichei aussehen. Du solltest vielleicht einen neuen Erwerbszweig in Betracht ziehen.«

 »Bin schon dabei.«

 Buck grinste. »Ich nehme normalerweise keine Azubis, aber in deinem Fall könnte ich eine Ausnahme machen.«

 »Das ist ein sehr freundliches Angebot, Buck. Aber ich habe an etwas eher Sedentäres gedacht.«

 »Du willst Geologe werden?«

 »Ich sagte sedentär, nicht sedimentär«, gab Marty zurück. »Ich werde als Schriftsteller arbeiten.«

 »Ein Schriftsteller sollte seine Worte sorgfältiger wählen, um Verwirrung zu vermeiden«, sagte Buck. »Vielleicht solltest du dir mal ein Metier anschauen, das zu deinen bereits vorhandenen Fähigkeiten passt. Du weißt schon, so etwas wie Autoverkäufer oder Callcenter-Agent im Outbound.«

 Marty ignorierte die Bemerkung. Er hob einen kräftigen Ast auf, den er am Ufer gefunden hatte, und indem er sich darauf stützte, gelang es ihm, sich in den Stand zu hieven. Vor Schmerz blieb ihm die Luft weg. Es fühlte sich an, als ob sein Rücken und seine rechte Seite darum wetteiferten, den höllischsten Schmerz zu produzieren.

 Jetzt, wo Marty stand, konnte er die Massen von Erdbebenflüchtlingen sehen, die die Ufer des künstlich angelegten Sees in der Mitte des Parks auf der anderen Seite des Flusses belagerten. Es sah aus, als hätten sie sich für ein Open-Air-Rockfestival versammelt. Und hinter ihnen, in der Ferne, machte er Tausende von weiteren Menschen aus, die den öffentlichen Golfplatz bevölkerten, der alle paar Jahre so plötzlich und vollständig überschwemmt wurde, dass gestrandete Golfer mit Helikoptern von den Bäumen gepflückt werden mussten.

 »Ich könnte echt mal was zu trinken vertragen«, sagte Marty. »Meine Kehle ist so trocken wie dieser Fluss.«

 Buck zeigte auf ein Zelt des Roten Kreuzes, das inmitten der Menschenmassen stand. »Die haben wahrscheinlich Wasser.«

 Marty wog die Entfernung und die Komplikationen ab, die entstehen würden, wenn die Rotkreuzmitarbeiter seine Wunde sahen, und schüttelte den Kopf. »Ich hebe mir die Kraft lieber für den Heimweg auf. Übrigens, wir haben noch einen Zwischenstopp vor uns. Komm schon, lass uns gehen.«

 »Bist du sicher, dass du das schaffst?« Buck schaute ihn skeptisch an. »Vielleicht wärst du besser bedient, wenn du aufgeben und dort im Rotkreuzzelt auf einer Pritsche rumhängen würdest.«

 »Ich hab schon viel zu lange aufgegeben und rumgehangen.« Marty humpelte davon in Richtung Victory Boulevard, verzog vor Schmerzen das Gesicht und lehnte sich schwer auf seinen Gehstock.

 Buck blickte ihm einen Moment lang nachdenklich nach, dann schloss er zu ihm auf und ging neben ihm her.

 18:50 Uhr. Mittwoch.

 Nach dem Zweiten Weltkrieg wollten sich die Angehörigen der Streitkräfte, die Taschen voller Soldatendarlehen, ihre paar Quadratmeter des Amerikanischen Traums abholen und kamen ins San Fernando Valley. Bauunternehmer ließen diesen Traum mit Präzision, Wirtschaftlichkeit und Eintönigkeit vom Fließband wahr werden und überzogen das Tal mit Häusern im Ranch-Stil, die ein einfaches Leben im Einklang mit der Natur versprachen, jedenfalls mit dem bisschen Natur, das noch nicht begradigt oder einbetoniert worden war.

 Alle Häuser, an denen Marty und Buck vorbeikamen, sahen gleich aus, mit ihren Sperrholzverkleidungen und den flach abfallenden Holzschindeldächern, den in überstehende Regenrinnen eingebauten oder wie kleine Kuppeln obendrauf gesetzten Vogelhäuschen, die für das gewisse Etwas und den perfekten Fertighauscharme sorgten. Bei vielen Häusern war das Dach bis zu einer frei stehenden Garage oder einem Carport verlängert worden, sodass ein überdachter Durchgang entstand, der dann in späteren Jahren oft von Hobbyzimmerern zu einem billigen Schuppen umgebaut wurde.

 Die Löwenzahn-Vorschule sah aus wie das weitläufige, offen gehaltene Farmhaus, das es einmal gewesen war, nur dass mehrere Räume angebaut worden waren und ein hoher Maschendrahtzaun den breiten Vorgarten umgab, der schon vor langer Zeit zu einem Parkplatz umfunktioniert worden war.

 Das Sperrholzschild der Schule, das schlecht gemachte Kopien berühmter Zeichentrickfiguren zierten, baumelte von der eingestürzten Veranda, und ein Riss zog sich da, wo das erhöhte Fundament auf die Mauern traf, einmal rund um das Haus herum. Aber davon und von anderen oberflächlichen Rissen abgesehen, machte das Haus den Eindruck, das Erdbeben ganz gut überstanden zu haben, was Marty Hoffnung machte, dass Clara am Leben und unverletzt sein könnte.

 Marty stand draußen vor dem Eingang, sammelte seinen Mut und versuchte sich zurechtzulegen, was er zu Clara und den Lehrern da drinnen sagen würde. Doch er war so müde und von seinen Verletzungen so geschwächt, dass es ihm schwerfiel, sich zu konzentrieren. Das Einzige, woran er denken konnte, war, um etwas Wasser und einen Platz zum Schlafen zu bitten.

 »Vielleicht sollte ich das erledigen«, sagte Buck und studierte Martys ausgezehrtes Gesicht.

 »Das ist meine Angelegenheit.«

 »Ja, aber meine Chancen, mit dem Kind hier rauszuspazieren, stehen besser als deine.«

 »Warum sagst du das?«

 »Schau dich doch nur an, Marty. Du bist ein verdammter Albtraum, und du riechst wie ein Eimer voll Scheiße. Du wirst dem Lehrer und dem Kind nur Angst einjagen«, erklärte Buck. »Außerdem, wenn der Lehrer nicht kooperiert, greife ich mir das Kind einfach. Ich bin groß und ich bin bewaffnet. Du könntest nicht einmal einem Luftzug die Stirn bieten.«

 Marty wusste, dass Buck, logisch betrachtet, recht hatte, aber das spielte keine Rolle für ihn. »Ich muss das tun, Buck. Alleine. Und wenn ich nicht mit Clara rauskomme, können wir ja noch mal darüber reden.«

 »Scheiß auf reden, wenn du nicht mit dem Kind rauskommst, geh ich rein und hol sie mir.«

 Marty beschloss, seine Kräfte zu schonen und diesen Kampf mit Buck später auszufechten, falls es nötig würde. Also nickte er nur, öffnete das Tor und ging seitlich um das Haus herum zum Hinterhof.

 Der schmale Pfad führte zu einem verwitterten Holzzaun und war übersät mit weggeworfenem Spielzeug: Bauklötzchen, Bälle in allen Größen, Dreiräder, Tretautos, Plastikeimer und Schaufeln. Sich seinen Weg durch das Durcheinander zu bahnen und dabei nicht zu stolpern, machte ihn fix und fertig. Jedes Ausweichmanöver und jeder große Schritt über einen der Gegenstände fühlte sich an, als würde er aufs Neue aufgespießt.

 Er hielt an, um eine Schmerzwelle vorüberziehen zu lassen, und hörte das Lachen und Quieken spielender Kinder, was ihn sowohl überraschte als auch bezauberte. Es war seltsam und dabei magisch, solche Freude zu hören inmitten einer derartigen Katastrophe. Er näherte sich den Geräuschen, fast hypnotisch angezogen, und rutschte in seiner Eile auf einem Spielzeug-Feuerwehrauto aus.

 Marty jaulte vor Schmerz und fiel gegen eine Plastikrutsche, die wiederum ein Dreirad in Bewegung setzte, das mit lautem Geratter in den Zaun rauschte.

 Eine Frau stürzte aus dem hinteren Bereich des Hauses hervor, riss das Tor auf und blieb dann stehen, ganz offensichtlich unsicher, was sie als Nächstes tun sollte. Sie war um die Vierzig, trug Shorts und ein zerknittertes T-Shirt mit Löwenzahn-Aufdruck und sah ihn mit verweinten, braunen Augen an, in denen die Sorge und Erschöpfung von den tiefen, dunklen Ringen darunter noch unterstrichen wurden. Marty konnte die Fragen förmlich über ihr abgespanntes Gesicht huschen sehen. Soll ich wegrennen? Soll ich ihm helfen? Oder gibt es hier irgendwo eine Waffe, mit der ich mich und die Kinder verteidigen kann?

 Es fiel ihr nicht leicht, eine Entscheidung zu treffen. Sie hatte ihr Limit erreicht, ihr Maß an unerwarteten Situationen und schwierigen Entscheidungen war voll und sie war emotional völlig ausgelaugt. Marty konnte das nachempfinden.

 »Ich werde es Ihnen etwas einfacher machen«, Marty stöhnte und rappelte sich auf. »Es gibt keinen Grund, Angst vor mir zu haben. Ich bin nur hier, weil ich eines der Kinder abholen will, Clara Hobart.«

 Sie beäugte ihn misstrauisch. »Sind Sie ihr Vater?«

 »Nein. Ich bin ein Freund der Familie.«

 »Stimmt was nicht, Faye?«, rief eine männliche Stimme von irgendwo hinter ihr.

 »Hab mich noch nicht entschieden«, erwiderte Faye.

 »Warum entscheidest du das nicht hier hinten, wo ich dich im Auge habe und sehen kann, mit wem auch immer du sprichst«, sagte der Mann.

 Sie trat zur Seite und hielt dann, wie in einem verspäteten Einfall, das Tor auf, sodass Marty an ihr vorbeihumpeln konnte.

 Der große Hinterhof war in einen Spielplatz verwandelt worden. Drei Kinder rannten um eine Schaukel und ein Klettergerüst herum. Die zwei Jungen und Clara erstarrten, als sie den Fremden hereinkommen sahen, und schluckten ihr Lachen hinunter, ihre kleinen Mägen hoben und senkten sich, während sie versuchten, wieder zu Atem zu kommen.

 Clara sah aus wie auf dem Foto, aber es gab einen Unterschied, auf den er nicht vorbereitet war. Es waren nicht die aufeinander abgestimmten Kratzer an ihren Knien oder ihr geflochtener Pferdeschwanz, auch nicht ihre strahlend blauen Augen. Sie hat einen Streifen Sommersprossen quer über ihrer Nase.

 Fast wie Beth. Nein, exakt genauso wie Beth.

 Er hatte das auf dem Foto nicht gesehen, sonst hätte er sich schon lange vor diesem Augenblick in Clara verliebt.

 Es kam überhaupt nicht in Frage, ohne sie wieder wegzugehen.

 Der Mann, der nach Faye gerufen hatte, saß auf einer Bank, sein linkes Bein steckte in einer primitiven Schiene aus Klebeband und zwei Zaunlatten. Er bemerkte, dass Marty sein Bein ansah.

 »Mir ist ein Bücherschrank draufgefallen, hat mein Bein zerbrochen wie einen dürren Zweig.«

 »Ich glaube, auf mich ist die ganze Welt gestürzt«, antwortete Marty und bemerkte einen Krug mit Wasser und ein paar Pappbecher auf dem Picknicktisch.

 »Sieht auch so aus, wenn ich das mal so sagen darf«, sagte der Mann mit einem freundlichen Lächeln und sanfter Stimme, die Marty an Mister Rogers erinnerte. »Ich bin Alan Plebney, der Schulleiter der Löwenzahn-Vorschule; das ist meine Frau Faye.«

 »Ich bin Martin Slack«, sagte er und erwiderte das Lächeln. Er hatte einen guten Start erwischt. »Könnte ich etwas Wasser haben?«

 »Bedienen Sie sich.«

 Marty kippte vier Becher hinunter und rechnete fast damit, mitansehen zu müssen, wie alles wieder aus dem Loch in seinem Bauch herauslief. Stattdessen durchströmte ihn das Wasser, als wäre er elektrisch aufgeladen worden.

 »Wo sind die anderen Lehrer?«, fragte Marty.

 »Ich habe sie nach Hause zu ihren Familien geschickt. Als Schulleiter muss ich hierbleiben, bis alle Kinder wieder bei ihren Eltern sind. Und außerdem kann ich mit dem Bein eh nirgends hin.« Er deutete auf seine Frau, und seine Augen glühten vor Bewunderung. »Meine Frau ist den ganzen Weg aus Studio City hierhin zu Fuß gegangen, um sich zu vergewissern, dass es mir und den Kindern gut geht.«

 Marty blickte zu Faye, die sich gedämpft mit Clara unterhielt. Das kleine Mädchen schaute ihn verängstigt an, ein Blick, den sowohl Faye als auch ihr Ehemann richtig interpretierten.

 »Woher kennen Sie Clara?«, fragte Alan beschützend.

 Marty beschloss, bei der Wahrheit zu bleiben. »Das tue ich nicht.«

 »Dann tut es mir leid, aber ich verstehe nicht, was Sie hier machen, Mr Slack, abgesehen davon, becherweise Wasser zu trinken.«

 Marty griff in seine Tasche, zog das versengte Foto von Molly und Clara hervor und flüsterte, während er es Alan zeigte: »Ihre Mutter hat mir das hier gegeben. Kurz bevor sie starb.«

 Alan sah zu Clara hinüber, dann wieder zu ihm.

 »Sie hat mich gebeten, mich um ihre Tochter zu kümmern«, sagte Marty. »Darum bin ich hier.«

 »Waren Sie ein enger Freund?«, fragte Alan.

 »Bis zu dem Moment nicht.«

 Alan holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus. »Ich kann dieses Kind nicht mit einem völlig Fremden gehen lassen, egal wie edel Ihre Absichten sind.«

 »Gibt es sonst noch jemanden? Hat Molly Ihnen den Namen von jemandem hinterlassen, dem sie vertraute, eine Notfallnummer?«, fragte Marty, doch er kannte die Antwort bereits.

 Alan schüttelte den Kopf. »Sie sagte, sie müsse darüber nachdenken. Das war vor drei Monaten.«

 Faye kam zu ihnen, während Clara bei ihren Freunden blieb.

 »Du kannst sie nicht mit diesem Mann mitgehen lassen, Alan«, sagte sie bestimmt, dann senkte sie ihre Stimme, damit Clara sie nicht hörte. »Er könnte ein Kinderschänder sein.«

 »Schauen Sie mich mal genau an, Mrs Plebney«, sagte Marty. »Sehe ich aus, als wäre ich in der Lage, jemandem wehzutun?«

 An ihrem Gesichtsausdruck konnte er ablesen, dass er damit einen Punkt für sich verbuchen konnte. Marty zog seine Brieftasche aus der Hose und händigte ihnen seinen Ausweis aus. »Das bin ich. Behalten Sie ihn. Wenn irgendjemand Clara abholen kommt, können sie ihm oder ihr sagen, bei wem sie ist und wo sie ist. Aber wir wissen alle drei, dass das nicht passieren wird.«

 Alan nahm den Ausweis und begutachtete ihn, als wäre die Antwort auf dieses Problem im Kleingedruckten versteckt.

 »Ich bin aus dem Zentrum von Los Angeles hierhergelaufen, mit diesem Foto in meiner Hosentasche. Unterwegs bin ich angeschossen, vergiftet, verbrannt und aufgespießt worden und außerdem fast ertrunken. Ich will jetzt nach Hause zu meiner Frau, und ich würde Clara gerne mitnehmen. Ich weiß nicht, ob mein Haus noch steht oder ob meine Frau überhaupt noch am Leben ist. Aber ich verspreche Ihnen, egal was ich vorfinden werde, Clara wird in Sicherheit sein. Ich werde mich um sie kümmern.«

 Alan und Faye Plebney starrten ihn an und rangen mit der Entscheidung. Und währenddessen kam Clara zu ihnen her und berührte das Foto in Alans Hand.

 »Das ist meine Mami«, sagte Clara. »Kommt sie mich bald abholen?«

 »Sie hat mich gebeten, dich abzuholen, Clara«, ergriff Marty schnell das Wort, bevor die Plebneys antworten konnten. »Mein Name ist Martin.«

 Clara blickte zögernd zu Marty auf. Sie wollte ihm glauben. »Wie ist das Geheimwort?«

 »Bitte«, antwortete er.

 »Nein, das andere geheime Wort«, sagte Clara.

 Marty hatte keine Ahnung, wie das lautete.

 Die Plebneys und Clara starrten ihn an und warteten. Als handele es sich um einen Wettbewerb. Als wüssten sie alle drei, dass er es nicht wusste.

 Warum hatte Molly es ihm nicht mitgeteilt? Sie musste gewusst haben, dass ihr Kind danach fragen würde.

 »Sie hat mir gesagt, dass ich nicht mit einem Fremden mitgehen darf, der das geheime Wort nicht kennt«, wiederholte Clara, nur für den Fall, dass er daran erinnert werden müsste.

 In ein paar Sekunden würde Clara sich von ihm abwenden, und die Plebneys würden es ihr gleichtun. Marty konnte nicht zulassen, dass ihn das aufhielt, auch wenn es bedeutete, Buck hereinzurufen und Gewalt anzuwenden. Denn wenn Marty ohne Clara weggehen würde, würde ihn für den Rest seines Lebens dieses letzte Bild von Molly verfolgen, wie sie ihm das Foto entgegenstreckte und mit flehendem Blick und letzter Kraft nach ihm rief …

 Und während er sich diese Szene in Erinnerung rief, war plötzlich völlig klar, was vorher keinen Sinn ergeben hatte. Molly hatte es ihm sehr wohl mitgeteilt.

 »Engel«, sagte Marty

 Clara nickte.

 »Ist das das geheime Wort?«, fragte Alan Clara sanft.

 »Ja«, sagte sie, und dann schaute sie mit großen, sehnsüchtigen Augen zu Marty auf.

 »Wirst du mich zu meiner Mami bringen?«

 Marty blickte zu den Plebneys. Es lag nun bei ihnen.

 Alan warf seiner Frau einen Blick zu, die ihrerseits zustimmend nickte, dann wandte er sich an Clara. »Martin wird sich für eine Weile um dich kümmern.«

 »Wo ist meine Mami?«, fragte Clara und stopfte das verbrannte und zerknitterte Foto in ihre Tasche. Die drei Erwachsenen verharrten für einen Moment in unbehaglichem Schweigen. Keiner von ihnen wollte Clara jetzt schon die entsetzliche Nachricht mitteilen. Irgendwann, bald, vielleicht heute noch, würde Marty Clara sagen müssen, dass ihre Mutter tot war. Und an einem anderen Tag, der noch in weiter Ferne lag, würde er ihr sagen müssen, wie ihre Mutter gestorben ist, und all die Dinge, die sie ihm gesagt hatte. Am Ende würde er ihr wehtun müssen, und es war ein Schmerz, von dem er wusste, dass er niemals aufhören würde, für keinen von ihnen beiden.

 »Das wissen wir nicht«, antwortete Alan. »Aber wir wissen, dass sie dich liebt, egal wo sie auch sein mag, und dass sie will, dass du in Sicherheit bist. Darum hat sie Martin geschickt, um dich mit nach Hause zu nehmen.«

 Faye gab Clara einen Kuss auf die Stirn. »Der ist von mir und Mr Plebney. Du bist ein sehr, sehr braves Mädchen. Nun musst du auch bei Martin ein braves Mädchen sein. Wir sehen uns bald wieder.«

 Clara nickte schüchtern.

 Marty streckte Clara die Hand entgegen. »Wir haben einen langen Spaziergang vor uns, aber ich habe ein Problem. Ich habe mich verletzt und brauche jemanden, der mir hilft. Würdest du mir helfen?«

 Sie nickte und nahm seine Hand.

 Er drückte ihre Hand und ließ sie ihn durch den Seiteneingang hinausführen.

 Sie fanden Buck, der draußen nervös auf und ab ging und auf sie wartete. Buck schenkte Clara sein breitestes, gewinnendstes Lächeln.

 »Das ist mein Freund Buck«, sagte Marty. »Er wird mit uns gehen.«

 »Das ist also die wunderschöne Prinzessin, von der ich so viel gehört habe«, sagte Buck. »Du bist sogar noch bezaubernder, als ich mir ausgemalt habe, Eure Hoheit.«

 Buck legte eine formvollendete Verbeugung hin. Clara sagte nichts. Sie war offensichtlich eingeschüchtert. Marty konnte es ihr nicht übel nehmen.

 »Siehst du diese breiten Schultern? Weißt du, wofür die gut sind?«, fragte Marty. »Um schöne kleine Prinzessinnen Huckepack zu nehmen, damit sie auf langen Spaziergängen nicht müde werden. Möchtest du gerne auf seinen Schultern reiten?«

 Sie schüttelte den Kopf. »Du hast gesagt, ich soll dir helfen.«

 »Das hab ich«, Marty wandte sich an Buck. »Sorry.«

 Buck ließ noch einmal sein Lächeln aufblitzen. »Na gut, Eure Hoheit, wenn du es dir anders überlegst, musst du nur mit dem Finger schnippen.«

 Zu dritt gingen sie eine Stunde lang nebeneinander her und kämpften sich auf dem Ventura Boulevard nach Westen voran, während es langsam dämmerte. Marty hatte Angst, etwas zu ihr zu sagen, weil er befürchtete, es könnte wieder zu Fragen über ihre Mutter führen.

 Schweigen war sicherer.

 Mit jedem Schritt wurden seine Schmerzen schlimmer, aber ihre winzige Hand in seiner zu spüren ließ ihn sich irgendwie stärker fühlen, so als könnte er alles auf sich nehmen, was nötig wäre, um sie zu beschützen. Nur durch diese Berührung trat sein eigenes Leben zugunsten des ihren in den Hintergrund.

 Ohne sich dessen bewusst zu sein, ermutigte sie ihn, als der unausweichliche Moment gekommen war, den L. A. River zu überqueren. Er wollte vor ihr kein Zögern und keine Angst zeigen, darum schob er sie einfach so schnell über die Überführung, wie er nur konnte, ohne ohnmächtig zu werden.

 Wenn Buck irgendetwas davon wahrnahm, so verlor er kein Wort darüber, aber still war er auch nicht. Er pfiff beim Gehen Disney-Lieder vor sich hin. Marty wusste nicht, ob Clara sich dadurch besser fühlte, aber ihm half es. Er wünschte, Buck hätte schon in der Innenstadt angefangen zu pfeifen, anstatt zu sprechen. Der ganze Trip wäre um einiges angenehmer gewesen.

 Der Mond schien hell auf die Geschäfte mit ihren Wildwestfassaden und die holzverschalten Bürgersteige der Altstadt von Calabasas, einer Ansammlung überteuerter Restaurants, Antiquitätenläden und Immobilienbüros. Die kleine Straße war der Atmosphäre der Postkutschenstation nachempfunden, die hier in den 1860ern einmal gewesen war. Trotz ihrer authentischen historischen Vergangenheit sah die Straße doch wie ein verlassenes Filmset aus und war, wie sich herausstellte, genauso strapazierfähig. Das Beben hat die Häuser wie Pappkartons flach zusammengefaltet. Die Holzplanken auf den Gehwegen waren völlig zersplittert und mit solcher Kraft zerbrochen, dass abgerissene Bretter bis in die Bäume geschleudert worden waren, wo sie sich in den Ästen verhakt hatten.

 Doch dies war nicht das echte Calabasas, das ein paar Blocks weiter westlich viel treffender von einem Einkaufszentrum im mediterranen Stil repräsentiert wurde, das sich mit der größten Rolex-Uhr der Welt brüstete, angebracht über einem Ralph’s Supermarkt, der einen eigenen Sushi-Koch in Vollzeit beschäftigte.

 Sie waren jetzt so nah an zu Hause, dass Marty sich fragte, ob Beth ihn wohl hören könnte, wenn er ihren Namen rufen würde.

 »Wir sind fast zu Hause«, sagte Marty aufgeregt.

 Clara hielt an. »Du hast gesagt, du bringst mich nach Hause.«

 »Das tu ich auch«, sagte er.

 »Aber ich wohne nicht hier.«

 Marty schaute sie an, und plötzlich wurde ihm das furchtbare Missverständnis zwischen ihnen bewusst. Sie waren jetzt so kurz vor zu Hause, in ein paar Minuten hätte es keine Rolle mehr gespielt. Warum konnte er nur seine große Klappe nicht halten?

 »Ich bringe dich zu mir nach Hause«, sagte er so herzlich er konnte.

 »Ich will nach Hause«, sagte Clara, und ihr kleines Kinn zitterte, ihre Lippen kräuselten sich zu einem Schmollen.

 »Das weiß ich. Tut mir leid, dass du das falsch verstanden hast«, sagte Marty zu Clara. »Deine Mami hat mich gebeten, dich mit zu mir nach Hause zu nehmen.«

 »Warum?«, weinte sie.

 Er blickte zu Buck, der hilflos mit den Schultern zuckte. Das war Martys Problem.

 »Weil sie will, dass du in Sicherheit bist«, antwortete Marty.

 »Ich will nach Hause!« Clara riss ihre Hand von seiner los und marschierte weinend vor Wut und mit den Füßen stampfend los.

 Beth wüsste damit besser umzugehen als er. Sie hatte einen besonderen Draht zu Kindern. Er musste Clara nur dazu bringen, noch ein paar Blocks mit ihm mitzugehen, und dann wäre alles vorbei.

 Marty drehte sich um und flüsterte Buck zu: »Vielleicht solltest du sie dir schnappen und den Rest des Weges tragen.«

 »Ich weiß nicht, wie man ein Kind trägt«, erwiderte Buck.

 »Du trägst sie wie eine Einkaufstüte.«

 »Aha, ich packe sie also an den Haaren und lasse sie neben meinem Bein hin und her baumeln?«

 Marty wollte gerade antworten, als ihm etwas auffiel. Er hörte Clara nicht mehr weinen.

 Er hörte sie überhaupt nicht mehr.

 »Clara?«

 Marty drehte sich um und sah, wie sie völlig unbeweglich ein paar Meter entfernt stand und voller Entsetzen auf den Tiger starrte, der einen toten Labrador in seinem geifernden Maul trug.

 


 KAPITEL SECHZEHN

 Fantasialand

 Nein.

 Zuerst dachte Marty, er halluziniere, dann erinnerte er sich an die Zirkusplakate am Ventura Boulevard und wusste, dass das gerade wirklich passierte. Der Tiger musste während des Erdbebens entkommen sein.

 Das große Tier stieß ein tiefes, grollendes Knurren aus, und sein Blick war fest auf Clara gerichtet.

 »Nicht bewegen, Clara«, flüsterte Marty, »und schau ihm nicht in die Augen.«

 Marty hatte keinen Schimmer, ob das helfen würde, aber er musste irgendetwas zu ihr sagen, damit sie glaubte, er wüsste, was er zu tun hatte.

 Buck zückte seine Knarre und flüsterte. »Die Kleine ist im Weg.«

 Marty nickte und bewegte sich langsam auf sie zu.

 Dem Tiger gefiel das gar nicht, oder er hatte beschlossen, dass Clara schmackhafter aussah als das, was er bereits erbeutet hatte. Er ließ den Hundekadaver fallen und knurrte erneut, wobei er seine feuchten, blutigen Zähne bleckte.

 Marty konnte sehen, dass die Kehle des Hundes fast komplett zerfetzt war und sein Kopf nur noch von ein paar zerrissenen Fleischfasern gehalten wurde. Und er konnte nicht anders als sich vorzustellen, was diese Kiefer mit Claras Genick anstellen würden.

 Clara wimmerte und ging einen Schritt zurück. Der Tiger bewegte sich langsam vorwärts, und die Muskeln in seinen Hinterläufen zuckten.

 Marty war noch zu weit weg, um Clara zu fassen zu kriegen. Es gab nur eine Sache, die er tun konnte: Er musste den Tiger dazu bringen, sich auf ihn zu konzentrieren. Das hat bei Roy Scheider in »Der Weiße Hai 2« auch funktioniert, der mit einem Ruder auf eine 6-Millionen-Volt-Leitung eingedroschen und dann den Hai dazu gebracht hatte, draufzubeißen. Also hieb Marty mit seinem Stock auf den Boden und betete darum, dass Buck ein guter Schütze war.

 »Hey, Tiger, schau mich an, du hässlicher Hurensohn.«

 Der Tiger gehorchte fauchend.

 »Ja, genau richtig, ich bin der, den du haben willst«, rief Marty, schlug mit dem Stock um sich und humpelte auf das Tier zu. »Komm und hol mich, wenn du die Eier dazu hast.«

 Der Tiger senkte den Kopf und knurrte, während er langsam einen Schritt auf ihn zuging und sich so von Clara entfernte.

 Marty warf ihr einen Blick zu und flüsterte: »Lauf, Clara!«

 Sie gehorchte, und im selben Moment brüllte Marty los und ging auf die Bestie los. Der Tiger machte einen Satz. Marty ging mit einem Hechtsprung zu Boden, und Buck feuerte zwei Mal, die Schüsse klangen wie Explosionen.

 Der Tiger sprang über Marty hinweg und lief weiter, bis er sich im Schutz der Büsche und der Dunkelheit ringsumher verkroch.

 Die Schüsse klangen in Martys Ohren nach, als er mühsam wieder auf die Beine kam, und die Wunde in seiner Seite nässte mit frischem Blut. Immerhin war das die einzige Stelle, an der er blutete. Clara kam weinend auf ihn zugerannt und klammerte sich an ihn, so fest sie konnte. Ihm war auch nach Weinen zumute, allerdings vor Frust über den grausamen Gott, der ihn so schikanierte.

 Ein Tiger? Du hast mir einen Tiger auf den Hals geschickt? Hab ich nicht schon genug durchgemacht?

 Die Antwort war eindeutig Nein. Das Schicksal war noch nicht fertig mit Marty Slack. Marty war an einem Punkt, an dem es ihn nicht mehr überrascht hätte, wenn er in seinen Vorgarten getreten und von Treibsand verschlungen worden wäre.

 Hinter ihm tauchte Buck auf, die Knarre immer noch in seiner Hand.

 »Danke, Buck.« Marty spürte, wie Claras kleines Herz hämmerte.

 »Dafür hab ich die Knarre. Los, lass uns weitergehen. Ich will nicht mehr hier sein, wenn Tony, der Tiger, zurückkommt und sein Leckerchen haben will.«

 Marty richtete sich auf und jaulte vor Schmerz. Clara hatte etwas von seinem Blut abgekriegt, aber wenn sie es überhaupt bemerkt hatte, interessierte es sie offensichtlich nicht. Sie schaute zu ihm hoch, immer noch zitternd, und Tränen kullerten über ihre Wangen.

 »Ich will zu meiner Mami.«

 »Ich auch.« Marty streckte ihr die Hand entgegen. »Du warst sehr tapfer, Clara. Meinst du, du kannst noch ein bisschen länger tapfer sein für mich?«

 Sie schniefte und nahm seine Hand. Marty drückte ihre Hand sanft und beruhigend, dann gingen sie weiter, darauf bedacht, einen großen Bogen um den toten Hund zu machen. Und sie waren auf der Hut, für den Fall, dass der Tiger zurückkam, oder zufällig ein Schwarm Heuschrecken auftauchte oder ein monströser Wirbelsturm heranraste. Marty war mittlerweile auf alles gefasst.

 »Das war aber ein großer Tiger«, sagte Clara erleichtert und ein bisschen stolz.

 »Ja, das war es«, sagte Marty, der sich genauso fühlte wie sie. Das war ein Abenteuer, das sie gemeinsam erlebt und überlebt hatten, und sie hatten dabei beide etwas über den anderen gelernt. Das Mädchen war hart im Nehmen, das wusste er jetzt. Clara hatte, ohne einen Mucks zu machen, dem Tiger die Stirn geboten. Er war sich sicher, dass sie den Verlust ihrer Mutter überwinden und gestärkt aus dieser Prüfung hervorgehen würde.

 Und Clara für ihren Teil hatte erfahren, dass man diesem Fremden vertrauen konnte, dass er sie beschützen und trösten würde, wie auch ihre Mutter es getan hätte.

 Bald erreichten sie das ausladende Einkaufszentrum, das den Marktplatz von Calabasas darstellte. In dem künstlich angelegten Teich an der Ecke, unter den gesprungenen synthetischen Felsbrocken der nicht funktionierenden Wasserfallattrappe und dem Straßenschild, das den Weg ins Zentrum wies, badeten Menschen. Im Hintergrund war die riesige Rolex heruntergefallen und auf den Parkplatz gekracht.

 Wenn sie das alles hier wieder aufbauen, dachte Marty, sollten sie mal darüber nachdenken, stattdessen eine Timex zu nehmen. Die konnte auch mal Prügel einstecken und tickte trotzdem weiter, und wahrscheinlich wäre so eine auch ein ganzes Stück billiger.

 Marty, Clara und Buck folgten der Straße, die hinter dem Zentrum anstieg und in die Hügel führte, wo sie endlich zu dem mit roten Ziegeln gedeckten Wachhäuschen und den eisernen Toren von Oakridge Hill gelangten.

 Wenn das ein Film wäre, würde Beth an den Toren weinend vor Glück auf ihn warten. Doch es war kein Film, und sie war nicht da. Es war zu dunkel, und zu viele Bäume verdeckten den steilen Hügel, als dass Marty hätte erkennen können, wie schwer es die Wohnanlage getroffen hatte. Er konnte sich noch nicht einmal die Chancen ausrechnen, ob Beth hinter diesen Toren noch am Leben war.

 Er würde es bald erfahren, so oder so.

 Ein Mann stand hinter dem Tor und beobachtete, wie sie näher kamen. Seine Hände ruhten auf den Hüften, direkt über dem Waffenholster, das an dem geflochtenen Ledergürtel seiner Ralph-Lauren-Hose hing. Er trug die Waffe wie ein Mann, der stolz auf seine Erektion war. Offensichtlich hatte er sein Leben lang auf die Gelegenheit gewartet, damit herumzustolzieren, und er würde jeden Moment genießen.

 »Das ist nah genug.« Der Mann erhob die Hand und bedeutete ihnen stehenzubleiben. »Was ist Ihr Anliegen?«

 »Mein Anliegen?«, erwiderte Marty ungläubig und ließ Claras Hand los, um zum Tor zu humpeln. »Ich wohne hier. Öffnen Sie das Tor.«

 »Ich kenne Sie nicht.«

 »Das ist mir egal. Mein Name ist Martin Slack, ich wohne hier, 19067 Park Marbella, und ich will nach Hause. Jetzt öffnen Sie das verdammte Tor.«

 »Kennst du den, Walter?« Der Mann wandte sich an einen zur Glatze neigenden Mann in Polohemd und Bundfaltenshorts, der ein paar Meter hinter ihm auf einer Kühlbox saß.

 »Nö«, antwortete Walter. »Noch nie gesehen, Bob.«

 Bob drehte sich wieder zu Marty um. »Ich schätze, damit wäre das auch erledigt.«

 »Ach wirklich?« Marty schaute hinter sich zu Buck. »Hast du das gehört?«

 »Soll ich das regeln?«, fragte Buck.

 »Nein, das ist mein Zuhause, Buck. Ich regle das.« Marty ging noch einen Schritt auf das Tor zu.

 »Ich rate Ihnen, bleiben Sie, wo Sie sind«, sagte Bob und ließ seine Hand über dem Holster schweben, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Das hier ist eine private Wohnanlage, und es herrschen gefährliche Zeiten. Es gibt einen Haufen Leute da draußen, die jetzt gerne hier reinkommen und sich an unseren Vorräten schadlos halten würden. Bis also die Ordnung wieder hergestellt ist, bleiben diese Tore geschlossen.«

 »Ich wohne hier.« Marty hatte genug von Bob. Er blickte hinüber zu dem glatzköpfigen Typen auf der Bordsteinkante. »Hey Walter, geh und hol’ meine Frau. Bob kann mich solange im Auge behalten.«

 Walter stand auf, aber Bob machte ihm ein Zeichen zu bleiben. »Setz dich, Walter.« Der Glatzkopf tat, wie ihm geheißen. Bob starrte ihn wütend an. »Ich habe eine bessere Idee. Warum zeigen Sie mir nicht Ihren Ausweis?«

 Ja, das war eine gute Idee. Das hätte in der Tat alles aufgelöst. Das einzige Problem war, dass Marty ihn nicht bei sich hatte. Er hatte ihn bei den Plebneys gelassen, und er wusste, dass Bob keine Erklärungen akzeptieren würde.

 Doch Marty hatte nicht den ganzen Weg zurückgelegt und so viel durchgemacht, um sich jetzt von Bob aufhalten zu lassen.

 »Klar.« Marty griff in seiner Jackentasche nach dem Ausweis, den er nicht hatte, zog seine Pistole heraus und richtete sie direkt auf Bobs dicklichen Bauch. Bob unternahm einen lahmen Versuch, seine Waffe zu ziehen.

 »Na los doch, Bob, zieh deine Waffe«, sagte Marty. »Bis du den Verschluss an deinem Holster aufgefummelt hast, bist du längst tot.«

 Bob schluckte mühsam und hob die Hände.

 Marty sah zu dem kahlen Typen. »Ich dachte, ich hätte dich gebeten, meine Frau zu holen, Walter.«

 Walter nickte hektisch und kletterte den Hügel hoch. Marty hoffte, der Typ würde nicht einem Herzinfarkt erliegen, bevor er sein Haus erreichte.

 »Nun, Bob, ich will, dass du das Holster von deinem Gürtel ziehst und die Waffe unter dem Tor durch zu mir rüberschiebst, bevor ich dich dafür erschieße, dass du so ein Arschloch bist.«

 Bob sah aus, als würde er gleich anfangen zu weinen. Er hasste es, sich von seiner Waffe zu trennen, aber er tat, was ihm gesagt wurde, legte die Waffe mitsamt Holster auf den Boden und kickte sie leicht unter dem Tor durch. Sie rutschte direkt vor Martys Füße.

 »Heb’ die Waffe auf, Buck«, sagte Marty.

 Clara trat zögernd vor und streckte die Hand nach der Waffe aus.

 »Nein, Clara. Fass das nicht an«, sagte Marty. »Lass Buck das machen.«

 »Ich sehe ihn nirgends«, sagte sie.

 Marty sah zuerst sie an, dann blickte er über seine Schulter hinter sich. Da war niemand. Buck war weg.

 »Wo ist Buck hingegangen?«, fragte Marty sie. Sie starrte ihn mit ausdruckslosem Gesicht an. »Hat er irgendetwas zu dir gesagt?«

 Clara schüttelte den Kopf. »Er redet nur mit dir.«

 »Du bist doch nicht ganz richtig im Kopf, Kumpel«, sagte Bob, und seine Stimme bebte. »Leg die Waffe hin, bevor du mich oder die Kleine noch verletzt.«

 »Halt die Klappe.« Marty starrte am Lauf seiner Waffe entlang in Richtung Bob und wurde sich zum ersten Mal über die Pistole in seiner Hand bewusst.

 Woher kam die?

 Mit zitternder Hand hob er seinen Jackenschoß hoch und schaute unter seinen Arm.

 Er trug ein Holster.

 Was bedeutete, dass …

 Marty machte die Jacke schnell wieder zu und untersuchte seine Schulter.

 Die Schusswunde war nicht mehr da.

 Was bedeutete, dass …

 Er erkannte die Waffe jetzt. Sie gehörte dem Protagonisten aus »Fahr zur Hölle«. Es war eine Requisite von dem Dreh, den er besucht hatte, als das Beben losging. Marty hatte die Waffe die ganze Zeit bei sich gehabt. Und sie war voller Platzpatronen.

 Was bedeutete, dass …

 Was bedeutete, dass die ganze Zeit, in der Buck sich selbst als Serie pitchte und darüber schwadronierte, was für ein durchdachter Rollencharakter er war, Marty ein Verkaufsgespräch mit sich selbst geführt hatte.

 Buck war bereits eine Rollenfigur. Eine absolut fiktive.

 Buck existierte nicht. Hatte nie existiert.

 »Oh Gott«, murmelte Marty vor sich hin, ließ sich auf die Knie fallen und schloss die Augen, die Waffe entglitt ihm und fiel zu Boden.

 Kein Wunder, dass Buck genau wie die Stimme in seinem Kopf klang. Buck war diese Stimme in seinem Kopf.

 Diese Rotkreuzkrankenschwester hatte recht, dachte Marty, er hatte einen ziemlich üblen Schlag auf den Kopf abbekommen. Er hatte tagelang halluziniert.

 Sein Bewusstsein hatte die ganze Zeit versucht, ihn zu warnen. Buck war eindimensional, Bucks Handlungen waren reine Klischees. Es war unmöglich, dass Buck die Sturzflut überlebt hatte; es war ein äußerst merkwürdiger Zufall, dass Buck ihn auf diesen Pfahl gespießt gefunden hatte.

 Warum war ihm das nicht früher aufgefallen? Warum konnte er es nicht akzeptieren?

 Weil er Buck brauchte.

 Wenn Buck ihn nicht angetrieben, herausgefordert und dazu gezwungen hätte, sich selbst zu behandeln, hätte er niemals überlebt.

 Das war Marty schon lange klar gewesen. Buck war für Marty da gewesen, wenn er ihn brauchte, und verschwand wieder, wenn er ihn nicht brauchte.

 Ich bin ganz und gar verrückt geworden, dachte er. Vielleicht passiert all das nur in meinem Kopf. Ich bin eigentlich gar nicht hier. Vielleicht liege ich immer noch unter meinem Auto, begraben unter einem Haufen Ziegelsteine.

 Er hatte Angst davor, die Augen zu öffnen. Er wollte der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen.

 »Marty, oh Gott, Marty.«

 Das war Beths Stimme. Aber war sie echt oder wie Buck nur ein Produkt seiner Fantasie?

 Er spürte ihre Arme um ihn, ihre Tränen auf seiner Wange. »Bitte, Marty. Sag etwas, bist du okay?«

 Langsam hob er den Kopf und öffnete die Augen.

 Beth kniete vor ihm, ihr reizendes Gesicht, der hinreißende Streifen Sommersprossen, alles war noch genauso wie vor zwei Tagen, als er von ihr weggegangen war.

 »Jetzt ja«, sagte er.

 Sie umarmte ihn heftig, und er umarmte sie. Sie flüsterten sich »Ich liebe dich« zu, immer und immer wieder. Er würde ihr alles über seine Abenteuer erzählen und eines Tages vielleicht sogar mit ihr über Buck sprechen. Oder vielleicht würde er stattdessen einfach darüber schreiben.

 Über die Schulter sah er Clara da stehen, sie hatte einen traurigen und verlorenen Ausdruck im Gesicht. Marty entzog sich sanft Beths Umarmung. »Liebling, ich möchte dir Clara vorstellen.«

 Beth drehte sich um, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und sah das Mädchen zum ersten Mal an.

 Vielleicht sah Beth die blauen Augen und die Sommersprossen und entdeckte auch sich selbst darin. Oder aber sie sah einfach nur ein verängstigtes Kind.

 »Sie ist jetzt allein«, sagte Marty.

 Beth streckte einen Arm nach Clara aus. »Nein, das ist sie nicht.«

 Clara rannte herüber und reihte sich in ihre Umarmung mit ein.

 Martin Slack war endlich zu Hause.

 


 NACHWORT

 Obwohl ich seit über zwanzig Jahren in Los Angeles lebe, das Erdbeben von Northridge und die Zerstörung meines Hauses überlebt habe und den gleichen Weg gegangen bin wie Marty, habe ich dennoch in einigen Büchern nachgelesen, um meine Fantasie mit Tatsachen zu untermauern.

 Zu besonderem Dank verpflichtet fühle ich mich den Autoren David Ritchie (Superquake: Why Earthquakes Occur, and when the Big One Will Hit Southern California), Mike Davis (City of Quartz: Excavating the Future in Los Angeles, und Ecology of Fear: Los Angeles and the Imagination of Disaster), Philip L. Fradkin (Magnitude 8: Earthquakes and Life along the San Andreas Fault), David Gebhard und Robert Winter (Los Angeles: An Architectural Guide) sowie Leonard Pitt und Dale Pitt (Los Angeles: Encyclopedia of the City and County) für ihre exzellenten Studien und Nachschlagewerke.

 Alle inhaltlichen Ungenauigkeiten, geografischen Freiheiten und wissenschaftlichen Schummeleien liegen gänzlich in meiner Verantwortung.

  

 Lee Goldberg

 


 DANKSAGUNGEN

 Ich möchte William Rabkin und Tod Goldberg für ihre unbezahlbare Unterstützung bei der Entwicklung dieses Romans danken und Ed Gorman dafür, dass er ihn wahr werden ließ.

 

 





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